Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 16.09.2022, Az.: 5 B 791/22

Abschiebungsverbot; Anordnungsanspruch; Depression; fachärztliches Attest; Familiennachzug; Marokko; Visumpflicht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
16.09.2022
Aktenzeichen
5 B 791/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 58820
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2022:0916.5B791.22.00

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und die Androhung der Abschiebung, sowie einstweiligen Rechtsschutz zur Sicherung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet.

Sie ist marokkanische Staatsangehörige, 2001 geboren und seit 2018 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet; die Ehe wurde in Marokko geschlossen.

Im September 2021 reiste die Antragstellerin mit einem bis 9. Dezember 2021 befristeten Schengen-Visum in das Bundesgebiet ein und beantragte am 8. Dezember 2021 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit ihrem im Zuständigkeitsgebiet der Antragsgegnerin lebenden Ehegatten. Zur Begründung ihres Antrags führte sie aus, dass ihr eine Rückreise derzeit nicht möglich sei, weil der Flugverkehr nach Marokko infolge der COVID-19-Pandemie unterbrochen worden sei. Sie habe sich für die Terminvergabe bei der deutschen Botschaft in Rabat angemeldet, bisher aber keinen Termin erhalten und könne diesen auch nicht wahrnehmen, weil sie nicht nach Marokko reisen könne. Daher sei ihr die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar. Sie habe einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, weil diese zur Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft diene, deren besonderen Schutz Art. 6 GG gewährleiste. Ihr Lebensunterhalt sei gesichert, sie beherrsche die deutsche Sprache in ausreichendem Umfang und habe eine Unterkunft bei ihrem Ehemann. Ihr Ehegatte könne sie nicht nach Marokko begleiten, weil er es sich beruflich nicht leisten könne, bei weiteren Unterbrechungen des Flugverkehrs nicht von dort nach Deutschland zurückkehren zu können.

Die Antragsgegnerin hörte die Antragstellerin unter dem 15. Dezember 2021 zu ihrer Absicht an, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Zur Begründung führte sie aus, dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis voraussetze, dass die Antragstellerin mit dem erforderlichen Visum eingereist sei und die für die Erteilung erforderlichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht habe. Beides sei nicht der Fall. Die Antragstellerin habe auch nicht dargelegt, weshalb sie das Visumverfahren nicht habe einhalten können oder nachholen könne. Zudem sei die vorgelegte Eheurkunde keine anerkannte Urkunde.

Die Antragstellerin ließ unter dem 7. Januar 2022 erwidern, dass der Reiseverkehr nach Marokko immer noch ausgesetzt sei. Sie sei außerdem wegen einer chronifizierten Depression in ärztlicher Behandlung und nicht reisefähig. Sie habe während der letzten Jahre bei der Familie ihres Ehemannes in Marokko gelebt und dessen kranken Vater gepflegt, bis dieser im Alter von über 100 Jahren an COVID 19 verstorben sei. Unmittelbar danach sei der Bruder ihres Ehemannes im Alter von 56 Jahren verstorben. Die Familie ihres Ehemannes habe Marokko verlassen, sie habe dort niemanden mehr. Sie wolle bei ihrem Ehemann bleiben und habe Angst um ihren Aufenthalt und ihre gemeinsame Zukunft. Sie leide an Panikattacken und suizidalen Neigungen, falls sie nach Marokko zurückkehren müsse.

Mit Bescheid vom 14. Februar 2022 lehnte die Antragsgegnerin die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ab, forderte sie zur Ausreise innerhalb von 14 Tagen ab Zustellung der Verfügung auf und drohte ihr die Abschiebung nach Marokko oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Zur Begründung führte sie aus, dass die Antragstellerin nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sei und auch nicht die für die Erteilung des erforderlichen Visums nötigen Angaben im Visumantrag gemacht habe. Sie sei lediglich mit einem Besuchsvisum für die Schengen-Staaten eingereist, beabsichtigte aber einen längerfristigen Aufenthalt, für den ein nationales Visum erforderlich sei. Sie könne die Aufenthaltserlaubnis auch nicht aufgrund von § 39 Nr. 3 2. Alt. der Aufenthaltsverordnung - AufenthV - im Inland beanspruchen, weil die Ehe noch im Ausland und damit vor ihrer Einreise geschlossen worden sei. Das erforderliche Visum einzuholen könne ihr auch zugemutet werden, weil keine Gründe dafür erkennbar seien, weshalb sie das ordnungsgemäße Visumverfahren nicht nachholen könne.

Die Antragstellerin hat am 25. Februar 2022 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist -D. -, und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihr Anhörungsvorbringen, dass sie durchaus versucht habe, das Visumverfahren durchzuführen, dies aber infolge der Reisebeschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht möglich gewesen sei, und dass sie aufgrund einer chronifizierten Depression mit suizidalen Neigungen außerstande sei, das Land selbständig zu verlassen und das Visumverfahren erneut anzustrengen.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 25. Februar 2022 gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 14. Februar 2022 anzuordnen, hilfsweise

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie nicht vorläufig nicht abzuschieben und ihr eine Duldung zu erteilen.

Die Antragsgegnerin beantragt unter vertiefender Wiederholung der Begründung des angefochtenen Bescheides,

den Antrag abzulehnen.

Ergänzend führt sie aus, dass die Antragstellerin keine andauernden tatsächlichen Hindernisse dargelegt habe, zur Nachholung des Visumverfahrens nach Marokko zu reisen, und sie mit den vorgelegten Attesten auch nicht glaubhaft gemacht habe, dass gesundheitliche Gründe der Ausreise zwingend entgegenstünden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. September 2022 zur Entscheidung übertragen hat (§ 6 Abs. 1 VwGO).

1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unstatthaft und deshalb unzulässig, soweit er die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis betrifft.

Die vorläufige Sicherung des Aufenthaltsrechts während eines anhängigen Gerichtsverfahrens um die Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels erfolgt in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, wenn der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Titels zum Entstehen einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG geführt hat und diese Wirkung durch die Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag wieder erloschen ist (VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 16.2.2021 - 11 S 3852/20 -, juris Rn. 6 und vom 7.7.2020 - 11 S 2426/19 -, juris Rn. 13).

Der Antrag der Antragstellerin auf erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat eine Erlaubnis- oder Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht ausgelöst. Dabei kommt eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG nicht in Betracht, weil sie daran anknüpft, dass der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis gestellt worden ist, während die Ausländerin sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Die Antragstellerin hat ihren Antrag jedoch noch während der Laufzeit des Schengen-Visums gestellt, das gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ein Aufenthaltstitel ist. Eine danach nur mögliche Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG scheidet aus, weil der Gesetzgeber in § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG Visa nach § 6 Abs. 1 AufenthG von der Fiktionswirkung ausgenommen hat. Das gilt auch für das Schengen-Visum der Antragstellerin.

2. Der hilfsweise gestellte Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ist statthaft, aber unbegründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Voraussetzung hierfür ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, glaubhaft gemacht werden, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

Einen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung einer Ausländerin auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

a. Rechtliche Hindernisse der Abschiebung ergeben sich nicht aus einem Anspruch auf eine sogenannte Verfahrensduldung.

Die Abschiebung kann nicht allein deshalb für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens ausgesetzt werden, weil die Ausländerin den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Klageverfahren geltend macht und ihn im Bundesgebiet durchsetzen will (Nds. OVG, Beschluss vom 22.8.2017 - 13 ME 213/17 -, juris Rn. 3; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.1.2016 - 17 B 890/15 -, juris Rn. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.2.2010 - 2 M 2/10 -, juris Rn. 7). Ein verfahrensbezogenes Bleiberecht in Form einer Erlaubnis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion hat der Bundesgesetzgeber nur für die in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG genannten Fälle bestimmt, die hier gerade nicht gegeben sind.

Darüber hinaus kann ein Duldungsanspruch zwar zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht kommen, wenn sich aus den aufenthaltsrechtlichen Regelungen (vgl. etwa §§ 39ff. AufenthV, § 5 Abs. 2 Satz 2, § 25b, § 25 Abs. 2 und 5 AufenthG) ergibt, dass der angestrebte aufenthaltsrechtliche Status aus dem Inland verfolgt werden kann, und die Aussetzung der Abschiebung zugleich notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann. Das betrifft Titel, die tatbestandlich an eine bestehende Duldung anknüpfen, nicht jedoch die Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu einem deutschen Ehegatten. Ein Anspruch auf eine Verfahrensduldung zur Durchsetzung eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zum Zusammenleben mit dem Ehegatten der Antragstellerin kommt daher nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts per se nicht in Betracht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 22.8.2017 - 13 ME 213/17 -, juris).

Die Antragstellerin wäre überdies auch nicht dazu berechtigt, den Aufenthaltstitel gemäß § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV im Bundesgebiet einzuholen. Nach dieser Vorschrift könnte sie einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn sie ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte (§ 6 Absatz 1 Nummer 1 des Aufenthaltsgesetzes) besitzt, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind. Auch wenn die Antragstellerin mit ihrem Schengen-Visum rechtmäßig eingereist ist, sind die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nicht erst nach der Einreise entstanden, weil die Ehe der Antragstellerin bereits vor ihrer Einreise geschlossen worden ist.

b. In der Person der Antragstellerin ist auch unter Berücksichtigung der von ihr vorgelegten Atteste kein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG gegeben.

Gem. § 60a Abs. 2c Aufenthalt wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Diese gesetzliche Vermutung ist durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zu widerlegen, aus der sich eine Erkrankung ergibt, die die Abschiebung beeinträchtigen kann. Gem. § 60a Abs. 2c Satz 3 muss eine solche ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Diese Anforderungen an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.9.2007 - BVerwG 10 C 17.07 -, Rn. 15, juris).

Diesen Anforderungen werden die vorgelegten fachärztlichen Atteste allenfalls formal gerecht. Sie enthalten zwar die Klassifizierung der attestierten Krankheitsbilder und einen Hinweis auf das Beck'sche Depressionsinventar als Methode der Befunderhebung und prognostische Ausführungen zur Verschlimmerung der Erkrankung im Falle einer Ausreise. Die ärztlichen Einschätzungen sind angesichts der übrigen tatsächlichen Umstände allerdings insgesamt nicht hinreichend und (im Sinne intersubjektiver Diskutierbarkeit) nachvollziehbar begründet. Zum einen ergibt sich aus den Attesten vom 6. Dezember 2021 und vom 22. Februar 2022, dass sich die Antragstellerin erstmals am 4. Dezember 2021 und erneut am 22. Februar 2022 vorgestellt hat und damit jeweils im direkten zeitlichen Zusammenhang mit dem Ablauf des Schengen-Visums und der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis durch die Antragsgegnerin. Erst das Attest vom 21. Juli 2022 erwähnt eine regelmäßige Inanspruchnahme psychotherapeutischer Beratung.

In ihrem Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom 8. Dezember 2021 hat die Antragstellerin auch noch keinerlei krankheitsbedingte Beistandsbedürfnisse geltend gemacht, sondern lediglich erklärt, dass ihr berufstätiger Ehemann es sich beruflich nicht leisten könne, mit ihr nach Marokko zu reisen und ggf. wegen weiterer Unterbrechungen des Luftverkehrs nicht zurückkehren zu können. Das ist unter anderem deshalb beachtlich, weil die Antragstellerin in ihrem Antragsschreiben an die Antragsgegnerin ausdrücklich die Unzumutbarkeit der Ausreise wegen Erkrankung als Regelbeispiel aufgeführt hat und - ausweislich des Attestes vom 6. Dezember 2021 - bei dem behandelnden Arzt am 4. Dezember 2021 eine seit Wochen bestehende Depression geltend gemacht hat. Selbst wenn die Besprechung mit ihrem Bevollmächtigten am 30. November 2021 stattgefunden hat, als die Antragstellerin die Anwaltsvollmacht unterzeichnet hat, wäre eine bereits bestehende Erkrankung in der Schwere, in der sie die Antragstellerin seither geltend macht, im Rahmen einer anwaltlichen Beratung mit hoher Wahrscheinlichkeit Gegenstand der Erörterung gewesen.

Aus allen Attesten ergibt sich sodann, dass die Befunderhebung ebenso wie die Behandlung von einer erheblichen Sprachbarriere erschwert war und ist, und die Anamnese zu wesentlichen Teilen auf ergänzenden Angaben des Ehegatten der Antragstellerin beruht, die er bei der Vorstellung am 4. Dezember 2021 geäußert hat. Dabei hat der Ehegatte der Antragstellerin ausweislich des Attests vom 6. Dezember 2021 insbesondere geschildert, wie sich die Antragstellerin in Marokko aufopferungsvoll um seinen Vater gekümmert habe, bis dieser und kurz darauf sein Bruder verstorben sei. Der Ehegatte beschreibt dabei Umstände, die er selbst nicht miterlebt hat, weil er seinen Wohnsitz in Deutschland hatte. Bereits bei der Erstvorstellung am 4. Dezember 2021 beschreibt der behandelnde Arzt einen "in den letzten Wochen zunehmend chronischen Verlauf", der allein auf eigenen Angaben der Antragstellerin und ihres Ehegatten beruht. Die Anamnese enthält keine konkreten Angaben dazu, wann genau die Verwandten der Antragstellerin verstorben sind, wie sich in der Folge die Ausreise der übrigen Familie nach Spanien darstellte, und wo sich die eigene Familie der Antragstellerin aufhält. Derartige Erhebungen wären schon deshalb veranlasst, weil die Antragstellerin sich von Beginn der Ehe an in Marokko aufgehalten hat, während ihr Ehegatte in Deutschland lebte und angesichts dessen nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, dass sie sich gerade nach ihrer Einreise Sorgen und Ängste hinsichtlich ihrer Zukunft und der ihres Mannes macht. Gleiches gilt für den Umstand, dass die Antragstellerin nach dem Tod ihrer Verwandten zwar noch ihre Ausreise hat organisieren und bewältigen können, die Anpassungsstörung sich aber gerade im Bundesgebiet und trotz des Beistandes ihres Ehegatten soweit verschlechtert hat, dass sie nun nicht mehr reisefähig ist. Der geltend gemachte Zusammenhang der Anpassungsstörung gerade mit der Situation im Heimatland und einer vorübergehenden Rückkehr dorthin ist damit nicht nachvollziehbar festgestellt; es fehlt insoweit eine Abgrenzung zum neuen Umfeld in Deutschland als Ursache der Anpassungsstörung. Auch dass nur eine vorübergehende Trennung und nicht die endgültige Rückkehr in ihr Heimatland in Rede steht und die Antragstellerin eine absehbare Perspektive auf ein Aufenthaltsrecht hat, spielt in den ärztlichen Prognosen zur Entwicklung der Krankheit keine erkennbare Rolle.

Weitere Zweifel werfen die Atteste auf, weil zwar im ersten Attest über die Erstvorstellung eine "gerade begonnene Psychotherapie" erwähnt wird, im Attest vom 21. Juli 2022 aber festgestellt wird, dass aus sprachlichen Gründen keine stationäre Therapie und aufgrund von Vorbehalten und Ängsten der Antragstellerin eine medikamentöse Behandlung nicht möglich sei und die Antragstellerin trotz der beschriebenen Schwere der Erkrankung ausschließlich ambulante Therapiegespräche in Anspruch nimmt. Soweit in dem Attest vom 21. Juli 2022 die Frage aufgeworfen wird, weshalb die Antragstellerin als Ehegattin eines verbeamteten deutschen Staatsangehörigen überhaupt ausreisen müsse, zeigt das Attest eine deutliche Tendenz, dem aufenthaltsrechtlichen Begehren der Antragstellerin eine therapeutische Notwendigkeit zuzuschreiben, die alle denkbaren Alternativen - sowohl zur Pathogenese der Erkrankungen als auch zur Bewältigung der Krise der Antragstellerin - außer Acht lässt.

cc. Ein rechtliches Hindernis der Abschiebung ergibt sich angesichts dessen auch nicht mittelbar aus dem Schutz der Ehe und der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG.

Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts der Ausländerin dann entgegenstehen, wenn es ihr nicht zuzumuten ist, ihre familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1997 - BVerwG 1 C 9.95 -, BVerwGE 105, 35, 39 ff., juris Rn. 27 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20.5.2009 - 11 ME 110/09 -, juris Rn. 10 jeweils m. w. N.). Allein formal-rechtliche familiäre Bindungen lösen dabei die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 GG noch nicht aus. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Hieran gemessen geht das Gericht davon aus, dass der Antragstellerin und ihrem Ehemann eine zeitweise Unterbrechung der im Bundesgebiet tatsächlich geführten ehelichen Lebensgemeinschaft für die Dauer der Nachholung des Visumverfahrens zuzumuten ist. Nach der Veröffentlichung der deutschen Botschaft in Rabat (vgl. https://rabat.diplo.de/ma-de/service/05-VisaEinreise/-/1693432, abgerufen am 15.9.2022) beträgt die Verfahrensdauer für Visa zur Familienzusammenführung ca. 11 Monate.

Persönliche Gründe der Eheleute, die eine vorübergehende Trennung für diesen Zeitraum unzumutbar erscheinen lassen, sind für das Gericht nicht ersichtlich. Die Ehe wurde bereits im Jahr 2018 geschlossen, und zwar ersichtlich in Kenntnis des bereits bestehenden Wohnsitzes des Ehegatten im Bundesgebiet und der Notwendigkeit, ein nationales Visum für den beabsichtigen längerfristigen Aufenthalt einholen zu müssen. Einen Antrag zur Terminvergabe für die Beantragung eines nationalen Visums haben die Antragstellerin und ihr Ehegatte gleichwohl erst im März 2021 gestellt und dabei eine Trennung voneinander bereits über einen längeren Zeitraum als elf Monate ohne Weiteres in Kauf genommen.

Die Antragstellerin hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Eheleute untereinander zwingend und ununterbrochen auf Beistands- oder Unterstützungsleistungen des jeweils anderen zur Führung eines selbstbestimmten Lebens angewiesen sind. Jedenfalls in der Vergangenheit hat nach ihrem eigenen Bekunden die Antragstellerin den Vater ihres Ehegatten in Marokko gepflegt und war während dieser Zeit nicht beistandsbedürftig, sondern hat ihrerseits Beistand geleistet. Auch in ihrem Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom 8. Dezember 2021 hat die Antragstellerin noch keine krankheitsbedingten Beistandsbedürfnisse geltend gemacht.

Auch aus der zwischenzeitlich eingetretenen depressiven Erkrankung, die die Antragstellerin nunmehr geltend macht, ergibt sich kein zwingendes und ununterbrochenes Angewiesensein der Antragstellerin auf ihren Ehegatten. Das ärztliche Attest vom 21. Juli 2022 erwähnt zwar, dass die Antragstellerin nicht allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren könne und auf ihren Mann angewiesen sei, beschreibt dies aber als Folge des Umstands, dass die Antragstellerin kein Deutsch spreche. Die weitere Feststellung, dass die Antragstellerin dringend akut behandlungsbedürftig sei und die Anwesenheit ihres Mannes an ihrer Seite benötige, zielt zwar erkennbar auf ein zwingendes und ununterbrochenes Aufeinanderangewiesensein ab, ist aber aus dem übrigen Inhalt der vorgelegten Atteste, wie bereits ausgeführt, nicht nachvollziehbar und tragfähig.

d. Im Hinblick auf das Vorbringen der Antragstellerin ist der Hinweis veranlasst, dass die vorstehenden Erwägungen zugleich dem geltend gemachten Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen, weil die Antragstellerin entgegen § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für ein Absehen vom Visumerfordernis auch in Ansehung der Erkrankung der Antragstellerin nicht erfüllt sind.

Zwar kann gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom Visumerfordernis abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Das insofern auf Tatbestandsseite eröffnete Ermessen hat die Antragsgegnerin zutreffend erkannt, indem sie einen dem Grunde nach gegebenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis angenommen hat.

Sie hat das Ermessen aber in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahin ausgeübt, dass sie der Durchführung des Visumverfahrens den Vorrang gegenüber der ununterbrochenen Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft gegeben hat. Die behördliche Ermessensausübung ist gem. § 114 VwGO nur eingeschränkt überprüfbar.

Insbesondere war das Ermessen der Antragsgegnerin unter den gegebenen Umständen nicht in der Weise "auf Null" reduziert, dass sich nur eine Entscheidung, von der Voraussetzung der Einhaltung des Visumverfahrens abzusehen, als ermessensfehlerfrei dargestellt hätte.

Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Zumutbarkeit des Visumverfahrens ist dann anzunehmen, wenn aufgrund bedeutsamer Umstände ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so gewichtig ist, dass er das sonst die Regel begründende Gewicht beseitigt. Erforderlich ist, dass eine vorliegende Abweichung die Anwendung des Regeltatbestandes nach seinem Sinn und Zweck unpassend oder grob unverhältnismäßig oder untunlich erscheinen lässt. Das ist hier nicht ersichtlich.

Der Umstand, dass die Eheleute möglicherweise eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, reicht für sich genommen auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK für eine solche Ermessensschrumpfung nicht aus. Die Erwägungen der Antragsgegnerin, eine geplante Umgehung des Visumverfahrens durch Angabe eines anderen Aufenthaltszwecks nicht durch eine Abweichung im Ermessenswege zu honorieren und in die Ermessensausübung auch generalpräventive Aspekte einzustellen, hält sich im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.1.2011 - BVerwG 1 C 23.09 -, juris).

Ebenso zutreffend hat die Antragsgegnerin die individuellen Umstände der Antragstellerin erfasst und gewürdigt, namentlich die bereits 2018 geschlossene Ehe, die auch bis zur Einreise der Antragstellerin langjährige Trennung der Eheleute voneinander und den Umstand, dass der Reiseverkehr nach Marokko seit dem 7. Februar 2022 schrittweise wieder aufgenommen worden sei und seitdem kein tatsächliches Hindernis mehr bestehe, das Visumverfahren nachzuholen. Soweit die Antragstellerin demgegenüber einwendet, dass der Flugverkehr erst wieder aufgenommen worden ist, nachdem ihr Termin in der deutschen Auslandsvertretung am 4. Februar 2022 verstrichen war, begründet das keine Hindernisse, umgehend (oder sogar bevor dem Ablauf des Termins) einen neuen Termin zu beantragen. Auch angesichts der Erkrankung der Antragstellerin ist kein Grund erkennbar, weshalb nicht ihr Ehemann für sie einen entsprechenden Antrag hätte stellen können.

Ohne Ermessensfehler ist die Antragsgegnerin schließlich davon ausgegangen, dass die Nachholung des Visumverfahrens der Antragstellerin auch nicht aus gesundheitlichen Gründe unzumutbar ist. Insofern hat die Antragsgegnerin die zunächst beigebrachten Atteste gewürdigt und im Ergebnis vertretbar festgestellt, dass sich aus den Attesten keine Hinweise auf eine Reiseunfähigkeit oder eine Unzumutbarkeit der Durchführung des Visumverfahrens im Heimatstaat der Antragstellerin ergeben. Auch die zuletzt beigebrachten Atteste, auf die sich die Antragsgegnerin noch nicht geäußert hat, begründen angesichts der vorstehenden Erwägungen keine Umstände, die das Ermessen auf eine Pflicht zum Absehen vom Visumerfordernis reduziert hätten. Im Übrigen nimmt das Gericht auf die vorstehenden Ausführungen Bezug.

3. Soweit sich die Klage gegen die Abschiebungsandrohung richtet, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft (§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 64 Abs. 4 NPOG), aber unbegründet. Die Abschiebungsandrohung ist voraussichtlich nicht zu beanstanden. Sie entspricht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 58, 59 AufenthG. Bereits seit dem Ablauf der Geltungsdauer ihres Schengen-Visums, spätestens jedoch seit der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist die Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Soweit die Antragstellerin Abschiebungsverbote geltend gemacht hat, stehen diese dem Erlass der Abschiebungsandrohung grundsätzlich nicht entgegen (§ 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht Nr. 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).