Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.08.2017, Az.: 13 ME 173/17
Anordnung einer aufenthaltsrechtlichen Meldepflicht; Erheblichkeit der mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbundenen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; Konkret-individuelle Überwachung dieses Ausländers; Erforderlichkeit der regelmäßigen Meldung dieses Ausländers bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zur Abwehr der Gefahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.08.2017
- Aktenzeichen
- 13 ME 173/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 20460
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 23.06.2017
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG
- § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG
Fundstellen
- AUAS 2017, 223-225
- AUAS 2017, 233-235
- DÖV 2017, 924
- InfAuslR 2017, 441-443
- NVwZ-RR 2017, 1036-1037
- NdsVBl 2017, 4
- ZAR 2018, 177
Amtlicher Leitsatz
Eine Anordnung nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG darf nur ergehen, wenn die mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbundenen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erheblich sind und eine konkret-individuelle Überwachung dieses Ausländers gebieten und zur Abwehr der Gefahren die regelmäßige Meldung dieses Ausländers bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle erforderlich ist.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnende Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 23. Juni 2017 geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1. Juni 2017 wird wiederhergestellt.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus B-Stadt bewilligt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes in beiden Rechtszügen. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 23. Juli 2017 ist zulässig und begründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1. Juni 2017 über die Anordnung einer aufenthaltsrechtlichen Meldepflicht zu Unrecht abgelehnt.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherstellen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse oder ein überwiegendes Interesse eines Dritten an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes hinter das Interesse des Adressaten an einem Aufschub des Vollzugs desselben zurücktritt. Das ist der Fall, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen. Umgekehrt ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und zusätzlich ein gesteigertes öffentliches Interesse an seiner Vollziehung besteht, das über das Interesse hinausgeht, das den Erlass des Verwaltungsaktes selbst rechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.2007 - 2 BvR 2483/06 -, Rn. 31 f.). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens bei summarischer Beurteilung des Sachverhalts hingegen offen, so entscheidet eine reine Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen, die für oder gegen die Dringlichkeit der Vollziehung sprechen, über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
Nach der im vorliegenden Eilverfahren allein gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die mit Bescheid vom 1. Juni 2017 gegenüber dem Antragsteller angeordnete Pflicht, sich bis auf Weiteres jeweils Montag bis Freitag zwischen 8.30 und 9.30 Uhr bei der Polizeistation D. persönlich zu melden, als offensichtlich rechtswidrig.
Nach § 56 Abs. 1 AufenthG in der hier maßgeblichen, zuletzt durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780) mit Wirkung vom 29. Juli 2017 geänderten Fassung (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Anfechtung einer aufenthaltsrechtlichen Meldepflicht: BVerwG, Urt. v. 30.7.2013 - BVerwG 1 C 9.12 -, Rn. 29 (zu § 54a Abs. 1 AufenthG a.F.) und allgemein bei der Anfechtung von Dauerverwaltungsakten: BVerwG, Urt. v. 15.1.2013 - BVerwG 1 C 7.12 -, Rn. 9) unterliegt ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG besteht, der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt (Satz 1). Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer 1. vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder 2. auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist (Satz 2).
Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig. Er ist mit bestandskräftiger Verfügung vom 18. Januar 2017 auf der Grundlage eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ausgewiesen worden, so dass die ihm gegenüber angeordnete Meldeverpflichtung nur auf die Grundlage des § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG gestützt werden kann. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen sind ersichtlich nicht erfüllt. Die Anordnung der Meldepflicht gegenüber dem Antragsteller ist zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG nicht erforderlich; sie genügt dem zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht.
Bei der Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit aufenthaltsrechtlicher Meldepflichten ist zu berücksichtigen, dass § 56 Abs. 1 AufenthG nicht die Erfüllung der Ausreisepflicht des Ausländers gewährleisten will, sondern die Überwachung ausreisepflichtiger Ausländer aus Gründen der inneren Sicherheit und damit primär die Gefahrenabwehr im Inland bezweckt (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., AufenthG, § 56 Rn. 8; Hailbronner, Ausländerrecht, AufenthG, § 56 Rn. 11 (Stand: Februar 2016); GK-AufenthG, § 54a Rn. 5 und 21 (Stand: Oktober 2009); Welte, Die Meldepflicht gefährlicher Ausländer, in: ZAR 2006, 381, 382). Die gesetzliche Meldepflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll die von den nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG ausgewiesenen Ausländern ausgehende Gefahr einer Weiterführung von Handlungen im Vorfeld des Terrorismus eindämmen, gerade auch in den Fällen, in denen mit einer baldigen Aufenthaltsbeendigung nicht zu rechnen ist. (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 -, Rn. 29 (zu § 54a AufenthG a.F.)). Die im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Anordnung der Meldepflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG kann in Anknüpfung an andere als die in § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 AufenthG ergehen, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Zwar begründet die Nichteinhaltung der Ausreisepflicht und die Gefahr eines illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet als Folge eines Untertauchens eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Aus der Systematik des Aufenthaltsgesetzes folgt jedoch, dass die Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht auf der Grundlage behördlicher Anordnungen und Auflagen nach § 61 Abs. 1 AufenthG und gegebenenfalls mittels richterlicher Haftanordnungen nach § 62 AufenthG zu erfolgen hat. Auch wenn eine Maßnahme nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die (Mitwirkung des Ausländers bei der Vorbereitung seiner) Abschiebung erleichtern kann, ist dies eine bloße Nebenfolge der Meldepflicht, die nicht als Anlass für die Anordnung genommen werden darf (vgl. Bergmann/Dienelt, a.a.O., Rn. 8; GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 21). Diese Zwecksetzung und auch der Wortlaut des § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ("zur Abwehr einer Gefahr ... erforderlich") und der Überschrift des § 56 AufenthG ("Überwachung ...") sowie die enge systematische Verknüpfung der gesetzlichen Meldepflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der anzuordnenden Meldepflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ("Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, ...") gebieten eine Auslegung dahin, dass eine Anordnung nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur ergehen darf, wenn die mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbundenen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erheblich sind und eine konkret-individuelle Überwachung dieses Ausländers gebieten und zur Abwehr der Gefahren die regelmäßige Meldung dieses Ausländers bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle erforderlich ist (vgl. Welte, a.a.O., S. 383). Eine weitergehende einschränkende Auslegung dahin, dass die Anordnung der Meldepflicht auch nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur zur Abwehr von Gefahren für die innere Sicherheit (vgl. § 92 Abs. 3 Nr. 2 StGB) erfolgen darf (so Hailbronner, a.a.O., Rn. 12; GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 21), hält der Senat mit Blick auf den klaren Wortlaut der Bestimmung und den damit ersichtlich nicht auf die Abwehr von Gefahren für die innere Sicherheit beschränkten Zweck dieser Bestimmung hingegen für nicht geboten.
Bei Anwendung dieser Grundsätze sind im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für die Anordnung einer Meldepflicht ersichtlich nicht erfüllt.
Soweit der Antragsgegner auf die Verhinderung der Botschaftsvorführung des Antragstellers durch dessen Untertauchen verweist, kann dies den Erlass des angefochtenen Bescheides von vorneherein nicht rechtfertigen. Denn die Anordnung der Meldepflicht darf nicht primär darauf gerichtet sein, die Ausreisepflicht durchzusetzen.
Gleiches gilt für den wiederholten Verstoß gegen die bereits bestehende Meldeverpflichtung aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 4. Mai 2017. Zwar handelt es sich insoweit um eine Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 6a AufenthG, die getroffene Maßnahme ist zur Abwehr weiterer Straftaten aber nicht geeignet. Es ist nicht erkennbar, auf welche Weise der Erlass strengerer Meldevorschriften dazu beitragen sollte, dem Verstoß gegen bereits bestehende Meldeverpflichtungen entgegenzuwirken.
Auch ist der Umfang der Meldeverpflichtung ins Verhältnis zu der gesetzlichen Meldepflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu setzen. Für Ausgewiesene, die unter Terrorismusverdacht stehen, sieht das Gesetz regelmäßig eine wöchentliche Meldepflicht vor. Dem Antragsteller, der mehrfach wegen Diebstahls und des Erschleichens von Leistungen verurteilt worden ist, legt der angefochtene Bescheid vom 1. Juni 2017 hingegen eine tägliche Meldeverpflichtung von montags bis freitags auf. Dies steht außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr weiterer Diebstähle oder weiterer Leistungserschleichungen, aus deren Anlass die Ausweisung vom 18. Januar 2017 erfolgt ist, zumal nicht ansatzweise begründet und für den Senat auch sonst nicht erkennbar ist, auf welche Weise die Meldepflicht der Begehung vergleichbarer Straftaten durch den Antragsteller entgegenwirken könnte.
II. Da die Beschwerde aus den oben genannten Gründen Aussicht auf Erfolg hat, ist dem Antragsteller nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen. Die Beiordnung seines Rechtsanwalts beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 ZPO.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).