Sozialgericht Stade
Urt. v. 03.12.2008, Az.: S 28 AS 414/08
Anhaltspunkt; Anhang; Arbeitsuchender; Aufhebung; Augenfälligkeit; Berechnungsbogen; Bescheid; Bewilligungsbescheid; erforderliche Sorgfalt; Erkenntnis; Fahrlässigkeit; Fehler; Fehlerhaftigkeit; grobe Fahrlässigkeit; Grundsicherung; Hilfebedürftigkeit; Höhe; Kennenmüssen; Kenntnis; Kenntnisnahme; Leistungshöhe; Lesen; Nichtdurchsehen; Obliegenheit; Obliegenheitspflicht; Prüfung; rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt; rechtswidriger Verwaltungsakt; Rechtswidrigkeit; Richtigkeit; Rücknahme; Sorgfalt; Sorgfaltspflicht; sozialrechtliches Verwaltungsverfahren; Unkenntnis; Unrichtigkeit; Unterlassen; Verletzung; Vertrauensschutz; Verwaltungsakt; Überprüfung
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 03.12.2008
- Aktenzeichen
- S 28 AS 414/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 55019
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 45 Abs 1 SGB 10
- § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10
- § 9 SGB 2
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Empfänger von Leistungen nach dem SGB II handelt nicht schon allein dadurch grob fahrlässig, dass er seinen Leistungsbescheid nicht in ganzer Länge durchliest und die Berechnungsbögen in allen Einzelheiten prüft. Nur wenn sich im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Bescheids ergeben, kann eine nähere Prüfung des Bescheids und seiner Anhänge erwartet werden, deren Unterlassen dann als eine grobe Fahrlässigkeit zu bewerten sein kann.
Tenor:
Der Bescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 29. April 2008 und des Widerspruchsbescheids vom 22. Mai 2008 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtsmäßigkeit der teilweisen Aufhebung eines Bewilligungsbescheids und Rückforderung überzahlter Leistungen vor dem Hintergrund der Vertrauensschutzregelungen des § 45 Abs 2 SGB X.
Die Klägerin, geboren im Jahr 1973, lebt in Bedarfsgemeinschaft mit ihren zwei minderjährigen Kindern. Sie erzielt aufgrund einer seit März 2002 ausgeübten Tätigkeit als Verkäuferin in einer Bäckerei Arbeitseinkommen iHv durchschnittlich rund 1.000,00 EUR monatlich.
Am 17. Februar 2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für sich und ihre Kinder. Dabei gab sie an, dass sie Arbeitseinkommen erziele und reichte neben einer Verdienstbescheinigung vom August 2004 Unterlagen zum Wohngeld ein, aus denen sich nähere Daten zum Arbeitsverhältnis ergaben.
Mit Bescheid vom 19. April 2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin und ihren Kindern Leistungen nach dem SGB II einschließlich Mehrbedarf wegen Alleinerziehung iHv 581,88 EUR für Februar 2005, 1.398,86 EUR für März 2005 und ab April bis einschließlich August 2005 1.454,70 EUR. Ausweislich des dem Bescheid beigefügten Berechnungsbogens wurde kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit berücksichtigt.
Mit Schreiben vom 11. September 2006 bat die Beklagte die Klägerin um Einreichung von Einkommensnachweisen für die Bezugsmonate im Jahr 2005 und führte mit Schreiben vom 23. November 2996 schließlich eine förmliche Anhörung der Klägerin durch. Darin teilte die Beklagte mit, dass im Zeitraum Februar 2005 bis August 2005 Arbeitslosengeld II iHv 9.203,80 EUR zu Unrecht bezogen worden sei, weil die Klägerin unvollständige Angaben gemacht habe. Nach Einreichung der Einkommensnachweise und Neuberechnung bezifferte die Beklagte die Überzahlung in einem erneuten Anhörungsschreiben vom 19. Dezember auf 5.069,75 EUR.
Mit Bescheid vom 11. Januar 2007 hob die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 19. April 2005 für den Zeitraum 17. Februar 2005 bis 31. August 2005 teilweise auf und kündigte an, wegen der Rückforderung iHv 5.069,75 EUR werde die Klägerin gesondert Post erhalten.
Am 29. April 2008 erließ die Beklagte während des laufenden Widerspruchsverfahrens einen Änderungsbescheid, mit dem hinsichtlich der Rückforderungssumme der Individualität der Leistungsansprüche umgesetzt wurde. Gegenüber der Klägerin wurde die Rückforderungssumme nunmehr mit 1.396,93 EUR beziffert. Der Bescheid wurde Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin vom 18. Januar 2007 mit Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2008 als ungegründet zurück. Am 20 Juni 2008 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie trägt vor, sie habe darauf vertraut, dass die Beklagte die Leistungsansprüche richtig berechnet habe. Es sei für sie auch nach der Höhe des Leistungsbetrags nicht erkennbar gewesen, dass das Arbeitseinkommen nicht berücksichtigt worden ist. Sie habe den Berechnungsbogen nicht überprüft und sei auch nicht dazu verpflichtet gewesen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 29. April 2008 und des Widerspruchsbescheids vom 22. Mai 2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im angegriffenen Widerspruchsbescheid sowie auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R - , wonach eine Obliegenheit bestehe, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 2008 waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angegriffene Entscheidung der Beklagten über die teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 19. April 2005 und Rückforderung überzahlter Leistungen im Zeitraum 17. Februar 2005 bis 31. August 2005 erweist sich als rechtswidrig und beschwert daher die Klägerin, § 54 Abs 2 SGG. Die Klägerin kann sich erfolgreich auf Vertrauensschutz berufen.
Gemäß § 45 Abs 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtwidrig ist. Gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 1 SGB X nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, gemäß Nr 2 nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder - gemäß Nr 3 - er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Die Tatbestandsalternative des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 1 scheidet hier von vornherein aus. Anhaltspunkte für vorsätzliche oder grob fahrlässige Angabe unrichtiger Daten im Sinne der Nr 2 liegen ebenfalls nicht vor, denn die Klägerin hat bei Antragstellung alle wesentlichen Umstände, insbesondere ihre berufliche Tätigkeit und das Einkommen, in ausreichender Weise mitgeteilt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X nach Überzeugung der Kammer nicht erfüllt. Der Klägerin kann keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden.
Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl zB BSG SozR 4100 § 152 Nr 3). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff) (vgl BSG SozR 5870 § 13 Nr 20).
Die Klägerin konnte anhand des Bescheids selbst, dh ohne die Berechnungsbögen, nicht erkennen, dass der Bescheid inhaltlich fehlerhaft war. Das Gericht hält in diesem Einzelfall für nachvollziehbar, dass sich aus der konkreten Leistungshöhe aus Sicht der Klägerin noch keine Fehlerhaftigkeit des Bescheids ergeben musste. Angesichts der Leistungshöhe von 581,88 EUR für Februar 2005 und 1.398,86 EUR bzw 1.454,70 EUR in den folgenden Monaten musste auch einem verständigen Laien nicht ins Auge springen, dass in diesem Betrag eine Überzahlung iHv rund 200,00 EUR für die Klägerin, bzw unter Einbeziehung der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft iHv rund 475,00 EUR, enthalten war. Dies hätte vorausgesetzt, zumindest grundlegende Kenntnis über die Höhe der zu erwartenden Regelleistungen und Kosten der Unterkunft für die Bedarfsgemeinschaft und zugleich über die Art und Auswirkungen der Anrechnung von Erwerbseinkommen unter Berücksichtigung möglicher Freibeträge und der gesetzmäßigen Einkommensbereinigung. Zugleich müssten die Auswirkungen der Einkommensanrechnung auf die Kinder bekannt gewesen sein. Nur mit solchen Vorkenntnissen hätte die Klägerin die voraussichtliche Höhe der zu erwartenden Sozialleistungen abschätzen zu können und entsprechend Möglichkeiten gehabt, aufgrund der konkreten Bewilligungshöhe zu ersehen, dass diese fehlerhaft war.
Ein derartiges Vorwissen kann der Klägerin nicht unterstellt werden, zumal es sich um ihren Erstantrag handelte und mithin keine eigenen Vorerfahrungen mit den Angelegenheiten des SGB II und den üblichen Leistungsbescheiden bestanden. Hinzu kommt, dass die Rechtsmaterie zum Zeitpunkt der Antragstellung ohnehin erst seit wenigen Wochen in Kraft war. Die allgemeinen Schwierigkeiten bei der Einführung der neuen Regelungen sind hinlänglich bekannt.
Auch wenn die Klägerin die Berechnungsbögen mit der üblichen Sorgfalt durchgesehen hätte, hätte sie die Fehlerhaftigkeit nicht zwingend erkennen müssen. Die Fehlerhaftigkeit des Bescheids ist nicht augenfällig.
Auf Seite 7 des Bescheids im oberen Abschnitt ist zu sehen, dass bei der Darstellung des anzurechnenden Einkommens im Berechnungsbogen vermerkt ist, dass 0,00 EUR berücksichtigt wurden. An dieser Stelle des Bescheids war damit objektiv erkennbar, dass das angegebene Einkommen aus Erwerbstätigkeit seitens der Beklagten übersehen wurde. Möglicherweise hätte die Klägerin diesen Fehler erkannt, wenn sie den Bescheid durchgesehen hätte, allerdings sind schon diesbezüglich ernste Zweifel berechtigt. Denn die zugehörige Überschrift "Zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" befindet sich auf der vorhergehenden Seite 6 des Bescheids ganz unten. Nach Überzeugung des Gerichts kann eher nicht angenommen werden, dass einem unerfahrenen juristischen Laien wie der Klägerin, die mit derartigen Leistungsbescheiden bisher nichts zu tun hatte, das fehlende Einkommen auch Anwendung der üblichen Sorgfalt unmittelbar ins Auge gesprungen wäre. Unter Berücksichtigung des Einsichtsvermögens der Klägerin war der konkrete Mangel des Bewilligungsbescheids, der sich lediglich aus Seite 7 des Bescheids ergab, nicht ohne weiteres erkennbar gewesen.
Eine grobe Fahrlässigkeit im Verhalten der Klägerin kann zuletzt auch nicht darin gesehen, werden, dass sie den Bescheid im Übrigen, dh die angefügten Berechnungsbögen, nicht durchgesehen hat.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Obliegenheit besteht, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn dies nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl Bundessozialgericht, Urteil v 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, Rn 25). Das Bundessozialgericht führt in der genannten Entscheidung allerdings weiter aus, dass ein Antragsteller, der zutreffende Angaben gemacht hat, im Allgemeinen allerdings nicht zu Gunsten der Fachbehörde gehalten sein dürfte, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Nur wenn sich im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit eines Bewilligungsbescheids ergeben, kann Anlass bestehen, die näheren Berechnungen und Bemessungsgrundlagen anhand der weiteren Unterlagen wie zB hier der angefügten Berechnungsbögen zu prüfen und ggf erkennbar Unstimmigkeiten durch Nachfrage bei der Behörde aufzuklären (vgl BSG aaO., Rn 28).
Nach diesen Maßgaben kann der Klägerin das Nichtdurchsehen der Berechnungsbögen nicht vorgeworfen werden. Die Klägerin konnte aus dem Bescheid selbst, dh in erster Linie aus der konkreten Höhe der bewilligten Leistungen und dem konkreten Zeitraum der Bewilligung, noch nicht auf die tatsächliche Fehlerhaftigkeit des Bescheids rückschließen, wie weiter oben bereits dargestellt. Es bestand daher nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für die Klägerin kein unmittelbarer Anlass für eine weitergehende Prüfung des Bescheids und damit der konkreten Berechnung und ihrer Grundlagen. Grobe Fahrlässigkeit aufgrund des Nichtdurchsehens der Berechnungsbögen ist zu verneinen.
Die nach Ausschluss der Alternativen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 1 bis 3 SGB X vorzunehmende allgemeine Abwägung des schutzwürdigen Vertrauens der Klägerin in den Bestand des Bescheids vom 19. April 2005 mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X führt zu keinem anderen Ergebnis.
Hierbei ist nach Ansicht der Kammer ausschlaggebend zu berücksichtigen, dass sie bei Antragstellung alle notwendigen Angaben korrekt gemacht hat und auch den Einkommensbezug schriftlich erklärt hat. Der Verwaltungsakte der Beklagten ist keine Ursache zu entnehmen, warum das Einkommen seinerzeit bei der Berechnung nicht gesehen wurde. Das Zustandekommen der Überzahlung beruht insoweit offenbar auf einem Versehen der Beklagten und kann nicht der Klägerin angelastet werden. Da der Kläger nicht unterstellt werden kann, dass sie sehenden Auges oder aufgrund von Fahrlässigkeit die Überzahlung hingenommen hat, ist ihr Vertrauen in die korrekte Bearbeitung ihres Leistungsantrags durch die Beklagte schutzwürdig.
Ansonsten sind Mängel des angegriffenen Bescheids, insbesondere hinsichtlich der Frist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X, nicht erkennbar.
Der angegriffene Bescheid ist, soweit die Beklagte eine Erstattungsforderung auf Grundlage des § 50 SGB X geltend macht, ebenfalls rechtswidrig, da aufgrund der festgestellten Rechtswidrigkeit der Aufhebungsentscheidung die Voraussetzungen für die Erstattung gemäß § 50 Abs 1 SGB X nicht mehr erfüllt sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.