Sozialgericht Stade
Urt. v. 03.12.2008, Az.: S 28 AS 153/08
Anrechnung; Arbeitsuchender; Ausmaß; Begriff; Berücksichtigung; Deckung; Einkommen; Einkommensbegriff; Einkommensberücksichtigung; Einnahme; Ermächtigung; Ermächtigungsdeckung; Ermächtigungsgrundlage; ermächtigungskonforme Auslegung; Ermächtigungskonformität; Fehlen; freie Verpflegung; Geldeswert; gesetzliche Ermächtigung; Grundsicherung; Inhalt; kostenfreie Verpflegung; kostenlose Verpflegung; Krankenhaus; Krankenhausaufenthalt; Marktwert; Neufassung; Neuregelung; nichtselbstständige Arbeit; Rechtsverordnung; stationäre Unterbringung; stationärer Aufenthalt; stationärer Krankenhausaufenthalt; Tauschbarkeit; unentgeltliche Verpflegung; Verfassungsmäßigkeit; Verfassungswidrigkeit; Verordnungsermächtigung; Verordnungsgeber; Verpflegung; Verpflegungskosten; Verpflegungsleistung; Vollverpflegung; Zweck; Änderung
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 03.12.2008
- Aktenzeichen
- S 28 AS 153/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 55018
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 1 S 1 SGB 2
- § 13 Abs 1 Nr 1 SGB 2
- § 2 Abs 5 S 1 AlgIIV
- § 2 Abs 5 S 3 AlgIIV
- Art 80 Abs 1 S 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Auch nach Neufassung des § 2 Abs 5 ALG-II-V stellen Verpflegungsleistungen bei stationärem Krankenhausaufenthalt kein Einkommen im Sinne des § 11 SGB II dar (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 18.06.2008 - B 14 AS 22/07 R - zur alten Rechtslage).
Die Neufassung des § 2 Abs 5 ALG-II-V bewegt sich nicht mehr im Rahmen der Verordnungsermächtigung des § 13 SGB II.
Tenor:
Der Bescheid vom 22. Januar 2008 und der Bescheid vom 20. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2008 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der leistungsmindernden Berücksichtigung der Verpflegung des Klägers während eines stationären Klinikaufenthalts im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II.
Der Kläger bezieht laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der Beklagten. Vom 16. Januar 2008 bis zum 5. März 2008 befand er sich stationär in einer Klinik.
Mit Bewilligungsbescheid vom 20. Dezember 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger ursprünglich Leistungen für den Zeitraum Januar bis einschließlich Juni 2008 in Höhe von 19,00 EUR monatlich für die Monate Januar und Februar und in Höhe von 193,00 EUR ab März 2008. Im Januar und Februar 2008 erfolgte aufgrund einer Sanktion eine Reduzierung der Leistungen um 174,00 EUR.
Vor dem Hintergrund des Klinikaufenthalts des Klägers erließ die Beklagte am 22. Januar 2008 einen Änderungsbescheid. Darin wurden die Leistungen für Januar und Februar 2008 vollständig auf gehoben und für den Zeitraum ab März 2008 Leistungen nur noch in Höhe von 101,55 EUR bewilligt. Zur Begründung verwies die Beklagte darauf, dass der Kläger aufgrund des Klinikaufenthalts eine häusliche Ersparnis in Höhe von 91,45 EUR habe, die zu der entsprechenden Neuberechnung und Minderung der Leistungen geführt habe. Mit Bescheid vom 20. Februar 2008 erließ die Beklagte einen erneuten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid und forderte insgesamt 49,00 EUR für den Monat Februar 2008 zurück. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2008 als unbegründet zurück.
Am 3. März 2008 hat der Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung trägt der Kläger vor, eine Berücksichtigung der in einer stationären Einrichtung zur Verfügung gestellten Ernährung als Einkommen sei nach der Rechtsprechung des 8. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen sowie anderer Gerichte nicht zulässig. Demnach habe die Verpflegung keinen Marktwert. Außerdem sei aufgrund des Pauschalierungsgrundsatzes des SGB II eine anderweitige Bedarfsfestsetzung nicht möglich.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 22. Januar 2008 und den Bescheid vom 20. Februar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie weist darauf hin, dass eine Anrechnung der Verpflegung aufgrund des § 2 Abs 5 der ALG-II-V in der Fassung vom 17. Dezember 2007 mit Wirkung ab 1. Januar 2008 ausdrücklich anzurechnen sei.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 2008 waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angegriffenen Bescheide über die Anrechnung der Verpflegung während des Klinikaufenthaltes und über die entsprechende Rückforderung überzahlter Leistungen erweisen sich als rechtswidrig und beschweren den Kläger, § 54 Abs 2 SGG. Eine leistungsmindernde Anrechnung der Verpflegungsleistungen während des Klinikaufenthalts kommt nach Überzeugung der Kammer im Rahmen des SGB II nicht in Betracht.
In den Vorschriften des SGB II, insbesondere in § 11 Abs 1 SGB II, findet sich keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine derartige bedarfsmindernde Berücksichtigung der Krankenhausverpflegung im Februar 2008.
Gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme bestimmter - hier nicht relevanter - Leistungen.
Gemäß § 2 Abs 5 Satz 1 der Arbeitslosengeld-II-Verordnung (ALG-II-V) in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung vom 17. Dezember 2007 (BGBl I 2207, 2942) ist bereitgestellte Verpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch maßgebenden monatlichen Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen. Gemäß Satz 3 bleibt es als Einkommen unberücksichtigt, wenn das Einkommen nach den Sätzen 1 und 2 in einem Monat den sich nach § 62 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch als Belastungsgrenze für nicht chronisch Kranke mit ganzjährigem Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ergebenden Betrag nicht übersteigt.
Gemäß § 13 Abs 1 Nr 1 SGB II wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist.
Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts handelt es sich bei den Verpflegungsleistungen eines Krankenhauses während eines stationären Aufenthalts nicht um Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II, da die Vollverpflegung keinen eigenen Marktwert hat und es dem Betroffenen gerade nicht möglich ist, die ihm während der stationären Unterbringung zur Verfügung gestellte Verpflegung gegen Geld zu tauschen (str, vgl ausführlich mit zahlreichen Quellennachweisen zum Meinungsstreit SG Stade, Beschl v 16. Juli 2008 - S 18 AS 447/08 ER -; offen gelassen: BSG, Urteil v 18. Juni 2008 - B 14 AS 22/07 R -).
Die Verpflegungsleistungen können auch nicht nur deshalb als Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II angesehen werden, weil dies in § 2 Abs 5 ALG-II-V in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung so geregelt ist. Denn diese Regelung ist nach Überzeugung der Kammer nicht mehr von der gesetzlichen Verordnungsermächtigung in § 13 SGB II gedeckt. Im Einzelnen:
Das Bundessozialgericht geht offenbar davon aus, dass § 11 Abs 1 SGB II für sich genommen keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Anrechnung der Verpflegungsleistungen als Einkommen darstellt (vgl BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 - B 14 AS 22/07 R -, Rn 14ff.; vgl auch BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 - B 14 AS 46/07 R -, Rn 10ff.). Es lässt dabei offen, ob die Verpflegung während eines Klinikaufenthalts Geldeswert hat oder nicht und Einkommen darstellt oder nicht, denn in jedem Fall sei zu verlangen, dass auf Grundlage des § 13 Abs 1 Nr 1 SGB II in der ALG-II-V geregelt werde, wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist (BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 - B 14 AS 22/07 R -, Rn 14). Mit der Einführung des neuen § 2 Abs 5 ALG-II-V zum 1. Januar 2008 ist nach Feststellung des Bundessozialgerichts zwar zunächst eine dem § 31 SGB I genügende, hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage vorhanden, in der geregelt ist, wie bereitgestellte Vollverpflegung als Einkommen zu berücksichtigen ist (BSG aaO. Rn 18). Allerdings äußert das Bundessozialgericht ernste Bedenken, ob der neue § 2 ALG-II-VO noch von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 SGB II gedeckt ist. Denn nach dem Leistungssystem des SGB II sei eine individuelle Bedarfermittlung bzw abweichende Bestimmung der Höhe der Regelleistung gesetzlich nicht vorgesehen - anders als im SGB XII. Der bedarfsdeckende und pauschalierende Charakter der Regelleistung nach dem SGB II habe der Gesetzgeber des Fortentwicklungsgesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl I 2006, 1706) durch die Einführung des § 3 Abs 3 Satz 2 SGB II noch einmal deutlich unterstrichen, wonach eine abweichende Festlegung der Bedarfe ausgeschlossen ist (BSG aaO. Rn 22). Im Ergebnis lässt das Bundessozialgericht offen, ob für den Verordnungsgeber des § 13 SGB II aus dem aufgezeigten Regelungszusammenhang ein grundsätzliches Verbot folgt, die in § 20 Abs 1 SGB II genannten Grundbestandteile der Regelleistung als Einnahmen individuell bedarfsmindernd zu berücksichtigen.
Das erkennende Gericht geht davon aus, dass § 2 Abs 5 ALG-II-V in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung tatsächlich keine ausreichende Grundlage in § 13 SGB II findet und daher hier nicht zu einer anderen Beurteilung führen konnte.
Es folgt darin der Auffassung des 9. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl v 25. Februar 2008 - L 9 AS 839/07 ER -; ebenso SG Stade, Beschl v 16. Juli 2008 - S 18 AS 447/08 ER -). Das Landessozialgericht verweist unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darauf, dass an gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen gemäß Art 80 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) bezüglich Inhalt, Zweck und Ausmaß der jeweiligen Ermächtigung gerade bei belastenden Regelungen strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl LSG Niedersachsen-Bremen aaO. Rn 15). Der Verordnungsgeber hat in § 13 SGB II die Ermächtigung erteilt, Einnahmen zu bestimmen, die nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind. Die Ermächtigung umfasst aber gerade nicht den umgekehrten Fall, also die Möglichkeit, Einnahmen positiv als Einkommen zu definieren, die nach dem SGB II gerade nicht als Einkommen zu qualifizieren sind (so auch SG Berlin, Urteil v 24. Januar 2008 - S 116 AS 17528/07 -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung wird unter Bezugnahme auf § 144 Abs 2 Nr 1 SGG ausdrücklich zugelassen, da die Rechtssache mit Blick auf die obergerichtlich als ungeklärt anzusehende Frage der Rechtsmäßigkeit der ALG-II-VO in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung, vor allem hinsichtlich der Vorgabe in § 2 Abs 5 der Verordnung, grundsätzliche Bedeutung hat (vgl Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 144, Rn 39).