Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.08.2017, Az.: 13 ME 213/17

Aussetzung der Abschiebung; Verfahrensduldung; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.08.2017
Aktenzeichen
13 ME 213/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54125
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 19.07.2017 - AZ: 7 B 16/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Allein daraus, dass der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht und diesen im Bundesgebiet durchsetzen will, folgt grundsätzlich kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, dem durch Aussetzung der Abschiebung für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens Rechnung zu tragen ist.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 7. Kammer - vom 19. Juli 2017 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 19. Juli 2017, mit dem dieses die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt hat, bleibt ohne Erfolg.

Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt wird. Eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne dieser Bestimmung liegt vor, wenn sich etwa aus unmittelbar anwendbarem Unionsrecht, innerstaatlichem Verfassungsrecht oder einfachem Gesetzesrecht sowie in innerstaatliches Recht inkorporiertem Völker- und Völkervertragsrecht ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ergibt (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 19.3.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 41; GK-AufenthG, § 60a Rn. 126 f. (Stand: März 2015) mit weiteren Nachweisen). Allein daraus, dass der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht und diesen im Bundesgebiet durchsetzen will, folgt hiernach grundsätzlich kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, dem durch Aussetzung der Abschiebung für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens Rechnung zu tragen ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 11.1.2016 - 17 B 890/15 -, juris Rn. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 24.2.2010 - 2 M 2/10 -, juris Rn. 7; OVG Bremen, Beschl. v. 27.10.2009 - 1 B 224/09 -, juris Rn. 16; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., Rn. 1241). Ein verfahrensbezogenes Bleiberecht in Form einer Erlaubnis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion hat der Bundesgesetzgeber vielmehr nur für die in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG genannten Fälle bestimmt. Dem in diesen Regelungen zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Anliegen und auch der Gesetzessystematik widerspräche es, wenn ein Ausländer für die Dauer eines jeden (anderen) Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens die Aussetzung der Abschiebung beanspruchen könnte. Eine Ausnahme kann zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG aber etwa dann geboten sein, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann (vgl. dies bejahend etwa für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG: OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.10.2009 - 2 M 142/09 -, juris Rn. 8; Senatsbeschl. v. 11.8.2008 - 13 ME 128/08 -, juris Rn. 4; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 12.2.2008 - 18 B 230/08 -, juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.4.2008 - 11 S 100/08 -, juris Rn. 2). Dazu gehört die hier von der Antragstellerin begehrte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG indes nicht.

Auch der grundgesetzliche und konventionsrechtliche Schutz von Ehe und Familie begründet im vorliegenden Fall kein rechtliches Abschiebungshindernis. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1, 42). Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - 1 C 9.95 - , BVerwGE 105, 35, 39 f.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.5.2009 - 11 ME 110/09 -, juris Rn. 10 m. w. N.). Eine derartige Sondersituation, die sich im Einzelfall etwa aus dem Vorhandensein kleiner Kinder oder pflegebedürftiger Personen ergeben kann, ist im vorliegenden Fall indes nicht erkennbar. Allein der Umstand, dass die Klägerin möglicherweise eine vorübergehende Trennung von ihrem Ehemann für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen muss, steht auch bei Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.1.2011 - 1 C 23.09 -, juris Rn. 34).

Auch die bislang fehlenden Deutschkenntnisse der Antragstellerin führen nicht zu einer unzumutbar langen Trennung von ihrem Ehemann. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG getroffene Regelung zum Spracherfordernis auf den Ehegattennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG nur entsprechend anzuwenden ist. Die verfassungskonforme Auslegung des § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG gebietet es, von diesem Erfordernis vor der Einreise abzusehen, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sind (vgl. BVerwG. Urt. v. 4.9.2012 - 10 C 12.12 -, juris Rn. 25 ff.). Über diese Frage ist jedoch erst in dem nach der Ausreise von der Antragstellerin durchzuführenden Visumverfahren zu entscheiden. Darüber hinaus hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren eine Bescheinigung vorgelegt, der zufolge sie sich für den 1. September 2017 zu einer Deutschprüfung für ein Zertifikat A1 angemeldet hat. Es spricht mithin vieles dafür, dass sie bei der Beantragung eines Visums nach ihrer Ausreise die erforderlichen Deutschkenntnisse wird nachweisen können. Aus einem möglichen Anspruch auf Absehen vom Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse folgt aber ebenso wenig wie aus einer möglichen nachträglichen Erfüllung dieser Voraussetzung, dass die Antragstellerin berechtigt war, zum Zwecke der Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft ohne das erforderliche nationale Visum nach Deutschland einzureisen. Das Festhalten an der Durchführung eines Visumverfahrens ist im Interesse einer kontrollierten Zuwanderung ins Bundesgebiet entgegen der Auffassung der Antragstellerin keine bloße Förmelei und auch geeignet, Nachahmer von der Schaffung vollendeter Tatsachen abzuhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.3 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).