Sozialgericht Stade
Urt. v. 27.02.2008, Az.: S 30 R 313/06
Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund von Leberzhirrose und Schulterleiden ; Voraussetzungen für das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 27.02.2008
- Aktenzeichen
- S 30 R 313/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 34374
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2008:0227.S30R313.06.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- LSG Niedersachsen -AZ: L 2 R 196/08
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs. 1 SGB VI
- § 43 Abs. 2 SGB VI
- § 240 SGB VI
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung von der Beklagten.
Die Klägerin, geboren im November 1954, hat den Beruf einer Näherin gelernt und anfangs in diesem Beruf gearbeitet. Nach Unterbrechungen wegen Schwangerschaft und Kindererziehung arbeitete sie seit 1983 als Küchenhilfe in der Gaststätte ihres Ehemannes. Krankgeschrieben seit Anfang 2003, ist sie seit August 2004 arbeitslos gemeldet.
Vom 1. Dezember 2004 bis 22. März 2005 nahm die Klägerin an einer Rehabilitationsmaßnahme in der G. -Klinik in Bad H. teil. Diagnostiziert wurden eine Alkoholabhängigkeit, eine toxische Leberzirrhose, Bluthochdruck, eine Schulterprellung rechts und ein Zustand nach Absrissfraktur des Tuberculum major rechts. Gemäß Entlassungsbericht vom 22. März 2005 wurde sie arbeitsfähig entlassen. Seit 2004 befindet sich die Klägerin in psychotherapeutischer Behandlung bei der Psychologin Frau I., J ...
Am 3. November 2005 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf die Leberzhirrose und ihr Schulterleiden bei der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte veranlasste eine medizinische Begutachtung auf internistischen Gebiet durch Dr. K., Facharzt für innere Medizin, und auf nervenärztlichem Gebiet durch Dr. L., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Die Gutachten wurden im November und Dezember 2005 vorgelegt. Beide Gutachter schätzten die Klägerin im Ergebnis als vollschichtig erwerbsfähig im bisherigen Beruf mit bestimmten Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet und unter Vermeidung jeder Berührung mit Alkohol ein. Mit Bescheid vom 12. Januar 2006 lehnte die Beklagte die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung daraufhin ab. Nach Einholung weiterer ärztlicher Unterlagen wies die Beklagte auch den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2006 zurück. Am 12. Juli 2006 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie trägt vor, insbesondere ihre bestehende psychische Störung sowie die durch die Alkoholkrankheit begründeten Gefährdungen bei Aufnahme einer Tätigkeit seien nicht ausreichend gewürdigt worden. Sie sei im Übrigen seit März 2005 abstinent.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 12. Januar 2006 in gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juni 2006 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihr Vorbringen in den angegriffenen Bescheiden.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2008 waren, Bezug genommen.
Das Gericht hat zu weiteren Ermittlung des Sachverhalts einen Befundbericht des behandelnden Hausarztes Dr. M. sowie ein medizinisches Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. N., O., eingeholt, das am 7. November 2007 vorgelegt wurde. Hinsichtlich des Ergebnisses der Begutachtung wird auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Die angefochtene Entscheidung der Beklagten erweist sich als rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht, § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bzw. teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen und wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Lässt das gesundheitliche Leistungsvermögen des Versicherten noch eine Erwerbstätigkeit im Umfang von drei bis unter sechs Stunden zu, besteht gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Erwerbsgemindert ist dagegen nicht, wer zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Als Übergangsregelung bestimmt ferner § 240 SGB VI, dass Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren wurden, einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch haben, wenn sie berufsunfähig sind. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist (§ 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Maßgeblich ist dabei nicht, ob der Versicherte sein Leistungsvermögen noch in irgendeiner leidensgerechten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in mehr als geringfügigem Umfang einbringen kann, sondern allein, ob ihm dies noch in einer für ihn auch sozial zumutbaren Tätigkeit möglich ist.
Die genannten Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht erfüllt. Die Klägerin ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gemindert erwerbsfähig. Aus den festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen resultieren keine im rentenrechtlichen Sinne relevanten objektiven Funktionseinschränkungen.
Die Leiden auf orthopädischem Gebiet lassen eine teilweise oder volle Aufhebung des beruflichen Leistungsvermögens nicht erkennen. Zwar werden in den vorhandenen Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren und im Gerichtsgutachten sowie im Reha-Entlassungsbericht Beschwerden vor allem im Bereich der Schulter benannt, mit denen eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung einhergeht. Die Klägerin ist insoweit jedoch nicht fachärztlicher Behandlung. Nach Einschätzung der befassten Ärzte führen die Leiden auf orthopädischem Gebiet zu einer Einschränkung dahingehend, dass Überkopfarbeiten vermieden werden sollten. Einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit steht dies jedoch nicht entgegen.
Auch in neurologischer Hinsicht konnte nach den Angaben der Gutachterin Frau Dr. N. kein Befund von Krankheitswert erhoben werden.
Der Schwerpunkt der Leiden besteht nach dem Ergebnis der Ermittlungen in psychiatrischer Hinsicht. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Frau Dr. N. diagnostiziert in ihrem Gutachten vom November 2007 in erster Linie eine Panikstörung geringer Ausprägung sowie die Alkoholkrankheit bei Abstinenz. Die Angstzustände beziehen sich auf selbständiges Autofahren und sind als solche vermeidbar, wenn die Klägerin sich fahren lässt oder öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Die Klägerin weist laut Gutachterin außerdem eine Persönlichkeit mit abhängigen und selbstunsicheren Zügen auf. Bei dieser Diagnose wird eine regelmäßige vollschichtige Tätigkeit von der Gutachterin für möglich gehalten, solange damit keine Konfrontation mit Alkohol einhergeht. Aufgrund des bestehenden Persönlichkeitsstruktur sollten nach den Aussagen Frau Dr. N. s Tätigkeiten vermieden werden, bei denen sich die Klägerin abgrenzen muss, womit die Gutachterin Tätigkeiten im erzieherischen, seelsorgerlichen und pflegerischen Bereich meint, da hier die Gefahr gesehen wird, dass sich die Klägerin sofort wieder extrem überfordere. Denn die Klägerin hat nach den Feststellungen Frau Dr. N. s Schwierigkeiten, nicht dauernd Arbeit anderer Menschen zu übernehmen, um diese zu entlasten und sich selbst zu überlasten.
Es ist dem Gericht nicht erkennbar geworden, warum die bei der Klägerin festgestellten objektiven Funktionseinschränkungen die Ausübung jedweder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen sollten. Die bestehenden Einschränkungen führen zwar dazu, dass eine Reihe von Berufen nicht ausgeübt werden kann, insbesondere im Gaststättengewerbe. Auch die Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet sind zu bedenken. Die Klägerin wird nach Auswertung der medizinischen Unterlagen und Befunde allerdings noch für in der Lage gehalten, z.B. wieder als Näherin zu arbeiten oder Arbeiten in einer Wäscherei wie z.B. Bügeln auszuüben. Auch eine Arbeit als Küchenhilfe erscheint nicht per se unmöglich, wobei aufgrund der Alkoholproblematik nicht an eine Küche im Gaststättengewerbe zu denken wäre, sondern z.B. an eine Großkantine, in der keine alkoholischen Getränke vorhanden sind.
Soweit die behandelnde Psychotherapeutin Frau I. auf die zu befürchtende schnelle Überforderung bei Aufnahme einer Tätigkeit hinweist, vermag diese Gefahr eine Berentung nach Überzeugung der Kammer nicht zu rechtfertigen. Der Umgang mit Belastungen und Stress kann durch begleitende ambulante Therapien beherrscht und erlernt werden. Das Leistungsvermögen der Klägerin ist für die Ausübung eines weiten Kreises leichter Tätigkeiten unter Vermeidung besonderer Stressfaktoren auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als ausreichend anzusehen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass bei sorgfältiger Auswahl einer geeigneten Tätigkeit und konsequenter therapeutischer Begleitung jeder Arbeitsversuch mit Wahrscheinlichkeit zu einem Rückfall in den Alkoholmissbrauch führen müsste. Die Einschätzung des behandelnden Hausarztes Dr. M. im Befundbericht vom 15. Mai 2007, dass der derzeit stabilisierte Zustand der Klägerin durch die Wiederaufnahme einer Tätigkeit gefährdet würde, kann so nicht geteilt werden. Nach den Angaben des Arztes ist der Zustand aufgrund der Alkoholabstinenz, der Aufgabe der Tätigkeit im Restaurantbetrieb, der psychotherapeutischen Behandlung und der verbesserten Familiensituation deutlich stabilisiert. Die Familiensituation wird jedoch durch die Aufnahme einer Tätigkeit nicht verschlechtert. Auch die psychotherapeutische Behandlung muss bei Aufnahme einer Tätigkeit nicht abgebrochen werden. Es ist auch kein zwingender Grund dafür zu erkennen, dass die Klägerin bei Arbeitsaufnahme einen Rückfall in die Alkoholkrankheit erleidet. Dies dürfte vielmehr sehr von der konkreten Tätigkeit und der weiteren Begleitung der Klägerin abhängen. Die Gefährdung des derzeit stabilisierten Zustandes der Klägerin muss daher als eher allgemein und damit letztlich zu unkonkret angesehen werden, um von einer Aufhebung jeglichen Leistungsvermögens ausgehen zu können.
Mit dem festgestellten Leistungsvermögen hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI, denn sie genießt keinen Berufsschutz. Sie hat sich vom ursprünglich erlernten Beruf einer Näherin aus nicht gesundheitlichen Gründen bereits vor mehr als zwanzig Jahren gelöst. Nach dem Berufsgruppenschema des Bundessozialgerichts (vgl. SozR 2200, § 1246 Nr. 132, 138, 140) ist die Klägerin daher auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, soweit diese seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen entsprechen.
Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass sie wegen der gesundheitlichen Einschränkungen einen Arbeitsplatz nicht erreichen könnte. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG SozR 3-2200, § 1247 Nr. 10) ist derjenige Versicherte erwerbsunfähig, der nicht täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Meter innerhalb von höchstens 20 Minuten zu Fuß zurücklegen kann. Anhaltspunkte für eine im Rentenrecht in erheblichem Umfang eingeschränkte Wegefähigkeit der Klägerin finden sich in keiner der vorliegenden ärztlichen Unterlagen. Die Benutzung öffentlicher Verkehr ist der Klägerin zumutbar. Die Angstzustände bei selbständigem Autofahren führen nicht zu einer Einschränkung der Gehfähigkeit.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.