Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.04.2014, Az.: 13 LA 22/14

Klärungsbedürftigkeit der Frage des Aufweisens von systemischen Mängeln des Asylverfahrens in einem bestimmten Mitgliedstaat

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.04.2014
Aktenzeichen
13 LA 22/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 14572
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0401.13LA22.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 30.12.2013 - AZ: 3 A 6387/13

Amtlicher Leitsatz

Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Frage, ob das Asylverfahren entgegen der Annahme des erstinstanzlichen Gerichts in einem bestimmten Mitgliedstaat systemische Mängel aufweist, reicht es nicht aus, allein die Möglichkeit einzelner Regelverstöße oder Mängel des Asylverfahrens aufzuzeigen.

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 3. Kammer (Einzelrichterin) - vom 30. Dezember 2013 wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Prozesskostenhilfeantrag ist nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen, weil der Zulassungsantrag aus den nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Nach § 78 Abs. 3 AsylVfG ist in asylrechtlichen Streitigkeiten die Berufung nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das Urteil von einer Entscheidung der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG aufgeführten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt. Nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG sind in dem Zulassungsantrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Darlegung erfordert qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen.

Der von den Klägern geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt und liegt auch nicht vor.

Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich wäre und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum die Frage im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.

Die Kläger halten für grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob ... eine Rücküberstellung nach Polen wegen dort herrschender systemischer Mängel zu unterbleiben hat". Sie führen dazu aus: Das Verwaltungsgericht stütze seine Auffassung, dass systemische Mängel in Polen nicht vorlägen, auf eine Reihe - im Einzelnen zitierter - verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen. Das Verwaltungsgericht setze sich allerdings nicht mit der entgegengesetzten Meinung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (Beschl. v. 10.09.2013 - 5 L 652/13.WI.A -) und des Verwaltungsgerichts Meiningen (Beschl. v. 26.04.2013 - 8 E 20075/13 -) auseinander. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden nehme in seinem Eilbeschluss wiederum Bezug auf den Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker vom Januar 2011 hinsichtlich der Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Polen, in dem - zusammengefasst - die "harten" Aufnahmebedingungen in den Gewahrsamszentren und Abschiebeanstalten beschrieben würden. Der Bericht halte zudem fest, dass psychologische und psychiatrische Hilfe nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehe. Besonders mangelhaft sei die Behandlung von Asylsuchenden mit traumatischen Erfahrungen sowie von Neugeborenen, Säuglingen und Kindern. Unzureichend seien auch die Behandlung und die Vorbeugung von Infektionskrankheiten. Der Bericht komme weiter zu dem Ergebnis, dass die Wohnungssituation der Flüchtlinge in Polen dramatisch sei. Die Flüchtlinge seien mit der Knappheit der finanziellen Leistungen, die zur Verfügung stünden, sowie mit Feindlichkeit und Vorurteilen, die sie von der einheimischen Bevölkerung erlebten, konfrontiert. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden nehme im Übrigen darauf Bezug, dass der letzte Bericht des Auswärtigen Amtes vom Dezember 1999 stamme. Auch das Verwaltungsgericht Meiningen komme zu dem Ergebnis, dass ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen in Polen nicht den europaweit vereinbarten Mindeststandards entsprächen. Dies betreffe offenbar vor allem die Unterbringung, den sozialen Schutz und die medizinische Versorgung der Schutzsuchenden. Der Bericht der polnischen Association for Legal Intervention und der Helsinki Foundation for Human Rights mit dem Titel "Migration is Not a Crime" komme zu dem Ergebnis, dass Asylbewerber häufig inhaftiert würden, ohne dass Sicherheitsaspekte hierfür maßgeblich seien, und Kontrollen aller Körperöffnungen unterzogen würden. Es fänden nächtliche Raumdurchsuchungen in den Haftzentren statt, teilweise Morgenappelle und unangemeldetes Eintreten von Grenzschützern.

Dieser Vortrag rechtfertigt die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht. Die von den Klägern aufgeworfene Frage zielt jedenfalls auch auf eine Klärung der tatsächlichen Verhältnisse in Polen. Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt aber eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus (Berlit, in: GK-AsylVfG, § 78 Rdnr. 609). Des Weiteren muss substantiiert dargelegt werden, welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahe legen könnten (Nds. OVG, Beschl. v. 18.10.2013 - 8 LA 221/12 -, [...]; Beschl. v. 30.01.2013 - 9 LA 13/13 -, n. v.; Berlit, a. a. O., Rdnr. 611). Diesen Anforderungen wird der Vortrag der Kläger nicht gerecht. Sie beschränken sich im Wesentlichen darauf, der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zwei (Eil-)Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte entgegenzusetzen, die zudem die Klärung der aufgeworfenen Frage einer weiteren Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten haben. Zu den vom Verwaltungsgericht zitierten bzw. in Bezug genommenen Erkenntnismitteln (u.a. Berichte/Auskünfte des UNHCR, der Gesellschaft für bedrohte Völker, der Bundesregierung) verhält sich das Zulassungsvorbringen der Kläger nicht.

Auch soweit die Kläger im Einzelnen Ausführungen zu den in den stattgebenden Entscheidungen der genannten Verwaltungsgerichte benannten Erkenntnismitteln machen, ergeben sich daraus keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts systemische Mängel aufweisen könnte.

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 (- C-411/10 und C-493/10 -, Slg. 2011, I-13905, Rdnrn. 75 - 86) ausgeführt, dass eine Vermutung dafür bestehe, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention stehe. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass eine ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit deren Grundrechten unvereinbar sei. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 berühren würde. Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9/EG, 2004/83/EG oder 2005/85/EG genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Daher müsse die Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern, die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liege, als widerlegbar angesehen werden. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sei folglich dahingehend auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliege, einen Asylbewerber nicht an den "zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein könne, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.

Demzufolge ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt, sondern nur dann, wenn die vom Europäischen Gerichtshof herausgearbeiteten, oben wiedergegebenen Voraussetzungen vorliegen.

An die Feststellung systemischer Mängel sind mithin hohe Anforderungen zu stellen. Deshalb kann von systemischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur bei strukturellen landesweiten Missständen ausgegangen werden, die eine individuelle und konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eines jeden einzelnen oder einer nennenswerten Anzahl von Asylbewerbern im Falle der Abschiebung begründen und von den nationalen Behörden tatenlos hingenommen werden (so zu Italien: Beschl. d. Sen. v. 18.03.2014 - 13 LA 75/13 -, [...], m. w. N.). Es ist demgegenüber nicht Aufgabe deutscher Verwaltungsgerichte, die Durchführung des Asylverfahrens und die Aufnahmebedingungen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union und die Einhaltung der dazu ergangenen Normen umfassend zu überprüfen. Vielmehr kann es in diesem Zusammenhang nur um eine Evidenzkontrolle gehen. Dies gebietet auch der Respekt vor dem verfassungsändernden Gesetzgeber, der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick auf das Asylgrundrecht zu sicheren Drittstaaten erklärt hat. Eine Ausnahme von dem dieser Regelung zugrundeliegenden Konzept normativer Vergewisserung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in den Fällen möglich, die von diesem Konzept nicht erfasst werden, wie es der Fall wäre, wenn der Drittstaat selbst zum Verfolgerstaat wird. Auch kann sich - in seltenen Ausnahmefällen - aus allgemein bekannten oder im Einzelfall offen zutage tretenden Umständen ergeben, dass der Drittstaat sich - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen eingegangenen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, [...], Rdnr. 189). Diese verfassungsrechtliche Anknüpfung belegt, dass der Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Sonderfällen vorbehalten bleiben muss, wie sie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entnehmen sind. Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Drittstaat sowie damit einhergehende Verstöße gegen europarechtliche Normen reichen für eine Verpflichtung zum Selbsteintritt demnach nicht aus, sofern mit ihnen nicht konkret Gefahren einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verbunden sind.

Daraus ergeben sich zugleich die Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in einem bestimmten Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen. Ein Zulassungsantragsteller kann sich nicht darauf beschränken, allein die Möglichkeit einzelner Regelverstöße aufzuzeigen. Das Vorbringen und die benannten Erkenntnisquellen müssen zudem erkennen lassen, dass auch die hohen Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in dem betroffenen Mitgliedstaat erfüllt sein könnten. Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen der Kläger nicht gerecht. Weder legen die bezeichneten Probleme und möglichen Unzulänglichkeiten des Asylverfahrens und der Aufnahmeeinrichtungen in Polen die Annahme struktureller landesweiter Missstände nahe, noch ergibt sich aus dem Vorbringen der Kläger auch nur ansatzweise, dass die von ihnen benannten Mängel von den polnischen Behörden tatenlos hingenommen würden. Vorliegend kommt noch hinzu, dass sich die Kläger nicht einmal mit den von ihnen selbst benannten Erkenntnisquellen in dem gebotenen Umfang inhaltlich auseinandergesetzt haben. So zeichnet insbesondere der genannte Bericht der Helsinki Stiftung "Migration is Not a Crime", wie das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Auskunft der Bundesregierung vom 25. September 2013 (Drucksache 17/14795, S. 6 f.) bereits ausgeführt hat, ein deutlich differenzierteres Bild von der Situation der Asylbewerber in den "guarded centres für foreigners" in Polen als die Kläger in ihren Ausführungen zur Begründung ihres Zulassungsantrags.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).