Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 25.02.2008, Az.: L 9 AS 839/07 ER

Geltendmachung eines Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung; Streit über die Rechtmäßigkeit der Rücknahme bestandskräftig gewordener Leistungsgewährungen; Frage der rechtlichen Einordnung einer Vollverpflegung für die Zeit stationärer Unterbringung als Einkommen; Beachtung des Pauschalierungsgrundsatzes

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
25.02.2008
Aktenzeichen
L 9 AS 839/07 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 14201
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0225.L9AS839.07ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 10.12.2007 - AZ: S 31 AS 1671/07 ER

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichtes Lüneburg vom 10. Dezember 2007 wird aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Bescheide der Beschwerdegegnerin vom 29. August und 15. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2007 wird angeordnet.

Die Beschwerdegegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers zu tragen.

Gründe

1

I.

Der Beschwerdeführer steht seit Anfang 2005 im laufenden Bezug von existenzsichernden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bei der Beschwerdegegnerin.

2

Mit Bescheid vom 13. April 2007 waren ihm für die Zeit von Juni bis November 2007 Regelsatzleistungen in gesetzlicher Höhe gewährt worden. Die Beschwerdegegnerin erlangte sodann Kenntnis davon, dass der Beschwerdeführer sich vom 29. August bis zum 7. November 2007 stationär in einer Rehabilitationseinrichtung befand.

3

Mit Bescheid vom 29. August 2007 änderte die Beschwerdegegnerin den Bescheid vom 13. April 2007 dahingehend, dass nunmehr monatlich nur noch 225,55 Euro gezahlt würden. Zur Begründung wies sie darauf hin, der Beschwerdeführer sei stationär untergebracht und werde voll verpflegt. Daher seien ihm Leistungen für die Verpflegung in Höhe von monatlich 121,45 Euro als Einkommen auf seinen Anspruch anzurechnen. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 15. November 2007 rechnete die Beschwerdegegnerin für den Monat November 2007 wegen der zwischenzeitlichen Entlassung des Beschwerdeführers aus der Reha-Einrichtung nur noch Einkommen in Höhe von 28,34 Euro für den Monat November 2007 an.

4

Der Widerspruch des Beschwerdeführers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2007 zurückgewiesen. Hiergegen ist vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben worden (Aktenzeichen S 31 AS 1731/97).

5

Am 27. November 2007 beantragte der Beschwerdeführer bei dem SG die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Dies lehnte das SG mit Beschluss vom 10. Dezember 2007 ab. Zur Begründung wies es im Wesentlichen darauf hin, die Frage, ob die Gewährung von Vollverpflegung beim Aufenthalt in einer stationären Einrichtung als Einkommen im Sinne des SGB II zu werten sei, sei rechtlich umstritten. Von daher sei der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen. Bei der vorzunehmenden Abwägung müsse berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer nunmehr wieder volle Leistungen nach dem SGB II erhalte und auch in der Zeit der stationären Unterbringung sein Verpflegungsbedarf gedeckt worden sei. Mithin könne kein überwiegendes Interesse des Beschwerdeführers an der Herstellung der aufschiebenden Wirkung erkannt werden.

6

Gegen den am 13. Dezember 2007 zugestellten Beschluss ist am 20. Dezember 2007 Beschwerde eingelegt worden, die das SG nach Nichtabhilfe am 2. Januar 2008 dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt hat.

7

II.

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.

8

Einstweiliger Rechtsschutz ist hier - wie das SG zutreffend ausgeführt hat - in Anwendung von § 86 b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu gewähren. Mit dem Bescheid vom 13. April 2007 ist ein Rechtsgrund geschaffen worden, aus dem der Beschwerdeführer auch für Oktober und November 2007 die Auszahlung der ihm zugesprochenen Leistungen nach dem SGB II verlangen kann. Die diesen Bescheid ändernden Bescheide vom 29. August 2007 und 15. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2007 stellen belastende Verwaltungsakte da, sodass einstweiliger Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 1 SGG zu beurteilen ist.

9

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung anordnen. Dabei ist vom Gericht eine Abwägung vorzunehmen zwischen einerseits dem Interesse des Beschwerdeführers, einstweilen von der belastenden Wirkung des streitigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben, und andererseits dem Interesse der den Verwaltungsakt erlassenen Verwaltung, dem im Gesetz zum Ausdruck kommenden besonderen allgemeinen Vollzugsinteresse, wie es sich aus § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 SGB II ergibt, zur Durchsetzung zu verhelfen. Mit der zuletzt genannten Vorschrift wird nämlich die grundsätzliche Wertung des Gesetzgebers deutlich, bei der Herabsetzung oder dem Entzug von laufenden Leistungen durch die Leistungsträger des SGB II solle regelmäßig mit sofortiger Wirkung eine Zahlung nicht mehr vorgenommen werden. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung ist wesentlich auf die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens abzustellen. An der Vollziehung eines bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach der naturgemäß nur möglichen summarischen Prüfung als rechtswidrig erkennbaren Verwaltungsakts kann eben kein öffentliches Interesse bestehen. Andererseits besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakts. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, so hat eine allgemeine Interessenabwägung hinsichtlich der Folgen für die jeweiligen Beteiligten bei der Aufrechterhaltung der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehung zu erfolgen.

10

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die teilweise Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Leistungsgewährung durch die Bescheide vom 29. August und 15. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2007 nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung rechtswidrig. Insoweit hat das SG zu Recht darauf hingewiesen, die rechtliche Einschätzung der Frage, ob die Gewährung von Vollverpflegung für die Zeit stationärer Unterbringung als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II angesehen werden kann, sei in der Rechtsprechung umstritten. Der Senat vertritt in Übereinstimmung mit dem 8. Senat des erkennenden Gerichts, die Auffassung, dass § 11 Abs. 1 SGB II die Berücksichtigung von Verpflegung bei vollstationärer Unterbringung als Einkommen nicht erlaubt (vgl. Beschluss des 8. Sentas vom 30. Juli 2007, L 8 AS 186/07 ER, veröffentlicht bei [...]; vgl. weiter das Urteil des 8. Senats vom 23. August 2007 zum Sozialhilferecht, L 8 SO 70/06 - ebenfalls bei [...] veröffentlicht; so auch der 6. Senat des erkennenden Gerichts in seinem Beschluss vom 26. November 2007 - L 6 AS 694/07 ER).

11

Der 8. Senat hat für den erkennenden Senat zutreffend und überzeugend zunächst ausgeführt, das SGB II gehe von einem Pauschalierungsgrundsatz aus (vgl. § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II), der es nicht erlaube, abweichende Bedarfe festzulegen. Der 8. Senat ist weiter richtig davon ausgegangen, die Gewährung von Vollverpflegung in einer stationären Unterbringung könne nicht als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 angesehen werden. Nach dieser Vorschrift sind als Einkommen zu berücksichtigen, Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Unter Einnahmen, die Geldeswert haben, werden nur solche verstanden, die einen Marktwert haben, also gegen Geld tauschbar sind (vgl. hierzu nur Brühl in LPK SGB II, 2. Aufl. § 11 Rdnr. 11). Auch insoweit macht der Senat sich die Auffassung des 8. Senats zu eigen, dass die gewährte Vollverpflegung einen solchen Marktwert gerade nicht hat (so auch Söhngen in [...] Praxiskommentar zum SGB II, § 11 Rn 38, der dezidiert auf die Unterscheidung von Geld- und Marktwert hinweist; vgl. auch Kochhan in info also 2007,65,67; Vor in Estelmann, SGB II. § 20 Rn 72 f). Dem Beschwerdeführer war es nicht möglich, das ihm vom Leistungsträger seiner stationären Unterbringung jeweils zur Verfügung gestellte Essen gegen Geld zu tauschen.

12

Die entgegenstehende Auffassung des 13. Senats des erkennenden Gerichts (Beschluss vom 29. Januar 2007, L 13 AS 14/06 ER ebenfalls in [...] veröffentlicht) vermag nicht zu überzeugen. Für den erkennenden Senat war nicht erkennbar, wie es dem Beschwerdeführer möglich sein sollte, die ihm angereichte Verpflegung in der Rehabilitationseinrichtung einem irgendwie gearteten Markt zuzuführen. Auch der 13. Senat vermag hierfür keine Erklärung anzudeuten. Das vom 13. Senat gefundene Argument, der Marktwert ergebe sich schon daraus, dass der Leistungsträger für die Unterbringung des Beschwerdeführers in der stationären Einrichtung für die Gewährung der Vollverpflegung einen Preis zu entrichten habe, vermag nicht zu überzeugen. Die Frage des Marktwertes einer geldeswerten Leistung ist nach der Konzeption des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II allein aus der Sicht des Leistungsempfängers zu beurteilen. Nur dann, wenn es diesem möglich ist, die empfangene Leistung in Geld umzutauschen, will es das Gesetz erlauben, diese Leistung als geldwert und damit als Einkommen anzusehen. Ob die empfangene Leistung aus der Sicht eines anderen Leistungsträgers oder etwa einer anderen Person Geldes- oder Marktwert hat, ist nicht die Perspektive, die § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II in die rechtliche Beurteilung einbezieht. Dies ergibt sich auch aus einer Parallelüberlegung. Würde die Erwägung des 13. Senats zutreffen, so wäre es dem Leistungsträger auch erlaubt, Hilfeempfängern, die regelmäßig auf die Anschaffung eigener Nahrungsmittel verzichten und sich etwa von Nahrungszuwendungen karitativer Einrichtungen ernähren, um die so freiwerdenden Mittel anders zu nutzen, dies als Einkommen entgegenzuhalten. Dies ist ersichtlich vom Gesetzgeber des SGB II nicht gewollt, der mit der Konzeption der Pauschalisierung der Leistungen nach dem SGB II unter dem Schlagwort des "Förderns und Forderns" gerade den Ansatz verfolgt hat, die Autonomie der Hilfeempfänger zu stärken (vgl. § 1 Abs. 1 SGBII). Hieraus ergibt sich, dass es der gesetzgeberischen Konzeption entspricht, es dem Hilfeempfänger gerade freizustellen, ob er sich in der von der Zusammensetzung des Regelsatzes intendierten Weise der ihm zur Verfügung gestellten Mittel bedient oder ob er diese Mittel anders nutzt. Diese Konzeption des Gesetzes würde ersichtlich - worauf der 8. Senat kurz aber zutreffend hinweist - umgangen, wenn für die Sondersituation der Gewährung von Vollverpflegung bei stationärer Unterbringung die Anrechnung als Einkommen erlaubt würde (vgl. in diese Richtung aus jüngerer Zeit auch SG Berlin, Beschluss vom 14. 11.07 S 37 AS 28904/07 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 3.12.07 S 19 AS 3220/07).

13

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus der Heranziehung der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V).

14

Es ist bereits ausgeführt und im Einzelnen begründet worden, dass die Gewährung von Vollverpflegung für die Zeit stationärer Unterbringung nicht als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II angesehen werden kann. § 13 SGB II und auch die auf Grund dieser Vorschrift erlassene Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld - Verordnung - Alg II-V in den vom 20. Oktober 2004 (BGBl. I S. 2622) und vom 1. Januar 2008 geltenden Fassungen (BGBl. 2007,2942) setzen jedoch das Vorliegen von Einkommen voraus, sodass diese Verordnung nicht anwendbar ist.

15

In dieser Verordnung könnte der Verordnungsgeber im Übrigen eine Anrechnung der stationären Verpflegung als Einkommen schon deswegen nicht regeln, weil dies nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt wäre. Die in Anwendung von Artikel 80 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) erforderliche gesetzliche Ermächtigung zum Erlass der Alg II-V ergibt sich aus § 13 SGB II. Dabei ordnet Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG an, in der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz zu bestimmen. Dabei sind bei Ermächtigungen zu - wie hier - belastenden Regelungen strengere Anforderungen zu stellen als bei Ermächtigungen zu begünstigenden Regelungen (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 1968, 2 BvL 15/65 = BVerfGE 23,62,73) [BVerfG 30.01.1968 - 2 BvL 15/65]. Dies hat der Bundesgesetzgeber hier in § 13 Nr. 1 SGB II derart getan, das er dem Verordnungsgeber die Ermächtigung erteilt hat, Einnahmen zu bestimmen, die nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind. Der Gesetzgeber hat den Verordnungsgeber in § 13 Nr., 1 SGB II aber gerade nicht ermächtigt, Einnahmen, die nach dem Gesetz nicht als Einkommen zu qualifizieren sind, auf dem Verordnungswege als Einkommen zu definieren. Selbst wenn der Verordnungsgeber dies also getan hätte, hätte er damit die ihm eingeräumte Rechtssetzungskompetenz überschritten. Eine erweiternde Auslegung scheidet vor dem Hintergrund der angedeuteten Anforderungen von Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG aus.

16

Für die seit dem 1. Januar 2008 geltende Fassung der Alg II-V (BGBl. 2007,2942) ergibt sich aber schon aus § 2 Abs. 5 Alg II-V, das lediglich eine Anrechnung bei Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit vorgesehen ist. Die stationäre Unterbringung kann hierunter nicht subsumiert werden. Auch über § 4 Nr. 1 Alg II-V, der eine entsprechende Anwendung von § 2 Alg II-V vorsieht, könnte eine Anrechnung wohl nicht erfolgen, weil die Vollverpflegung nicht als Sozialleistung in diesem Sinne zu verstehen ist.

17

Dies bedarf vorliegend aber nicht der Entscheidung, da in der vorliegenden Anfechtungssituation auf den Rechtsstand im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung - also des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2007 - abzustellen ist. Auch in der damals geltenden Fassung der Alg II-V konnte aber eine Berücksichtigung über § 2 b in Verbindung mit § 2 - entgegen der Auffassung des 13. Senates - nicht erfolgen. Voraussetzung hierfür wäre nämlich auch damals immer gewesen, dass zuvor festgestellt wird, dass es sich bei der gewährten Vollverpflegung um Einkommen in oben näher dargelegten Verständnis des § 11 SGB II gehandelt hat, was aber gerade nicht der Fall ist.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.

19

Der Beschluss ist in Anwendung von § 177 SGG unanfechtbar.