Sozialgericht Stade
Urt. v. 09.07.2008, Az.: S 9 RJ 275/04
Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen des zuständigen Rentenversicherungsträgers über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 09.07.2008
- Aktenzeichen
- S 9 RJ 275/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 33997
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2008:0709.S9RJ275.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 10 Abs. 1 SGB VI
- § 16 SGB VI
- §§ 33 ff. SGB IX
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Die Klägerin, geboren im Juli 1972, ist gelernte Bäcker- und Konditormeisterin und arbeitete als solche von 1994 bis zum Januar 2004 im elterlichen Betrieb. Aufgrund eines mit erheblichen Schmerzen verbundenen Wirbelsäulenleidens beantragte sie am 27. Februar 2004 bei der Beklagten die Gewährung einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme. Laut Befundberichten der behandelnden Ärzte bestand ein HWS-, BWS- und LWS-Syndrom mit Lumbalgien bei Fehlhaltung der Wirbelsäule. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. März 2004 mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit sei nicht gefährdet oder gemindert, denn die Klägerin könne noch als Bäckermeisterin in aufsichtsführender Position weiterarbeiten. Auf den Widerspruch der Klägerin hin holte die Beklagte ein Gut-achten bei dem Facharzt für Orthopädie Dr. G. ein, das im Juli 2004 vorlag. Dr. G. diagnostizierte einen chronischen Rückenschmerz bei hohlrunder Rückenform und den Verdacht auf eine abgelaufene thorakale Scheuermannsche Krankheit ohne wesentliche Funktionseinschränkungen. Nach Zurückweisung des Widerspruchs mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2004 hat die Klägerin am 29. September 2004 Klage erhoben.
Vom 19. Mai 2005 bis 15. Juni 2005 nahm die Klägerin an einer medizinischen Reha-Maßnahme im Rehazentrum Bad H. teil. Laut dortigem Bericht vom 16. Juni 2005 wurde ein chronisches Schmerzsyndrom der BWS/LWS bei Hohlrundrücken mit Verdacht einer psychischen Überlagerung des Beschwerdebildes festgestellt. Eine Tätigkeit als Bäckermeisterin wurde unter Vermeidung von Zwangshaltungen vollschichtig für zumutbar gehalten, weil davon ausgegangen werde, dass die Klägerin schere körperliche Arbeiten delegieren könne.
Die Klägerin hat sich bereits im Juli 2005 mit einem Nagel- und Kosmetikstudio selbständig gemacht. In den Jahren 2003 bis 2006 nahm sie in diesem Zusammenhang an zahlreichen fachbezogenen Kursen und Schulungen z.B. zu Fußpflege, Massage oder Yogatechniken teil und absolvierte eine Ausbildung zur Kosmetikerin und Visagistin. Die Aus- und Fortbildungskosten, soweit sie dem Gericht nachgewiesen wurden, beliefen sich auf rund 6.300,00 EUR.
Die Klägerin trägt vor, sie sei nicht mehr in der Lage, den Beruf einer Bäcker- und Konditormeisterin auszuüben. Die Leistung zur Teilhabe sei zu Unrecht abgelehnt worden. Nach der zwischenzeitlichen Eröffnung des Nagel- und Kosmetikstudios gehe es ihr vor allem um eine Beteiligung der Beklagten an den Kosten der beruflichen Neuorientierung.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 5. März 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 8. September 2004 zu verurteilen, der Klägerin gemäß dem Antrag der Klägerin vom 27. Februar 2004 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihr Vorbringen in den angegriffenen Bescheiden
Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 9. Juli 2008 waren, Bezug genommen.
Das Gericht hat zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein orthopädisches Gutachten bei Dr. I., J. Seehospital K., eingeholt, das dieser am 3. Juli 2006 vorlegte. Er diagnostizierte ein chronisches Lumbalsyndrom ohne neurologische Ausfallerscheinungen, ein chronisches Schmerzsyndrom der BWS bei Hyperkyphose und Morbus Scheuermann sowie einen schmerzhaften Reizzustand des rechten Schultergelenks. Nach Einschätzung des Sach-verständigen bestand bei der Klägerin eine spezifische Leistungseinschränkung in Bezug auf die Tätigkeit im Bäcker- und Konditorberuf, da dieser das Heben und Tragen schwerer Lasten, das überwiegende Arbeiten im Stehen und in häufig gebückter Haltung mit sich bringe. Ein bildtechnisches Korrelat zu den geklagten Schmerzen konnte nicht festgestellt werden. Zu weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben liegen zum maßgeblichen Zeitpunkt, d.h. dem Schluss der mündlichen Verhandlung, nicht mehr vor. Obwohl die angegriffene Entscheidung der Beklagten aus Sicht des Gerichts vermutlich rechtswidrig war, ist die Klägerin vor dem Hintergrund ihrer zwischenzeitlichen beruflichen Veränderung nicht mehr beschwert, § 54 Abs. 2 SGG.
Gemäß § 9 Abs. 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um 1. den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und 2. dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Versicherte haben die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfüllt, 1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist, 2. bei denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlicher gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden gemäß § 16 SGB VI nach den §§ 33 bis 39 SGB IX erbracht und umfassen gemäß § 33 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX z.B. auch berufliche Anpassungsmaßnahmen und Weiterbildung oder gemäß Nr. 4 berufliche Ausbildungen. Es handelt sich dabei um Leistungen, über die der zuständige Rentenversicherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat (vgl Eicher/Michaelis, SGB VI, § 9, dortige Ziff.3)
Die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 SGB VI liegen nicht vor, weil die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht gemindert oder gefährdet ist. Abzustellen ist dabei auf ihren heutigen Beruf, d.h. ihre Tätigkeit als Betreiberin eines Na-gel- und Kosmetikstudios, denn für die gerichtliche Entscheidung im Rahmen einer Verpflichtungskonstellation ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 54, Rn 34). Hinsichtlich der heutigen Tätigkeit der Klägerin sind keine Anhaltspunkte für eine Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit erkennbar und auch nicht vorgetragen.
Da die Klägerin nicht mehr als Bäcker- und Konditormeisterin tätig ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob ihr die Ausübung ihres alten Berufs vor dem Hintergrund der gesundheitlichen Einschränkungen noch möglich ist oder nicht. Durch die erfolgreiche eigene berufliche Neuorientierung der Klägerin hat sich das Klageverfahren um die zuvor erfolgte Ablehnung materiell erledigt, zumal für die Klägerin kein erkennbarer Anlass besteht, ihre neue Tätigkeit als Kosmetikerin aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben und an einer Berufsfindungsmaßnahme der Beklagten und einer möglicherweise ganz anders ausgerichteten beruflichen Neuorientierung, die sich nach dem Ermessen der Beklagten als geeignet erweist, teilzunehmen.
Soweit die Klägerin an der Klage festgehalten hat, um eine Kostenbeteiligung der Beklagten an der privat finanzierten beruflichen Neuorientierung zu erreichen, konnte auch dies nicht zu einer Verurteilung der Beklagten führen. Es besteht keine gesetzliche Grundlage für einen Anspruch auf Kostenübernahme im Nachhinein oder eine Umrechnung eines tatsächlichen Verwaltungshandelns in Geldeswert.
Auch aus den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergibt sich kein Anspruch über Übernahme der privaten Ausbildungskosten. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf Naturalrestitution gerichtet. Der Betroffene wird im Falle einer Pflichtverletzung des zuständigen Leistungsträgers so gestellt, wie er bei ordnungsgemäßem Handeln des Sozialleistungsträgers stehen würde. Nach Auffassung des Gerichts war die damalige Ablehnung der beantragten Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben rechtswidrig, denn aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere dem Gutachten des Dr. I und dem Reha-Bericht vom 16. Juni 2006, geht hervor, dass die Klägerin aufgrund ihres Wirbelsäulenleidens eine Tätigkeit als Bäckermeisterin gerade nicht mehr uneingeschränkt ausüben konnte. So wird z.B. im Reha-Bericht eine volle Einsatzfähigkeit als Bäckerin nur angenommen, weil unterstellt wird, dass die Klägerin schwere Arbeiten hätte delegieren können. Bücken und schweres Heben sowie überwiegendes Arbeiten im Stehen ist der Klägerin nach Aussage der Ärzte nur noch eingeschränkt möglich. Dabei handelt es sich jedoch um Bewegungen und Bedingungen, die üblicherweise mit dem Bäckerberuf einhergehen. Der Verweis auf eine aufsichtsführende Tätigkeit als Bäckermeisterin trifft auf ernste Bedenken, da auf den bisherigen Beruf abzustellen ist (Slottke in: Hauck/Haines, SGB VI § 10, Rn 4). Im Rahmen der alten Beschäftigung bis 2004 war eine Delegation der schweren Arbeiten schon aufgrund der Größe des Betriebs nicht denkbar. Die Klägerin konnte aus gesundheitlichen Gründen ihre bisheriger Tätigkeit als Bäcker- und Konditormeisterin nicht mehr voll-umfänglich ausüben. Eine Ablehnung einer beantragten Leistung zur Teilhabe unter Hinweis auf Verweisungstätigkeiten, zu denen eine Tätigkeit als aufsichtsführende Bäckerin im Vergleich zur mitarbeitenden Bäckerin in einem Kleinbetrieb nach Auffassung des erkennenden Gerichts zu zählen sein wird, ist nicht zulässig (vgl Slottke in: Hauck/Haines, SGB VI, § 10, Rn 5). Dennoch führt dies nicht dazu, dass die Klägerin im Rahmen einer Naturalrestitution Ersatz ihrer entstandenen Kosten verlangen kann. Denn die Entscheidung über die konkrete zu gewährende Leistung zur Teilhabe, also das "Wie" der Teilhabe, liegt im Ermessen der Beklagten. Dieses Ermessen war nicht dahingehend eingeschränkt, dass nur eine Umschulung zur Kosmetikerin als Teilhabeleistung in Betracht gekommen wäre und insoweit eine Ermessenreduzierung auf Null vorläge.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.