Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.03.2014, Az.: 13 LA 75/13
Selbsteintrittsverpflichtung bei einer Abschiebungsanordnung nach Italien wegen angeblicher systematischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 18.03.2014
- Aktenzeichen
- 13 LA 75/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 12660
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2014:0318.13LA75.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 21.02.2013 - AZ: 2 A 126/11
Rechtsgrundlagen
- § 78 Abs. 3 AsylVfG
- Art. 3 Abs. 2 VO 343/2003/EG
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage der Selbsteintrittsverpflichtung bei einer Abschiebungsanordnung nach Italien wegen systematischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen
Tenor:
Dem Kläger wird für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Fahlbusch aus Hannover bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 2. Kammer (Einzelrichterin) - vom 21. Februar 2013 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Dem kostenarmen Kläger war gemäß § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. den §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO) zu bewilligen.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Nach § 78 Abs. 3 AsylVfG ist in asylrechtlichen Streitigkeiten die Berufung nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das Urteil von einer Entscheidung der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG aufgeführten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt. Nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG sind in dem Zulassungsantrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Darlegung erfordert qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen.
Die Berufung ist zunächst nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG wegen der geltend gemachten Divergenz zu dem Beschluss des 4. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 - zuzulassen. Eine Abweichung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ist nur gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung eines Divergenzgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abweicht bzw. sich dazu in Widerspruch setzt (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001 - 9 B 23/01 -, [...], Rdnr. 15, m.w.N.; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 124, Rdnr. 50; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 124, Rdnr. 11). Gleiches gilt im Hinblick auf Abweichungen zu durch das zuständige Oberverwaltungsgericht aufgestellten Tatsachensätzen (verallgemeinerungsfähige Tatsachenfeststellungen und -bewertungen, vgl. Berlit in GK-AsylVfG, § 78, Rdnrn. 159 f., Loseblatt, Stand April 1998). Die Abweichung kann dabei ausdrücklich, aber auch stillschweigend geschehen (vgl. Berlit a.a.O., Rdnrn. 173 ff., m.w.N.). Die Darlegung der Divergenz, die § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG verlangt, erfordert die Angabe des obergerichtlich entwickelten Rechtssatzes, von dem das Verwaltungsgericht abgewichen sein soll, die Angabe des vom Verwaltungsgericht aufgestellten divergierenden Rechtssatzes und Erläuterung dazu, worin die Abweichung im Einzelnen bestehen soll (vgl. Berlit, a.a.O., Rdnr. 615 m.w.N.).
Danach kommt die Zulassung der Berufung wegen Divergenz im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Die Beklagte hat zwar vorgetragen, dass die erstinstanzliche Entscheidung von dem genannten Beschluss des 4. Senats vom 2. August 2012 abweiche. Die behauptete Abweichung liegt jedoch nicht vor.
Der 4. Senat hat in dem genannten Beschluss ausgeführt, dass die Abschiebungsanordnung nach Italien sich bei der in dem dortigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats als rechtmäßig erweise und daher Rechte des Antragstellers nicht verletze. Italien sei nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 (ABl. Nr. L 222 S. 3) der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat. Die Antragsgegnerin sei auch nicht verpflichtet, das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 auszuüben. Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 dieser Verordnung könne jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sei. Der betreffende Mitgliedstaat werde dadurch gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung. Ob der Mitgliedstaat von dieser Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch mache, stehe grundsätzlich in seinem Ermessen, dessen Ausübung nach dem Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2011 (C-411/10 und C-493/10) integraler Bestandteil des im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten gemeinsamen Europäischen Asylsystems sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lasse dieses Asylsystem die Annahme zu, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Es gelte daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang stehe. Diese Vermutung könne jedoch widerlegt werden. Sie sei widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten sei, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, sei in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden könne. Nach Maßgabe dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestehe keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, den Asylantrag des Antragstellers selbst zu prüfen. Denn es sei auf der Grundlage des dem 4. Senat vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern in Italien nicht ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen dort grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union implizieren. Insoweit werde zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführliche Würdigung der Erkenntnismittel zur Lage von Asylbewerbern in Italien in dem erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen, der sich der Senat anschließe. Ergänzend zu den Ausführungen des Verwaltungsgerichts werde auf die (aktuelle) Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vom 24. April 2012 an das Verwaltungsgericht Braunschweig verwiesen, die ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür biete, dass ernsthaft zu befürchten sei, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien grundlegende Mängel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufweisen.
Von dem damit aufgestellten Tatsachensatz, dass aufgrund des dem 4. Senat vorliegenden Erkenntnismaterials zum Zeitpunkt seiner Entscheidung am 2. August 2012 nicht ernsthaft zu befürchten sei, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union implizieren, ist das Verwaltungsgericht nicht abgewichen. Denn es hat in dem angefochtenen Urteil vom 21. Februar 2013 lediglich eine Entscheidung auf Grundlage der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt seiner Entscheidung getroffen, für den es entsprechende Mängel angenommen hat. Einen Tatsachensatz, dass grundlegende Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des 4. Senats vorgelegen hätten, hat das Verwaltungsgericht hingegen nicht aufgestellt. So spricht die Einzelrichterin in der angefochtenen Entscheidung lediglich von "Anhaltspunkten", die für die Annahme sprachen, dass schon vor Beginn der Unruhen in der arabischen Welt im Jahre 2011 die von der Richtlinie 2003/9/EG zum Flüchtlingsschutz gewährleisteten materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht umgesetzt worden seien (S. 9 f. des Urteils). Eine definitive Aussage zu den Verhältnissen in Italien für den Zeitraum vor dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung enthält das angefochtene Urteil hingegen nicht (vgl. S. 11 des Urteils: "gegenwärtig nicht gewährleistet"). Auf der anderen Seite misst auch der 4. Senat seinem aufgrund einer summarischen Prüfung in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Beschluss keine in die weitere Zukunft gerichtete Aussagekraft zu. Die vom 4. Senat einerseits und dem Verwaltungsgericht andererseits aufgestellten Tatsachensätze beziehen sich vielmehr auf die tatsächlichen Verhältnisse zu unterschiedlichen, mehr als ein halbes Jahr auseinanderliegenden Zeitpunkten, was einer Divergenz entgegensteht (so ausdrücklich der 4. Senat des Nds. OVG in einem weiteren Beschluss vom 27. Mai 2013 - 4 LA 88/13 -).
Der von der Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) liegt ebenfalls nicht vor.
Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich wäre und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum die Frage im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.
Diese Anforderungen erfüllt die als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage nicht. Die Beklagte hat die Frage als klärungsbedürftig bezeichnet, "ob in Italien die Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) konformen Asylverfahrens zumindest für Personen, die keines besonderen Schutzes bedürfen, gewährleistet werden kann, insbesondere, ob Zugang zum Asylverfahren und Lebensunterhalt gesichert ist." Diese Frage wäre in dem von der Beklagten angestrebten Berufungsverfahren aber nicht entscheidungserheblich und verleiht der vorliegenden Rechtssache daher keine grundsätzliche Bedeutung.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 (C-411/10 und C-493/10, Rdnrn. 75 - 86) ausgeführt, dass eine Vermutung dafür bestehe, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass eine ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit deren Grundrechten unvereinbar sei. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 berühren würde. Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9/EG, 2004/83/EG oder 2005/85/EG genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Daher müsse die Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern, die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liege, als widerlegbar angesehen werden. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sei folglich dahingehend auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliege, einen Asylbewerber nicht an den "zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen "nicht unbekannt sein könne, dass die systematischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu sein".
Demzufolge ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt, sondern nur dann, wenn die vom Europäischen Gerichtshof herausgearbeiteten, oben wiedergegebenen Voraussetzungen vorliegen. Folglich wäre in dem von der Beklagten angestrebten Berufungsverfahren allein entscheidungserheblich, ob systematische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien bekannt sind und ob solche Mängel ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden. Dagegen bedürfte es keiner grundsätzlichen Klärung der von der Beklagten aufgeworfenen Frage, "ob in Italien die Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes konformen Asylverfahrens gewährleistet werden kann, insbesondere, ob Zugang zum Asylverfahren und Lebensunterhalt gesichert ist."
Der Unterschied zwischen diesen Fragestellungen ist nicht lediglich terminologischer Natur. Vielmehr steht mit der Frage des Überprüfungsmaßstabs der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet, auf dem Spiel (vgl. EuGH, Urt. v. 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, Rdnr. 83). An die Feststellung systematischer Mängel sind mithin hohe Anforderungen zu stellen. Deshalb kann von systematischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur bei strukturellen landesweiten Missständen ausgegangen werden, die eine individuelle und konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eines jeden einzelnen oder einer nennenswerten Anzahl von Asylbewerbern im Falle der Abschiebung nach Italien begründen und von den italienischen Behörden tatenlos hingenommen werden (vgl. VG Regensburg, Beschl. v. 29. Januar 2014 - RN 5 S 14.30057 -, [...], Rdnr. 27). Es ist demgegenüber nicht Aufgabe deutscher Verwaltungsgerichte, die Durchführung des Asylverfahrens und die Aufnahmebedingungen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union und die Einhaltung der dazu ergangenen Normen umfassend zu überprüfen. Vielmehr kann es in diesem Zusammenhang nur um eine Evidenzkontrolle gehen. Dies gebietet auch der Respekt vor dem verfassungsändernden Gesetzgeber, der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick auf das Asylgrundrecht zu sicheren Drittstaaten erklärt hat. Eine Ausnahme von dem dieser Regelung zugrundeliegenden Konzept normativer Vergewisserung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in den Fällen möglich, die von diesem Konzept nicht erfasst werden, wie es der Fall wäre, wenn der Drittstaat selbst zum Verfolgerstaat wird. Auch kann sich - in seltenen Ausnahmefällen - aus allgemein bekannten oder im Einzelfall offen zutage tretenden Umständen ergeben, dass der Drittstaat sich - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen eingegangenen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will (vgl. BVerfG, Urt. v. 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, [...], Rdnr. 189). Diese verfassungsrechtliche Anknüpfung belegt, dass der Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Sonderfällen vorbehalten bleiben muss, wie sie der Rechtsprechung des EuGH zu entnehmen sind. Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Drittstaat sowie damit einhergehende Verstöße gegen europarechtliche Normen reichen für eine Verpflichtung zum Selbsteintritt demnach nicht aus, sofern mit ihnen nicht konkret Gefahren einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verbunden sind.
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass er weiterhin nicht von systematischen Mängeln des Asylverfahrens in Italien und der dortigen Aufnahmebedingungen ausgeht, die zu einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nötigen. Insoweit kann zunächst auf die Ausführungen in dem Beschluss des Senats vom 2. Mai 2012 (- 13 MC 22/12 -, [...], Rdnr. 24) verwiesen werden. Die dort vertretene Auffassung ist auch nicht durch neuere Erkenntnisse überholt. Insbesondere das in erster Instanz eingeholte Gutachten der Flüchtlingsorganisation borderline-europe von Frau B. vom Dezember 2012 rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise.
Dieses Gutachten beschäftigt sich in erster Linie mit den Aufnahmebedingungen, der Sicherung des Lebensunterhaltes und der Gesundheitsfürsorge der Asylsuchenden in Italien. Die sich aus dieser Stellungnahme ergebenden Mängel bei der Unterbringung und der Gesundheitsversorgung stellen keine strukturellen landesweiten Schwächen dar, die von den italienischen Behörden tatenlos hingenommen werden. Das Gutachten beschreibt nach dem Eindruck des Senats nur schlaglichtartig die vorgefundenen Probleme, ohne die Anstrengungen der italienischen Behörden zu deren Beseitigung angemessen zu würdigen. Als "Augenblicksaufnahme" ist es zwischenzeitlich von der weiteren Entwicklung bereits wieder überholt. So hat der EGMR in seinem Beschluss vom 2. April 2013 (Nr. 27725/10, C. u.a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, 336) unter Berücksichtigung der Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen und -organisationen über die Aufnahmeprogramme für Asylbewerber in Italien festgestellt, dass die allgemeine Situation und die Lebensbedingungen in Italien für Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Ausländer, die aus Gründen des internationalen Schutzes oder zu humanitären Zwecken eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, einige Mängel aufweisen mögen, die vorliegenden Materialien jedoch kein systemisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Asylbewerber als Mitglieder einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe aufzeigten. Berichte des UNHCR und des Menschenrechtskommissars wiesen auf jüngste Verbesserungen der Situation mit dem Ziel der Mängelbeseitigung hin. Alle Berichte zeigten übereinstimmend und ausführlich die Existenz ausgearbeiteter Strukturen von Einrichtungen und Hilfsmaßnahmen, die auf die Bedürfnisse der Asylbewerber zugeschnitten seien. Diese Entscheidung hat der EGMR in der Folgezeit mehrfach (vgl. etwa den Beschluss vom 18. Juni 2013, Nr. 53852/11, D. gegen Österreich und Italien, ZAR 2013, 338) bestätigt und damit nicht auf die jeden Zielstaat einer Masseneinwanderung zunächst treffende kurzfristige Überforderungssituation, sondern auf die längerfristige Herangehensweise zur Lösung der Probleme abgestellt. Angesichts der Leitfunktion, die der EGMR bei der Auslegung der EMRK über den entschiedenen Fall hinaus insbesondere bei der Auslegung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einnimmt (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 18. August 2013 - 2 BvR 1380/08 -, [...]; BVerwG, Beschl. v. 20. Dezember 2013 - 2 B 44.12 -, [...], Rdnr. 5; vgl. auch Art. 52 Abs. 3 der Charta), - Art. 3 der EMRK ist regelungsgleich mit Art. 4 der Charta - müssten für eine gegenteilige Annahme systematischer Mängel des italienischen Asylverfahrens und der dortigen Aufnahmebedingungen erhebliche neuere Erkenntnisse sprechen, die nicht lediglich eine kurzfristige Krisensituation widerspiegeln. Derartige Erkenntnisse liegen indes nicht vor. Der Überweisung des Verfahrens E. gegen die Schweiz und Italien (Nr. 29217/12) an die Große Kammer des EGMR und der dortigen Verhandlung vom 12. Februar 2014 lassen sich gegenwärtig keine abweichenden Gesichtspunkte entnehmen. Auch die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" sieht bislang keinen Anlass zum Eingreifen. Obgleich sich die EU-Innenkommissarin F. am 18. Dezember 2013 besorgt über die Situation der Flüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa zeigte und erklärte, die Kommission werde sich nicht scheuen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien wegen der dortigen Situation der Flüchtlinge und Asylbewerber einzuleiten, hat die Kommission bislang davon abgesehen. Eine Empfehlung des UNHCR, Asylsuchende nicht nach Italien zu überstellen, liegt ebenfalls weiterhin nicht vor. Trotz zahlreicher abgelehnter einstweiliger Rechtsschutzverfahren hat auch das Bundesverfassungsgericht bislang keinen Anlass gesehen, der Abschiebung eines Flüchtlings nach Italien entgegenzutreten. Angesichts der beschriebenen hohen Hürden für eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist die Annahme einer derartigen, in die Zuständigkeitsordnung des Europäischen Asylsystems eingreifende Verpflichtung derzeit nicht zu rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).