Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.03.2014, Az.: 4 LC 45/12

Notwendigkeit einer Antragstellung vor Übernahmezeitraum bzgl. Kostenübernahme für Kindertagesstätte

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.03.2014
Aktenzeichen
4 LC 45/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 11808
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0306.4LC45.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 12.01.2012 - AZ: 2 A 189/11

Fundstellen

  • DÖV 2014, 539
  • JAmt 2014, 330-331
  • ZKJ 2014, 211-214
  • ZfSH/SGB 2014, 349-353

Amtlicher Leitsatz

Die Übernahme von Kostenbeiträgen für den Besuch einer Kindertagesstätte nach § 90 Abs. 3 SGB VIII setzt nicht voraus, dass der Antrag vor Beginn des Übernahmezeitraums gestellt worden ist.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 12. Januar 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt die Übernahme von Elternbeiträgen für die Betreuung ihrer Tochter in einer Kindertagesstätte für die Zeit von Oktober 2010 bis Mai 2011.

Die Klägerin ist erwerbsunfähig und steht unter Betreuung. Zur Deckung des Lebensunterhalts stehen der Klägerin und ihrer am 10. Oktober 2009 geborenen Tochter Leistungen nach dem SGB XII, Unterhaltsvorschussleistungen sowie Kindergeld zur Verfügung. Die Tochter besucht seit dem 1. Oktober 2010 bis zu 8 Stunden täglich die vom Kinderhaus e.V. getragene Kindertagesstätte im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Der hierfür zu zahlende Teilnahmebeitrag beträgt monatlich 174 EUR zuzüglich eines Verpflegungsgeldes in Höhe von 47 EUR (bis Juli 2011) bzw. 50 EUR (ab August 2011).

Der Trägerverein erkundigte sich mit Schreiben vom 31. Mai 2011 nach dem Stand der Bearbeitung des Antrags auf Übernahme der Teilnahmebeiträge für den Besuch der Kindertagesstätte durch die Tochter der Klägerin seit dem 1. Oktober 2010. Nachdem die Beklagte dem Verein mit E-Mail vom 6. Juni 2011 mitgeteilt hatte, dass ein solcher Antrag bislang nicht vorliege, stellte die Klägerin bei der Beklagten am 15. Juni 2011 einen Antrag auf Übernahme der Kosten. Daraufhin übernahm die Beklagte mit Bescheid vom 4. Juli 2011 unter Berücksichtigung einer häuslichen Ersparnis in Höhe von 20 EUR monatlich für die Betreuung der Tochter der Klägerin in der Kindertagessstätte ab Juni 2011 einen Betrag in Höhe von monatlich 201 EUR. Mit Schreiben vom 19. Juli 2011 monierte die Klägerin bei der Beklagten, dass die Kosten für die Zeit von Oktober 2010 bis Mai 2011 nicht übernommen worden seien.

Die Klägerin beantragte am 5. August 2011 die Gewährung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage auf Übernahme des Teilnahmebeitrags für die Zeit von Oktober 2010 bis Mai 2011 unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 4. Juli 2011. Zur Begründung trug sie u.a. vor, durch den Trägerverein dahingehend informiert worden zu sein, dass auch für die Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 ein Antrag auf Übernahme der Teilnahmebeiträge gestellt worden sei. Das Verwaltungsgericht bewilligte der Klägerin mit Beschluss vom 6. Oktober 2011 unter Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Juli 2010 (AN 14 K 10.00133) für eine noch zu erhebende Klage Prozesskostenhilfe.

Die Klägerin hat daraufhin am 12. Oktober 2011 Klage erhoben und hinsichtlich der versäumten Klagefrist einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.

Die Klägerin hat wortwörtlich beantragt,

in Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 04.7.11 der Klägerin Förderung des Aufenthaltes ihrer Tochter in der Kindertagesstätte Kinderhaus e.V. für die Zeit vom 01.10.10 - 31.04.11 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat darauf hingewiesen, dass es hier im Unterschied zu dem Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Juli 2010, dem ein Wiederholungsantrag zugrunde gelegen habe, um die erstmalige Übernahme der Teilnahmebeiträge gehe. Diese setze einen vorherigen Antrag voraus. Die Klägerin begehre dagegen die nachträgliche Erstattung der Teilnahmebeiträge. Eine solche sehe § 90 Abs. 3 SGB VIII jedoch nicht vor. Es seien an einen Antrag im Kinder- und Jugendhilferecht zwar keine strengen formalen Anforderungen zu stellen, doch setze er wenigstens ein Bekanntwerden des Sachverhalts voraus. Auch sei fraglich, ob die nachträgliche Erstattung der Teilnahmebeiträge dem Sinn und Zweck des § 90 Abs. 3 SGB VIII entspreche. Denn sofern die Eltern die Teilnahmebeiträge bereits aus eigenen Mitteln gezahlt hätten, bedürfe es einer entsprechenden Förderung nicht mehr.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 12. Januar 2012 verpflichtet, die Elternbeiträge für den Besuch der vom Kinderhaus e.V. getragenen Kindertagesstätte in der C. -Straße in Göttingen durch die Tochter der Klägerin für die Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 in Höhe von jeweils 201,00 € zu übernehmen, und den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2011 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht Folgendes ausgeführt:

"Der Klageantrag ist bei verständiger Würdigung dahingehend auszulegen, dass mit der Klage die Übernahme der Teilnahmebeiträge für die Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 begehrt wird. Der Wortlaut des schriftsätzlich gestellten Klageantrags, der den Leistungszeitraum auf den "31. April 2011" begrenzt, steht dem nicht entgegen. Denn das Gericht ist nach § 88 VwGO an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Maßgeblich ist vielmehr das erkennbare Rechtsschutzziel, welches sich vorliegend auf die Übernahme der Teilnahmebeiträge für den genannten Zeitraum erstreckt. Dies folgt zum einen daraus, dass es den 31. April 2011 kalendarisch überhaupt nicht gibt und damit augenscheinlich auch nicht gemeint sein kann. Zum anderen hat die Klägerin im isolierten Prozesskostenhilfeverfahren zum Ausdruck gebracht, es gehe ihr um die Übernahme der Beiträge für den Zeitraum Oktober 2010 bis Mai 2011. Die so verstandene Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig. Der Zulässigkeit steht insbesondre nicht die Versäumung der Klagefrist entgegen. Der Klägerin war auf ihren Antrag Wiedereinsetzung in die einmonatige Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO zu gewähren. Denn die Klägerin hat innerhalb der Klagefrist einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Klage gestellt. Nach der Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses vom 06. Oktober 2011 hat sie innerhalb der Zwei-Wochenfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO 12. Oktober 2011 ihre Klage erhoben und damit die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (vgl. § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Klägerin war zudem ohne ihr Verschulden an der fristgerechten Klageerhebung verhindert, denn sie ist bedürftig im Sinne der §§ 114 ff. ZPO. Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Teilnahmebeiträge für den Kindergartenbesuch ihrer Tochter D. auch in den Monaten Oktober 2010 bis Mai 2011. Der Bescheid des Beklagten vom 04. Juli 2011 ist rechtswidrig, soweit er diese Leistung konkludent ablehnt (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 90 Abs. 3 SGB VIII. Hiernach soll in den Fällen der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (Abs. 1 Nr. 3) der Teilnahmebeitrag oder der Kostenbeitrag auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern nicht zuzumuten ist. Für die Feststellung der zumutbaren Belastung gelten gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII die §§ 82 bis 85, 87, 88 und 92 a SGB XII entsprechend, soweit Landesrecht keine andere Regelung trifft. Die Beteiligten sind sich - zu Recht - darüber einig, dass im Falle der Klägerin die Voraussetzungen für die Übernahme der Teilnahmebeiträge grundsätzlich erfüllt sind. Sie streiten allein um die Frage, ob die Klägerin aufgrund ihres Antrags vom 15. Juni 2011 auch einen Anspruch auf Übernahme der Teilnahmebeiträge für die bei Antragstellung bereits in der Vergangenheit liegenden Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 hat. Diese Frage ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts zu bejahen. Denn die Übernahme von Teilnahmebeiträgen für den Besuch eines Kindergartens setzt zwar einen Antrag voraus; dieser muss jedoch nicht zeitlich vor dem Beginn des Übernahmezeitraums gestellt werden. Das VG Ansbach hat in seinem Urteil vom 15. Juli 2010 (AN 14 K 10.00133, zitiert nach [...]) zu dem Antragserfordernis im Rahmen eines Anspruchs nach § 90 Abs. 3 SGB VIII ausgeführt: "... Ein Rechtsanspruch nach § 90 Abs. 3 SGB VIII erfordert somit zwar einen Antrag, aber der Antrag nach § 90 Abs. 3 SGB VIII ist - entgegen der von der Beklagten und der Widerspruchsbehörde vertretenen Ansicht - keine materiell-rechtliche Voraussetzung, sondern stellt lediglich ein formelles Erfordernis dar ... Gegen das Erfordernis eines Antrags als materiell-rechtliche Voraussetzung spricht bereits der Wortlaut des § 90 Abs. 3 SGB VIII ... Die von der Beklagten angeführte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ebenfalls kein Argument für das Erfordernis eines Antrags als materiell-rechtliche Voraussetzung für die Leistungserbringung nach § 90 Abs. 3 SGB VIII ... Das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiell-rechtliche Voraussetzung kann auch nicht aus der Regelung des § 28 Satz 2 SGB X hergeleitet werden. ..." Das erkennende Gericht schließt sich diesen überzeugenden Ausführungen an. Daher kann die Beklagte dem Klagebegehren nicht mit Erfolg eine verspätete Antragstellung entgegen halten. Die von der Beklagten angeführten Gegenargumente vermögen ein anderes Ergebnis nicht zu rechtfertigen. Das VG Ansbach hat insbesondere nicht entschieden, dass eine rückwirkende Übernahme der Teilnahmebeiträge nur bei Wiederholungsanträgen möglich sei. Es hat lediglich ausgeführt, eine rückwirkende Übernahme könne insbesondere bei Vorliegen eines Wiederholungsantrags beansprucht werden. Hieraus kann nicht geschlossen werden, dass das VG Ansbach bei Vorliegen eines Erstantrags anders entschieden hätte. Hierfür gäbe es aus Sicht des erkennenden Gerichts auch keinen sachlichen Grund. Zudem geht es der Klägerin auch nicht um die Erstattung bereits gezahlter Teilnahmebeiträge. Aus den Verwaltungsvorgängen ergibt sich nämlich, dass die Beiträge für die Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 noch offen sind. Damit steht der Gesetzeswortlaut dem Begehren der Klägerin zweifelsfrei nicht entgegen. Umstände, die den Fall als atypisch erscheinen ließen, werden von der Beklagten nicht vorgetragen und sind auch ansonsten nicht erkennbar. Daher bedeutet das "Soll" in § 90 Abs. 3 SGB VIII hier ein "Muss" mit der Folge, dass der Klage in vollem Umfang stattzugeben ist. Der monatliche Erstattungsbetrag errechnet sich wie folgt: Kindergartenbeitrag 174,00 € zzgl. Verpflegungsgeld 47,00 € abzgl. häusliche Ersparnis 20,00 € = Summe 201,00 €."

Gegen dieses der Beklagten am 26. Januar 2012 zugestellte Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene und am 13. Februar 2012 eingelegte Berufung der Beklagten, zu deren Begründung sie vorträgt, der Anspruch auf Übernahme des Kostenbeitrags für den Besuch einer Kindertagesstätte setze die Stellung eines vorherigen Antrags voraus. Dies könne nicht mit der Begründung verneint werden, dass es hier nicht um eine Kinder- und Jugendhilfeleistung im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII, sondern um eine anderweitige Leistung gehe. Man könne darüber streiten, ob gegebenenfalls dem Landesrecht ein eigenständiger Leistungsbegriff zu Grunde liege, etwa betreffend die Kindertagesstättengebühren bzw. die Entgeltfreiheit im dritten Kindergartenjahr. Im Rahmen des SGB VIII sei jedoch von einem einheitlichen Begriff auszugehen. Gehörten bereits die Leistungen der Kinderbetreuung zu den Leistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, verhalte es sich entsprechend mit den Annexregeln des Kostenbeteiligungsrechts.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin, der der Senat mit Beschluss vom 28. Februar 2012 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten bewilligt hat, hat keinen Antrag gestellt und zur Berufung der Beklagten auch nicht Stellung genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

II.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.

Diese Entscheidung trifft der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren nicht als erforderlich ansieht.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klägerin einen Anspruch auf Übernahme der Elternbeiträge für die Betreuung ihrer Tochter in der Kindertagesstätte gemäß § 90 Abs. 3 SGB VIII auch für die Monate Oktober 2010 bis Mai 2011 hat und diesem Anspruch nicht entgegensteht, dass die Klägerin den gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erforderlichen Antrag erst nach dem Ablauf dieses Zeitraums mit Schreiben vom 15. Juni 2011 ergänzt hinsichtlich des hier relevanten Zeitraums durch Schreiben vom 19. Juli 2011 bei der Beklagten gestellt hat. Die Gewährung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe setzt zwar unabhängig davon, ob bereits der Wortlaut der jeweiligen jugendhilferechtlichen Bestimmung eine vorherige Antragstellung erfordert, grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraus (BVerwG, Beschluss vom 17.2.2011 - 5 B 43.10 -, JAmt 2011, 274, Urteil vom 21.6.2001 - 5 C 6.00-, NJW 2002, 232, und Urteil vom 28.9.2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98; ferner Senatsbeschluss vom 2.8.2013 - 4 LA 112/12 -). Die dafür maßgeblichen Erwägungen, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht bloßer Kostenträger, sondern zugleich Leistungsträger ist und es seiner Gesamt- und Planungsverantwortung hinsichtlich der Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben nicht entsprechen würde, wenn er nicht von Anfang an in die Hilfesuche und Hilfeplanung einbezogen wird, greifen jedoch im vorliegenden Fall der Übernahme des Kostenbeitrags gemäß § 90 Abs. 3 SGB VIII nicht.

Das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung kann dem Wortlaut des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht entnommen werden. Das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt hat in seinem Urteil vom 20. Februar 2013 (3 L 339/11) hierzu zutreffend festgestellt:

"Die Übernahme von Teilnahmebeiträgen wie z. B. Elternbeiträgen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe setzt nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII einen entsprechenden Antrag des Anspruchsberechtigten voraus ("auf Antrag"). Mit dieser Regelung hat sich der Gesetzgeber gegen eine antragsunabhängige, schon aufgrund der Kenntnis der Behörde von den rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs (wie etwa im früheren § 5 BSHG) einsetzende Übernahmeverpflichtung entschieden. Bereits der Wortlaut der Vorschrift zwingt allerdings nicht zur Auslegung, dass der Antrag vor dem Beginn des Übernahmezeitraums gestellt werden muss. Der Wortlaut der Regelung zwingt nicht zu der Annahme, dass das Antragserfordernis im Sinne des § 90 Abs. 3 SGB VIII als materiell-rechtliche Voraussetzung für die Leistungserbringung zu verstehen ist. Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Gesetzgeber in einer Reihe von sozialen Leistungsgesetzen geregelt hat, dass der Antrag nicht nur formell-rechtliche Bedeutung im Sinne des bloßen Auslösers eines förmlichen Verwaltungsverfahrens hat, sondern auch materiellrechtliche Bedeutung als Anspruchsvoraussetzung besitzt. Der Gesetzgeber hat in diesen Gesetzen das Entstehen eines materiellen sozialrechtlichen Anspruchs ausdrücklich von der Antragstellung selbst und den Umfang des Anspruchs vom Zeitpunkt der Antragstellung abhängig gemacht (vgl. z. B. § 15 Abs. 1 BAföG, § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB XI, § 4 UVG). Er hat in diesen Regelungen zugleich auch bestimmt, ob eine Leistungsgewährung auch für einen Zeitraum vor Antragstellung zulässig ist (z. B. § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG) oder ob eine gesetzliche geregelte Antragsfrist zugleich auch eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist darstellt (z. B. § 25 Abs. 2 Satz 1 WoGG). Dem Wortlaut des § 90 Abs. 3 SGB VIII ist hingegen nicht zu entnehmen, dass dort das Antragserfordernis als materiellrechtliche Voraussetzung der Leistungsgewährung ausgestaltet worden ist, da die Übernahme der Elternbeiträge nicht "ab" Antragstellung, sondern lediglich "auf" Antrag des Berechtigten erfolgt. Der Wortlaut der Vorschrift lässt daher auch ein Verständnis des Antragserfordernisses als bloße formelle Leistungsvoraussetzung zu, wie dies im sozialen Leistungsrecht regelmäßig der Fall ist (vgl. Mrozynski, SGB I, § 40 Rdnr. 10 m. w. N.)."

Auch aus den Besonderheiten des Kinder- und Jugendhilferechts, die regelmäßig das Erfordernis einer Antragstellung vor Beginn des Hilfezeitraums begründen, kann hier nicht hergeleitet werden, dass der Antrag auf Übernahme des Kostenbeitrags vor dem Beginn des Übernahmezeitraums gestellt werden muss. Das Oberverwaltungsgericht Sachsen Anhalt hat (u. a.) hierzu in dem genannten Urteil vom 20. Februar 2013 weiter ausgeführt:

"Andererseits gebietet die Regelung des § 40 Abs. 1 SGB I nicht, dass bei Fehlen eines ausdrücklichen gesetzlich geregelten Antragserfordernisses als rechtswahrender materiellrechtlicher Anspruchsvoraussetzung, eine Regelung über eine Antragstellung stets als bloßes formelles Erfordernis anzusehen ist. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass für die Frage, ob der Beklagte als Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten im Sinne des § 90 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII auch dann übernehmen muss, wenn die die Kosten verursachende Maßnahme - hier der Besuch der Kindertageseinrichtung - durchgeführt wurde, bevor der Hilfebedarf (durch einen Antrag) an ihn herangetragen worden ist, sich nach den allgemeinen Regeln des Sozialleistungsrechts in Verbindung mit den Besonderheiten des Leistungsrechts des Achten Buches Sozialgesetzbuch richtet (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000 - 5 C 29.99 -, [...] und Beschl. v. 22.05.2008 - 5 B 130.07 -, [...]). Das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiellrechtliche Voraussetzung kann entgegen der Auffassung des Beklagten nicht aus § 28 Satz 2 SGB X hergeleitet werden (so auch Sächsisches OVG, Urt. v. 21.12.2006 - 5 B 904/04 -, [...]). Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine für das Sozialrecht allgemein geltende verfahrensrechtliche Regelung, die zeigt, dass der Gesetzgeber im Grundsatz davon ausgeht, dass Sozialleistungen einen "rechtzeitigen Antrag", also eine Antragstellung voraussetzen, die nicht auf eine nachträgliche Kostenübernahme gerichtet ist, sondern dem Leistungsträger eine zeit- und bedarfsgerechte Leistungserbringung nach ordnungsgemäßer Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen ermöglichen. Die Frage der Rechtzeitigkeit eines Antrags bestimmt sich jedoch maßgeblich nach den Besonderheiten des jeweiligen Sozialleistungsrechts (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000, a. a. O.). Für die Eingliederungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 35 f. SGB VIII hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass sich das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung gegenüber dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe mittelbar aus dem Regelwerk des Gesetzes und vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung ergibt. Es entspricht nicht der Aufgabe des Jugendhilfeträgers, (nur) Kostenträger und nicht zugleich Leistungsträger zu sein. Das auf der Grundlage des Achten Buches Sozialgesetzbuch bereit gehaltene Instrumentarium ist ein an den unterschiedlichen Lebenslagen von Familien orientiertes System von beratenden und unterstützenden Leistungen. Mit dem jugendhilferechtlichen Ziel partnerschaftlicher Hilfe unter Achtung familialer Autonomie und dem kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Jugendhilfe wäre es unvereinbar, wenn sich die Funktion des Jugendamtes auf die eines bloßen Kostenträgers beschränkte, der erst nachträglich nach Durchführung einer selbst beschafften Hilfemaßnahme in die kostenmäßige Abwicklung des Hilfefalles eingeschaltet wird. Diese Eigenart des Jugendhilferechts schließe es demgemäß für Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 SGB VIII aus, dass (öffentliche) Jugendhilfe - wie die Sozialhilfe nach § 5 BSHG - antragsunabhängig einsetzt; der Träger der öffentlichen Jugendhilfe müsse für die Kosten der von Dritten durchgeführten Hilfemaßnahmen nur aufkommen, wenn der Hilfebedarf rechtzeitig an ihn herangetragen worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000, a. a. O.). Diesen Ansatz hat der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 36a SGB VIII durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz - KICK - v. 08.09.2005, BGBl. I S. 2729) aufgenommen und vertieft. Nach dieser Vorschrift trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Der Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers entspricht, nur "Zahlstelle" und nicht Leistungsträger zu sein. Nur wenn die Eltern bzw. der Hilfeempfänger grundsätzlich den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess einbeziehen, kann er seine aus § 36a Abs. 1, § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung wahrnehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 - 5 C 21.11 -, [...]). Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass diese auch vom Bundesverwaltungsgericht zur Begründung seiner Auffassung über eine vor Beginn der Hilfegewährung erforderliche Antragstellung im Kinder- und Jugendhilferecht herangezogenen Überlegungen im vorliegenden Fall das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiellrechtliche Voraussetzung für die begehrte Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010 nicht begründen kann. .... Gibt das Gesetz dem Kind einen Anspruch auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung, so besteht auch unter dem Gesichtspunkt einer Übernahme der Teilnahmebeiträge durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe keine Notwendigkeit, diesen von Anfang an in die Hilfesuche des Leistungsberechtigten einzubeziehen. Die Übernahme des Elternbeitrages spielt für die Frage der Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe in Gestalt der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen bei entsprechendem Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens (§ 2 Abs. 2 Nr. 3, § 24 Satz 1 SGB VIII keine Rolle. Der Anspruch auf Besuch einer Kindertageseinrichtung besteht unabhängig von einer Entscheidung über die Übernahme von Teilnahmebeiträgen. Eine Hilfesuche in dem vom Bundesverwaltungsgericht verstandenen Sinne im Kinder- und Jugendhilferecht findet hier gerade nicht statt. Die aus §§ 36a, 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und dessen Planungsverantwortung wird im Falle eines Anspruchs auf den Besuch einer ohne Mitwirkung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe vom Leistungsberechtigten bzw. dessen Sorgeberechtigten bestimmten Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe nicht berührt. Hier reduziert sich ausnahmsweise die Aufgabe des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe auf eine Kostenträgereigenschaft (so auch SächsOVG, Urt. v. 21.12.2006, a. a. O.; a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 14.03.2006 - 6 M 6.06 -)."

Der Senat schließt sich dieser Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt, die auch vom Oberverwaltungsgericht Bremen (Urteil vom 23.1.2013 - 2 A 288/10 -) und vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht (Urteil vom 21.12.2006 - 5 B 904/04 -) geteilt wird (a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.3.2006 - OVG 6 M 6.06 -, jedoch ohne Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des § 90 Abs. 3 SGB VIII), an. Allerdings ist hinsichtlich deren Begründung die Frage, ob das betreffende Kind einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung nach § 24 SGB VIII hat, für die nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ein Kostenbeitrag erhoben wird, dessen Übernahme gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII begehrt wird, zu unterscheiden von der Frage, ob die Voraussetzungen für die beantragte Übernahme des Kostenbeitrags nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfüllt sind. Denn unabhängig von der Frage, ob ein (zwingender) Anspruch auf Förderung in der von dem Kind besuchten Tageseinrichtung nach § 24 SGB VIII besteht, setzt der Anspruch nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII lediglich voraus, dass tatsächlich ein Kostenbeitrag für die Förderung des Kindes in einer Tageseinrichtung (oder in der Kindertagespflege) erhoben wird bzw. erhoben worden ist und die Belastung mit diesem Kostenbeitrag den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Die demnach hier allein zu prüfende Frage der Zumutbarkeit der Belastung mit dem Kostenbeitrag erfordert jedoch gerade keine vorherige Befassung des Jugendhilfeträgers mit der Sache. Insoweit ist auch weder eine Hilfeplanung erforderlich noch ist die Gesamt- und Planungsverantwortung des Jugendhilfeträgers hinsichtlich der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben berührt, wenn der Antrag nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erst nach Beginn des Besuchs der Tageseinrichtung bzw. des Übernahmezeitraums gestellt wird. Deshalb kann die Übernahme des Kostenbeitrags für den Besuch einer Kindertagesstätte bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, die hier nach den zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, gegeben sind, auch rückwirkend beansprucht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.