Sozialgericht Stade
Urt. v. 25.06.2008, Az.: S 9 RJ 198/03
Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wird auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet; Anrechnung einer Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 25.06.2008
- Aktenzeichen
- S 9 RJ 198/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 39138
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2008:0625.S9RJ198.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 93 Abs. 1 SGB VI
- § 93 Abs. 5 Nr. 1 SGB VI
- § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin verfolgt mit der Klage das Ziel, dass die ihr von der Beklagten gewährte Hinterbliebenenrente nicht auf die von der Beigeladenen gewährte Hinterbliebenenrente angerechnet wird.
Die Klägerin, geboren im Jahr 1951, ist Witwe ihres am 21. August 1995 verstorbenen Ehemannes. Dieser bezog seit dem 1. Februar 1994 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit von der Beklagten. Gleichzeitig bezog er seit dem 17. Dezember 1994 eine Verletztenrente von der Beigeladenen, ausgehend von einem Leistungsfall am 16. Dezember 1994. Beide Renten wurden parallel in voller Höhe ausgezahlt, eine Anrechnung erfolgte nicht.
Nach dem Tod des Ehemannes bewilligte die Beklagte der Klägerin Witwenrente iHv 1.257,85 DM ab 1. September 1995. Der Bewilligungsbescheid vom 12. Oktober 1995 enthielt auf dortiger Seite 4 den ausdrücklichen Hinweis, dass die Rente unter Vorbehalt bezahlt würde und dass eine Neuberechnung erfolgen würde, sobald ein Bewilligungsbescheid der Beigeladenen vorliege.
Nachdem die Beigeladene kurz darauf ebenfalls eine Hinterbliebenenrente gewährte, erfolgte eine Neuberechnung der Hinterbliebenenrente der Beklagten. Mit Bescheid vom 27. November 1995 verringerte die Beklagte die der Klägerin ausgezahlte Rente auf 269,75 DM ab dem 1. Januar 1996 und teilte mit, für den Zeitraum 1. September 1995 bis 31. Dezember 1995 ergebe sich eine Überzahlung iHv 6.952,70 DM. Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid am 22. Dezember 1995 Widerspruch ein und begehrte unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts (B 5 RJ 4/95) zu § 93 Abs. 5 SGB VI in der damals noch geltenden Fassung, dass keine Anrechnung der von der Beigeladenen gewährten Hinterbliebenenrente auf die Hinterbliebenenrente der Beklagten erfolgen solle.
§ 93 Abs. 5 SGB VI, der regelt, wann abweichend von § 93 Abs. 1 SGB VI eine Anrechnung einer Rente aus eigener Versicherung auf eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung bzw. eine Anrechnung einer Hinterbliebenenrente auf eine entsprechende Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung nicht erfolgt, wurde durch Art 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG) vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1461) unter anderem um einen Satz 3 ergänzt. Dieser legt fest, dass die Ausnahmevorschrift nicht auf Hinterbliebenenrenten anzuwenden sei. Gemäß Art 12 Abs. 8 WFG trat der geänderte § 93 Abs. 5 SGB VI rückwirkend zum 1. Januar 1992 in Kraft.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Änderung des § 93 Abs. 5 SGB VI war Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2002 (1 BvL 19/97, 1 BvL 20/097, 1 BvL 21/97 und 1 BvL 11/98), das hinsichtlich der Rückwirkung insbesondere auf Vertrauensschutzgesichtspunkte verwies.
Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erließ die Beklagte am 7. Januar 2003 einen Teilabhilfebescheid, Mit diesem wurde dem Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 27. November 1995 insoweit abgeholfen, dass es für den Zeitraum 1. September 1995 bis 31. Dezember 1995 wegen Vertrauensschutz bei der ursprünglichen Rentenbewilligung verbleiben würde. Durch Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2003 wurde der Widerspruch zurückgewiesen, soweit ab 1. Januar 1996 eine Anrechnung der Hinterbliebenenrente der Beigeladenen auf die Hinterbliebenenrente der Beklagten vorgenommen wurde. Am 21. Juli 2003 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie trägt vor, der der Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts (B 5 RJ 4/95) zugrunde liegende Schadensersatzgedanke gelte auch für den Zeitraum ab Januar 1996. Die Beklagte habe nicht geprüft, ob die teilweise Rücknahme der ursprünglich bewilligten Rente der Klägerin überhaupt zweckmäßig ist. Es werde willkürlich in erworbene Bestände eingegriffen. Im Übrigen dürften auch die Bescheide der Beklagten, mit denen die Hinterbliebenenrenten der drei Töchter der Klägerin G., H. und I. wegen Zusammentreffens mit anderen Ansprüchen im Monat Juli 1996 neu berechnet wurden, als mitangefochten gelten.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß.
den Bescheid der Beklagten vom 27. November 1996 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 7. Januar 2003 und des Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 2003 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihr Vorbringen in den angegriffenen Bescheiden.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 25. Juni 2008 waren, sowie die Sitzungsniederschrift vom 25. Juni 2008 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Bescheide der Beklagten vom 16. Juli 1996 richtet, die gegenüber den Töchtern der Klägerin ergangen sind. Es ist nicht ersichtlich, dass insoweit das erforderliche Vorverfahren stattgefunden hat. Dies ist jedoch Prozessvoraussetzung gemäß § 78 Abs. 1 SGG. Gründe für eine Entbehrlichkeit des Vorverfahrens i.S. des § 78 Abs. 1 Satz 2 SGG liegen nicht vor. Der dem Gericht vorliegende Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2003 bezieht sich allein auf die Klägerin. Den Unterladen in der Verwaltungsakte der Beklagten lässt sich nicht entnehmen, dass gegen die Bescheide vom 16. Juli 1996 seitens der Töchter überhaupt Widerspruch eingelegt wurde.
Die frist- und formgerechte eingelegte Klage ist im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Die angegriffene Entscheidung der Beklagten über die Anrechnung der Hinterbliebenenrente der Beigeladenen auf die Hinterbliebenenrente der Beklagten ab 1. Januar 1996 erweist sich als rechtmäßig und beschwert die Klägerin daher nicht, § 54 Abs. 2 SGG. Die Ausnahmevorschrift des § 93 Abs. 5 SGB VI greift nicht zugunsten der Klägerin durch.
Die Voraussetzungen für eine teilweise Rücknahme des ursprünglichen Rentenbescheids vom 12. Oktober 1995 hinsichtlich der Rentenhöhe ab 1. Januar 1996 sind erfüllt. Durch die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente durch die Beigeladene ist wegen § 93 Abs. 1 SGB VI eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Rentenbescheids vom 12. Oktober 1995 vorgelegen haben, eingetreten, die eine Aufhebung des Verwaltungsakts für die Zukunft notwendig macht, § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die Fristen gemäß § 48 Abs. 4, 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB X wurden eingehalten.
Gemäß § 93 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI wird, wenn für denselben Zeitraum Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente und eine entsprechende Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung besteht, die Rente insoweit nicht geleistet, als die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge vor Einkommensanrechnung den jeweiligen Grenzbetrag übersteigt. Gemäß § 93 Abs. 5 Nr. 1 SGB VI werden die Absätze 1 bis 4 nicht angewendet, wenn die Rente aus der Unfallversicherung für einen Versicherungsfall geleistet wird, der sich nach Rentenbeginn oder nach Eintritt der für die Rente maßgeblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit ereignet hat. Gemäß § 93 Abs. 5 Satz 3 SGB VI gilt Satz 1 Nr. 1 nicht für Hinterbliebenenrenten.
Die Voraussetzungen gemäߧ 93 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI sind erfüllt, denn es treffen im Falle der Klägerin eine Hinterbliebenenrente der Beklagten mit einer Hinterbliebenenrente der Beigeladenen zusammen. Die Ausnahmevorschrift des § 93 Abs. 5 SGB VI greift wegen § 93 Abs. 5 Satz 3 SGBVI nicht ein, so dass es bei der Anrechnung gemäß Abs. 1 verbleibt. Rechenfehler in Bezug auf die konkrete Höhe der Renten und des Grenzbetrags i.S. der § 93 Abs. 2 bis 4 SGB VI sind nicht erkennbar und auch nicht geltend gemacht.
Die Anwendung des § 93 Abs. 5 SGB VI in der Fassung, die er durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) rückwirkend ab 1. Januar 1992 gefunden hat, trifft nicht auf Bedenken. Es handelt sich um geltendes Recht, das auch auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über die Rentenbewilligung und die Anrechnung der Hinterbliebenenrente der Beigeladenen anzuwenden ist (vgl BSG, Urt v 26.2.2003 - B 8 KN 11/02 R -). Der Sachverhalt bietet keinen Anlass, aus verfassungsrechtlichen Erwägungen von einer Anwendung des neugefassten § 93 Abs. 5 SGB VI im Falle der Klägerin abzusehen. Insbesondere ist kein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin in die alte Rechtslage, d.h. vor Änderung durch das WFG, zu erkennen.
Das Bundesverfassungsgerichts weist im Vorlagebeschluss vom 20. Februar 2002 (1 BvL 19/97, 1 BvL 20/097, 1 BvL 21/97 und 1 BvL 11/98) darauf hin, dass die Vertrauensschutzregelungen des Verwaltungsverfahrensrechts, d.h. hier des SGB X, als Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips eine rückwirkende Anwendung von Gesetzen auf bestimmte Sachverhalte ausschließen können. Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips zähle die Rechtssicherheit, die verhindern solle, dass der rechtsunterworfene Bürger durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte über die Verlässlichkeit der Rechtsordnung getäuscht wird (vgl BVerfG a.a.O., dortige Ziff. II.1). Dieser Gedanke des Vertrauensschutzes habe sich insbesondere bei der Ausgestaltung des Sozialverfahrensrechts, d.h. vor allem in §§ 45, 48 SGB X, niedergeschlagen, da nach dem Willen des Gesetzgebers gerade Empfänger von Sozialleistungen in besonderer Weise in ihrem Vertrauen geschützt werden sollen, denn diese seien von Rechtsänderungen häufig existentiell betroffen (vgl auch SG Berlin, Urt v 30.8.2007 - S 13 R 5820/05 -).
Nach diesen Maßgaben steht der Anwendung des § 93 Abs. 5 Satz 3 SGB VI nF kein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin entgegen. Schutzwürdiges Vertrauen in die Hinterbliebenenrente in der ursprünglich bewilligten Höhe konnte nicht begründet werden, da zum einen die Handhabung des § 93 Abs. 5 SGB VI a.F. vor dem Hintergrund der von der Klägerin angeführten Entscheidung des 5. Senats des Bundessozialgerichts in dortigem Urteil vom 21. Juni 1995 - B 5 RJ 4/95 - bereits damals nicht unumstritten war und insbesondere von den Rentenversicherungsträgern abgelehnt wurde (vgl zum damaligen Meinungsstand BSG, Vorlagebeschluss v 28.5.1997 - B 8 RKn 27/95 - dort Rz 32ff). Zum anderen und vor allem hat die Beklagte die Rente ab 1. September 1995 ausdrücklich unter dem Vorbehalt einer Neuberechnung nach Bewilligung einer Hinterbliebenenrente durch die Beigeladene bewilligt, so dass der Klägerin bekannt war, dass sich eine Bewilligung durch die Beigeladene auf die Höhe der Rente der Beklagten auswirken würde. Aufgrund dieses Vorbehalts konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass keine Anrechnung der zu erwartenden Hinterbliebenenrente der Beigeladenen erfolgen würde und ihr die Rente der Beklagten dauerhaft in der ursprünglich bewilligten Höhe ausgezahlt würde. Ihr individuelles Vertrauen in die konkrete Rentenhöhe war bis zur Änderung des Rentenbescheids mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid noch nicht gefestigt.
Die Anwendung des § 93 Abs. 5 SGB VI nF trifft auch nicht aus anderen Gründen auf verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere mit Blick auf die Eigentumsgarantie des Art 14 GG, auf die die Klägerin zur Klagebegründung abstellt. Denn Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen unterliegen nicht dem Eigentumsschutz, so dass Art 14 Abs. 1 GG letztlich von der gesetzgeberischen Entscheidung über die Ausgestaltung des § 93 Abs. 5 SGB VI nicht tangiert wird (BSG, Urt v 13.3.2002 - B 8 KN 4/00 R - dort Rz 16).
Soweit sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts in dortigem Urteil vom 21. Juni 1995 - B 5 RJ 4/95 - beruft, führt dies zu keiner anderen Entscheidung. Die benannte Rechtsprechung ist bezüglich des § 93 Abs. 5 SGB VI in der Fassung vor der rückwirkenden Neufassung durch das WFG im September 1996 ergangen. Zu diesem Zeitpunkt war umstritten, ob die Ausnahmevorschrift in § 93 Abs. 5 SGB VI auf Hinterbliebenenrenten anwendbar war oder nicht (vgl BSG, Vorlagebeschluss v 28.5.1997 - B 8 RKn 27/95 - dort Rz 32ff). Durch die Anfügung des heutigen Satzes 3 hat der Gesetzgeber diesen Streitpunkt allerdings aus der Welt geschafft, da nunmehr eine eindeutige Regelung besteht. Die Rechtsprechung des 5. Senats ist daher für die Fälle, in denen die rückwirkende Änderung des § 93 Abs. 5 SGB VI nicht aus Vertrauensschutzgesichtspunkten auf Bedenken stößt und daher die alte Fassung zum Tragen kommt, als überholt anzusehen. Eine Entscheidung über das Verständnis des § 93 Abs. 5 SGB VI a.F. kann hier dahinstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.