Sozialgericht Stade
Urt. v. 22.01.2008, Az.: S 3 SB 49/04

Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004 (AHP 2004) als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität; Bewertung des Grades der Behinderung (GdB) bei Verschleiß der Wirbelsäule mit Schmerzzuständen und wiederkehrenden Nervenwurzelreizerscheinungen

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
22.01.2008
Aktenzeichen
S 3 SB 49/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 33998
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2008:0122.S3SB49.04.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG Niedersachsen-Bremen - AZ: L 12 SB 9/08

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Das Erhöhungsverbot der Nr. 19 Abs. 4 der AHP gilt ausnahmslos, wenn die Funktionsbeeinträchtigungen verschiedene Lebensbereiche betreffen.

  2. 2.

    Bei Wirbelsäulenschäden ergibt sich der Grad der Behinderung primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des bei dem Kläger vorliegenden Grades der Behinderung (GdB) im Zeitraum vom 17. März 2003 bis 28. Februar 2006 streitig.

2

Mit beim Versorgungsamt Verden am 17. März 2003 eingegangenem Antrag vom 14. März 2003 stellte der am 24. Februar 1944 geborene Kläger erstmalig den Antrag auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Als Gesundheitsstörungen macht der Kläger geltend: "Bandscheibenvorfall, Wirbelsäulenkanalverengung, Arthrose, Schwerhörigkeit, Augenprobleme".

3

Das Versorgungsamt Verden holte im Rahmen einer Ermittlungen einen Befundbericht des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. G. (ohne Datum, bei der Versorgungsverwaltung eingegangen am 10. April 2003), der Augenärztin Dr. H. (ohne Datum, bei der Versorgungsverwaltung eingegangen am 5. Mai 2003) sowie einen Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. I. vom 10. Juni 2003 ein. Dem Befundbericht von Dr. I. waren ferner Arztbriefe an Dr. J. vom 8. Oktober 1998 sowie vom 10. März 1999 sowie ein Arztbrief der neurologischen Gemeinschaftspraxis Dr. K. /Dr. L. vom 18. März 2003 beigefügt. Nach Auswertung der Unterlagen gelangte der ärztliche Dienst des Versorgungsamtes Verden in seiner Stellungnahme vom 30. Juni 2003 zu der Einschätzung, dass für die Funktionsbeeinträchtigung "Verschleiß der Wirbelsäule mit Schmerzzuständen und Nervenwurzelreizerscheinungen" ein Einzel-GdB von 20 und für die Funktionsbeeinträchtigung "Schwerhörigkeit" ebenfalls ein Einzel-GdB von 20 und ein Gesamt-GdB von 30 gerechtfertigt sei. Gestützt auf diese Stellungnahme setzte das Versorgungsamt Verden mit Feststellungsbescheid vom 14. Juli 2003 den GdB des Klägers ab 17. März 2003 auf 30 fest. In dem hiergegen erhobenen Widerspruch vom 14. August 2003 machte der Kläger geltend, dass sein GdB mindestens 50 betragen müsse. Das Versorgungsamt Verden holte daraufhin einen weiteren Befundbericht der Augenärztin Dr. H. (ohne Datum, bei dem Versorgungsamt Verden eingegangen am 7. Oktober 2003), einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J. vom 10. Oktober 2003 und einen Befundbericht der Fachärztin für Neurologie Dr. K. vom 20. November 2003 ein. Den Befundberichten waren ein Durchgangsarztbericht vom 7. Februar 2000, ein Arztbericht der kardiologischen Gemeinschaftspraxis Dres. Rühe/Sievert/Jansen vom 9. April 2001, ein Arztbericht von Dr. G. vom 4. März 2003, Arztberichte von Dr. I. vom 10. Juli 2003 sowie 28. Juli 2003 und ein Arztbericht der Fachärztin für Neurologie Dr. K. vom 11. November 2003 beigefügt. Nach Auswertung der Unterlagen stellte der ärztliche Dienst des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 22. Januar 2004 fest, dass die vorhandenen Funktionseinschränkungen bereits zutreffend bewertet worden seien, wobei die Hörminderung im oberen Ermessensspielraum bewertet sei und die geltend gemachten Gelenkbeschwerden sowie die Sehminderung keinen GdB von wenigstens 10 bedingten. Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2004 als unbegründet zurück.

4

Am 15. März 2004 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Zur Begründung trägt er ergänzend vor, dass das Wirbelsäulenleiden zu niedrig bewertet sei. Darüber hinaus leide er an einer schweren Schultergelenksarthrose, einer schweren Kniegelenksarthrose beidseits sowie an einer Arthrose der linken Hand. Diese Erkrankung sei bisher noch nicht bewertet. Der Kläger trägt weiter vor, dass er bis 2002 in seiner beruflichen Tätigkeit sehr schwer belastet gewesen sei, so dass die entsprechenden Krankheitsbefunde schon bei Antragstellung bestanden hätten.

5

Während des Klageverfahrens hat der Beklagte am 6. Juni 2006 ein Teilanerkenntnis abgegeben und den GdB ab März 2006 insgesamt mit 50 festgestellt. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger mit Schreiben vom 27. Juni 2006 zur teilweisen Erledigung des Rechtsstreits angenommen. Er ist weiterhin der Ansicht, dass die bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen einen Gesamt-GdB von 50 bereits ab März 2003 rechtfertigen würden.

6

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid des Versorgungsamtes Verden vom 14. Juli 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 16. Februar 2004 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 6. Juni 2006 abzuändern und

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von mindestens 50 bereits für den Zeitraum vom 17. März 2003 bis 28. Februar 2006 festzustellen.

7

Der Beklagte beantragt,

die Klage, soweit sie über das Teilanerkenntnis hinausgeht, abzuweisen.

8

Er hält die angegriffene Entscheidung für rechtmäßig und verteidigt die angefochtenen Bescheide. Die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage sei unbegründet. Das Gericht hat im Rahmen seiner Ermittlungen Beweis erhoben durch Einholung aktueller Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J., des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. G. sowie des Facharztes für Orthopädie Dr. I ... Ferner wurde von Amts wegen ein orthopädisches Gutachten des Facharztes für Orthopädie/Chirotherapie Dr. M. eingeholt. In dem vom 31. März 2006 datierten und anlässlich einer Untersuchung des Kläger am 28. März 2006 erstellten Gutachten sowie ergänzenden Stellungnahmen vom 4. August 2006 und 13. November 2006 ist der Sachverständige Dr. M. zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-GdB ab März 2006 mit 50 einzuschätzen sei. Auf Antrag und gegen Kostenvorschuss des Klägers hat das Gericht anschließend ein Sachverständigengutachten des Arztes für Sozialmedizin Dr. N. erstatten lassen. In dem vom 4. Juni 2007 datierten und anlässlich einer ambulanten Untersuchung am 2. Juni 2007 erstellten Gutachten hat der Sachverständige Dr. N., wenn man die tatsächlichen Verhältnisse zu Grunde lege, den Gesamt-GdB mit 40 ab Antragstellung bewertet. Ginge man von einer Bindungswirkung des Behinderungsteilwertes von 20 für die Schwerhörigkeit des Klägers aus, liege der Gesamt-GdB von 50 ab Antragstellung im Bereich des Denkbaren.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vom Beklagten vorgelegten Schwerbehindertenakte (Az: 3610016-9253) und der beigezogenen Rentenakte (Versicherungsnummer: 28 240244 F 008) der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (früher: Landesversicherungsanstalt Hannover) verwiesen, der zum Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung gemacht worden ist.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch, soweit sie über das angenommene Teilanerkenntnis des Beklagten vom 6. Juni 2006, dass den Rechtsstreit insoweit gemäß § 101 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt hat, hinausgeht, nicht begründet. Die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sind für die Zeit vom 17. März 2003 bis 28. Februar 2006 mit einem Gesamt-GdB von 30 zutreffend bewertet. Nach dem Ergebnis der Beweisausnahme hat der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines GdB von 50 bereits ab 17. März 2003.

11

1.

Gemäß § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) wird auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung festgestellt. Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen ist nach § 69 Abs. 3 SGB IX der Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Dabei ist der GdB unter Heranziehung der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004" (AHP 2004) festzustellen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19 m.w.N.) gelten die AHP als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität und sind von der Verwaltung und den Gerichten im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen anzuwenden.

12

a)

Die beim Kläger bestehende Funktionsbeeinträchtigung "Verschleiß der Wirbelsäule mit Schmerzzuständen und wiederkehrenden Nervenwurzelreizerscheinungen" im Funktionssystem "Haltungs- und Bewegungsorgane, rheumatische Krankheiten" hat der Beklagte mit einem GdB von 20 bewertet. Die Sachverständigen haben diese Funktionsbeeinträchtigung übereinstimmend mit einem GdB von 30 ab dem Zeitpunkt der Untersuchung (Dr. M.) bzw. ab Antragstellung (Dr. N.) eingeschätzt. Zugunsten des Klägers ist vorliegend der GdB für das Wirbelsäulenleiden mit einem GdB von 30 ab Antragstellung einzustufen. Diese Bewertung ist ausgehend von den vorliegenden Befunden angemessen und entspricht Kapitel 26.18 Seite 115, 116 der AHP 2004.

13

Bei Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolistehsis, Spinalkanalstenose und sog Postdiskotomiesyndrom) ergibt sich der GdB primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Die bei dem Kläger auftretenden Schmerzzustände und Bewegungsbeeinträchtigungen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule, sind nach den insoweit übereinstimmenden und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. M. und Dr. N. als mittelgradige funktionelle Auswirkungen eines Wirbelsäulenschadens (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) in zwei Wirbelsäulenabschnitten anzusehen, die nach den AHP 2004 mit einem GdB von 30 hinreichend berücksichtigt sind.

14

b)

Die ab März 2006 festgestellte zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung "Polyarthrose im Bereich der Hand- und Fingergelenke" lässt sich hingegen für den hier streitigen Zeitraum vor März 2006 nicht belegen. Die Hände zeigen nach den Aussagen beider Sach-verständiger, insbesondere durch die detaillierte vom Gutachter Dr. N. aufgestellte Synopse eine klare Entwicklung einer Verschlimmerung. Für den hier streitigen Zeitraum von März 2003 bis Februar 2006 kann für die Polyarthrose kein GdB vergeben werden.

15

Das Vorbringen des Klägers rechtfertigt keine andere Beurteilung. Vielmehr kann nur darauf verwiesen werden, dass der Sachverständige Dr. M. und auch der von dem Kläger gemäß § 109 SGG benannte Sachverständige Dr. N. in ihren Gutachten und den ergänzenden Stellungnahmen mehrfach ausdrücklich eine deutliche Verschlechterung der Gesamtsituation im Vergleich von 1999 bis zum Untersuchungszeitpunkt im März 2006 dokumentieren: bis 2003 waren die Hände frei beweglich, im Juli 2003 zeigte sich eine leichte Streckhemmung der Finger, zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. M. (März 2006) eine leichte Einschränkung und zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. N. (Juni 2007) weiter eine Verschlechterung der Beweglichkeit gegenüber 2006. Der Sachverständige Dr. N. vermerkt damit sogar ausdrücklich eine deutliche Verschlechterung im Vergleich zum früheren orthopädischen Gutachten vom 31. März 2006 von Dr. M ... Selbst bei wohlwollender Betrachtung für den Zeitraum zwischen März 2003 und Februar 2006 lässt sich der - von dem Kläger zu erbringende - Nachweis einer GdB relevanten Funktionsbeeinträchtigung der Hände nicht führen, und selbst wenn - wie der Kläger vorträgt - eine schleichende Verschlechterung nicht eingetreten sein sollte, lässt sich dies jedenfalls nicht belegen, so dass die Feststellung eines GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigung "Polyarthrose im Bereich der Hand- und Fingergelenke" für einen früheren Zeitpunkt als März 2006 und damit für den hier streitigen Zeitraum nicht in Betracht kommt.

16

c)

Die ebenfalls im Funktionssystem "Haltungs- und Bewegungsorgane, rheumatische Krankheiten" durch den Sachverständigen Dr. N. festgestellte Funktionsbeeinträchtigung "Degenerative Veränderungen der Hüft- und Kniegelenke" mit geringgradiger Bewegungseinschränkung ist nach den AHP 2004 (Kapitel 26.18) mit einem Einzel-GdB von 10 zutreffend und ausreichend bewertet. Denn ein GdB von 20 käme nach den AHP nur bei Ausschöpfung des Interpretationsrahmens, also bei einer Bewegungseinschränkung geringen Grades im Übergang zu einer Bewegungseinschränkung mittleren Grades in Betracht. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nach den objektiven Befunden jedoch nicht. Vielmehr weist der Sachverständige Dr. N. selbst darauf hin, dass sich nach den Feststellungen ein (zwingender) Grund für einen Teilwert von 20 nicht nennen lässt. Die Neutralstellung wird beidseits erreicht, nur die Überstreckung nicht. Die Beugung ist lediglich endgradig eingeschränkt und entzündliche Reizerscheinungen oder Lockerungen des Kniebandapparates sind nicht zu eruieren. Auch die Bewegungsmaße an den Hüft-gelenken halten sich im normalen Rahmen.

17

d)

Die Funktionsbeeinträchtigung "Schwerhörigkeit" hat der Beklagte mit einem GdB von 20 eingestuft. Hierfür kann jedoch ein GdB von nicht höher als 10 vergeben werden. Die beim Kläger bestehende Hochtonschwerhörigkeit ist mit 25 bzw. 30 Prozent Hörverlust beidseits als geringgradige Schwerhörigkeit einzustufen, für die nach den AHP (Kapitel 26.5, Tabelle D Seite 59) ein GdB von 15 anzusetzen ist. Dieser ist, wie der Sachverständige Dr. N. zutreffend ausführt, in diesem Fall - weil der GdB-Wert nur in vollen Zehnergraden anzugeben ist - auf 10 ab- und nicht auf 20 aufzurunden.

18

Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht, dass der ärztliche Dienst des Beklagten in seinen Stellungnahmen eine bei dem Kläger bestehende Schwerhörigkeit mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete und der Beklagte im Feststellungsbescheid vom 14. Juli 2003 die Schwerhörigkeit als zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung feststellte und dies mit dem Teilanerkenntnis vom 6. Juni 2006 bestätigte. Auch wenn der Beklagte im genannten Bescheid und in den Stellungnahmen einen GdB von 20 für die Schwerhörigkeit ansetzt, ergibt sich hieraus kein Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB. Denn die Teil-GdB entfalten keine Bindungswirkung. Regelungsgehalt eines Feststellungsbescheides ist nur die Feststellung des Gesamt-GdB, denn ein GdB wird immer nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt, nicht für einzelne Funktionsbeeinträchtigungen. Soweit die Versorgungsverwaltung deshalb nach den AHP einzelne Grade der Behinderung anzugeben hat, handelt es sich lediglich um Bewertungsfaktoren für die Einschätzung des (Gesamt-) GdB (vgl BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 - BSGE 81, 50 ff). Die zur Vorbereitung und Begründung dieser Feststellung ermittelten Krankheitsbilder und Funktionsbeeinträchtigungen sind nur unselbstständige Begründungselemente solcher Feststellungsbescheide (BSG, Urteil vom 25. März 1999, B 9 SB 12/97 R). Hieraus folgt, dass diese Teile der feststellenden Bescheide der Versorgungsverwaltung im Schwerbehindertenrecht nicht an der Bestandskraft der Bescheide teilhaben und dass soweit keine Bindungswirkung eintritt (vgl auch BSG, Urteil vom 24. Ju-ni 1998, B 9 SB 17/97 R - SozR 3-3870, § 4 Nr. 24; LSG Niedersachsen-Bremen , Urteil vom 7. Februar 2001, L 9 SB 159/99).

19

2.

Die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sind gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX im Rahmen der Bildung des Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander festzustellen. Dabei ist der Gesamt-GdB weder nach mathematischen Formeln zu berechnen noch dürfen die Einzel-GdB-Werte addiert werden. Der Gesamt-GdB ist vielmehr unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Behinderungen und ihrer gemeinsamen Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit und Integrität des Körpers und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wertend zu ermitteln. Ausgehend von der Behinderung, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, ist im Hinblick auf alle weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit sich hierdurch das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erhöht. Dabei führen leichte Gesundheitsstörungen mit einem GdB um 10 nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen, die bei der Bildung des Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnten, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB um 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderungen zu schließen (Kapitel 19 Seite 24 ff AHP 2004; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9).

20

Vor diesem Hintergrund ist bei der vorzunehmenden Gesamtbewertung der vom Beklagten festgestellte GdB von 30 für den streitigen Zeitraum von März 2003 bis Februar 2006 rechtlich nicht zu beanstanden. Der GdB von 30 für die Wirbelsäulenerkrankung wird nach Auffassung des Gerichts auch dem Gesamt-Behinderungszustand des Klägers im streitigen Zeitraum gerecht, weil die weiteren mit einem EinzelGdB von 10 bewerteten Behinderungen als "leicht" zu qualifizieren sind und das Ausmaß der Gesamt-Behinderung nicht wesentlich erhöhen. Die Auswirkungen einer nur mit einem Einzel-GdB von 10 bewerteten Funktionsstörung vermögen den Gesamt-GdB in aller Regel deshalb nicht zu erhöhen, weil sie zu geringfügig sind. Die AHP drücken diesen Gedanken durch die Formulierungen "leichte Gesundheitsstörungen" und "wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung" aus. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 13. Dezember 2000 - B 9 V 8/00 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 24), der sich das Gericht aus eigener Überzeugung anschließt, gilt das Erhöhungsverbot der Nr. 19 Abs. 4 der AHP ausnahmslos, wenn die Funktionsbeeinträchtigungen verschiedene Lebensbereiche betreffen. Gleiches gilt, wenn man die mit einem GdB von 10 bewerteten Funktionsbeeinträchtigungen zugunsten des Klägers mit einem Teilwert von 20 bewerten würde, da diese Bewertung allenfalls eben im Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten erreicht und damit als "schwache 20" zu werten wären. Unter Zugrundelegung der Auswirkungen der bei dem Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen kommt damit eine Erhöhung des Gesamt-GdB im streitigen Zeitraum hier nicht in Betracht.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht dem Verfahrensergebnis. Das Gericht hat berücksichtigt, dass der Beklagte unverzüglich nach Kenntnis der Ände-rung der gesundheitlichen Verhältnisse ein Teilanerkenntnis abgegeben hat und der Rechtsstreit auch nach Abgabe des Teilanerkenntnisses durch den Kläger fortgeführt worden ist.