Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.08.2017, Az.: 11 LA 142/17

Ausgangskontrolle; Einzelanweisung; Rechtsanwalt; Verschulden

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
02.08.2017
Aktenzeichen
11 LA 142/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54103
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 09.02.2017 - AZ: 10 A 4174/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Liegen Anhaltspunkte dafür, dass es einer Bürokraft erlaubt ist, bereits in den elektronischen Fristenkalender eingetragene Fristen nachträglich ohne eine entsprechende Anordnung des Rechtsanwalts abzuändern, deutet dieser Sachverhalt auf einen Organisationsmangel im Anwaltsbüro hin.
2. Die mündlich und mehrere Tage vor Fristablauf erteilte Anweisung des Rechtsanwalts an seine Bürokraft, ihm eine Verfahrensakte am Tag des Ablaufs der Rechtsmittelbegründungsfrist gemeinsam mit der Akte eines Parallelverfahrens, in dem die Frist zwei Tage später abläuft, vorzulegen, um beide Schriftsätze "in einem Abwasch" zu erledigen, erfüllt nicht die Anforderungen an eine hinreichend konkrete anwaltliche Einzelanweisung, die geeignet ist, die Fristwahrung sicherzustellen.

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 10. Kammer - vom 9. Februar 2017 wird verworfen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ist unzulässig.

Der Zulassungsantrag ist nicht fristgerecht begründet worden. Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen (§ 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO). Das Urteil vom 9. Februar 2017 ist der Klägerin am 29. März 2017 - und nicht, wie die Klägerin vorträgt, am 28. März 2017 - zugestellt worden. Die Frist zur Begründung des Zulassungsantrages  ist daher am 29. Mai 2017  abgelaufen. Die Begründung des Zulassungsantrages ist erst am 31. Mai 2017 und damit verspätet beim Oberverwaltungsgericht eingegangen.

Der Klägerin kann auch nicht auf ihren Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag gewährt wer-den. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin waren nicht im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO ohne Verschulden gehindert, die gesetzliche Frist zur Begründung des Zulassungsantrages einzuhalten. Das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten muss sich die Klägerin nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2  ZPO wie eigenes Verschulden zurechnen lassen.

Zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs macht die Klägerin in ihrem innerhalb der Monatsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO eingereichten Schriftsatz vom 12. Juni 2017 Folgendes geltend: Die Fristversäumnis beruhe auf dem Verschulden der erfahrenen und zuverlässigen Bürokraft Frau B. ihrer Prozessbevollmächtigten. Der für die Bearbeitung des Verfahrens der Klägerin zuständige Rechtsanwalt habe nach Vorlage der Handakte am Tag der Vorfrist einen ersten Entwurf der Begründung des Zulassungsantrages erstellt. Er habe daraufhin Frau B. fünf Tage vor Fristablauf angewiesen, ihm die ausgefertigte Zulassungsbegründung in dem Verfahren der Klägerin und in dem Parallelverfahren (11 LA 140/17), in dem die Zulassungsbegründungsfrist am 31. Mai 2017 abgelaufen sei, zur finalen Durchsicht und Unterzeichnung am Tag des Fristablaufs des Verfahrens der Klägerin (29.5.2017) vorzulegen. Frau B. habe beide Schriftsätze nicht am 29. Mai 2017, sondern am 31. Mai 2017 vorgelegt. Dieses Versehen führe Frau B. auf eine Verwechslung der Fristen - 31. Mai 2017 statt 29. Mai 2017 - und den bisherigen Gleichlauf der Fristen in beiden Verfahren zurück. Nach der vorgelegten Eidesstattlichen Versicherung der Bürokraft Frau B. vom 12. Juni 2017 hat sie dem für die Bearbeitung zuständigen Rechtsanwalt beide Schriftsätze am Tag des früheren Fristablaufs vorlegen sollen. Der Rechtsanwalt habe „alles in einem Abwasch“ erledigen wollen, damit beide Schriftsätze gemeinsam an das Oberverwaltungsgericht hätten geschickt werden können.

In einer ergänzenden Begründung vom 21. Juli 2017 führt die Klägerin weiter aus: Entgegen der Ansicht der Beklagten existiere bei ihren Prozessbevollmächtigten eine wirksame Ausgangskontrolle. Insbesondere erinnere die Fristenabteilung im Laufe des Tages des Fristablaufs das im Rechtsanwaltsbüro für die Bearbeitung des Verfahrens zuständige Dezernat  an den Ablauf der Frist. Im vorliegenden Fall sei die bewährte Ausgangskontrolle ihrer Kontrollfunktion wegen eines Fehlers von Frau B. nicht gerecht geworden. Die Anweisung des für die Bearbeitung zuständigen Rechtsanwalts, alles „in einem Abwasch“ erledigen zu wollen, habe bei Frau B. offensichtlich zu der fehlerverursachenden Datumsverwechslung geführt. Sie habe die Fristenabteilung angewiesen, die Fristen des Verfahrens der Klägerin und des Parallelverfahrens statt auf den 29. Mai 2017 auf den 31. Mai 2017 zu legen. Die Fristenabteilung habe ohne Stichprobenkontrolle mittels Zugriffs auf die elektronischen Akten in beiden Verfahren den 31. Mai 2017 als Fristablauf notiert.

Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu versagen. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Zu diesem Zweck muss er nicht nur sicherstellen, dass ihm die Akten von Verfahren, in denen Rechtsmitteleinlegungs- und Rechtsmittelbegründungsfristen laufen, rechtzeitig vorgelegt werden, sondern er hat auch eine wirksame Ausgangskontrolle zu schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich pünktlich hinausgehen (BGH, Beschl. v.  31. 3.2011 - III ZB 72/10 -, juris, Rn. 9). Aus der innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist eingereichten Antragsschrift vom 12. Juni 2017 ergibt sich nicht, dass die Organisation der Behandlung fristgebundener Sachen in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin diesen Anforderungen genügt. Ausführungen zur Ausgangskontrolle, insbesondere zu der Frage, warum das mit der Fristenkontrolle beauftragte Büropersonal nicht am 29. Mai 2017 in dem Zulassungsverfahren der Klägerin an den Ablauf der Frist zur Begründung des Zulassungsantrages erinnert hat, enthält der Antrag nicht.

Mit dem ergänzenden Schriftsatz vom 21. Juli 2017 wird zwar zur Organisation der Ausgangskontrolle in dem Büro der Prozessbevollmächtigten vorgetragen. Diese Tatsachen sind jedoch nicht innerhalb der maßgeblichen Antragsfrist vorgetragen worden. Nachgeschobene Tatsachen sind nicht  berücksichtigungsfähig (BGH, Beschl. v. 6.4.2016 - VII ZB 7/15 -, juris, Rn. 11).

Im Übrigen wären die Angaben zur Organisation der Ausgangskontrolle nicht geeignet gewesen, dem Wiedereinsetzungsantrag zum Erfolg zu verhelfen. Nach der Darstellung der Klägerin werden die relevanten Fristen in einer zentralen Fristenabteilung berechnet und anschließend von den Rechtsanwälten des zuständigen Dezernats kontrolliert und korrigiert, falls sie fehlerhaft berechnet wurden. Nach Eingabe in ein computerbasiertes System und zusätzlichen Kontrollen der Fristenabteilung im Bedarfsfall erhält das für die Fallbearbeitung zuständige Dezernat am Tag vor dem Fristablauf Ausdrucke mit den ablaufenden Fristen. Der verantwortliche Rechtsanwalt erhält das jeweilige Fristenblatt spätestens am Tag des Fristablaufs und hat zu überprüfen, ob der jeweilige Schriftsatz verschickt wurde. Wurde das Schriftstück nicht versendet, muss er die notwendigen Schritte einleiten. Wurde der Schriftsatz erfolgreich abgeschickt, zeichnet der Rechtsanwalt das Fristenblatt ab und leitet es der Fristenabteilung zu. Liegt der Fristenabteilung am Tag des Fristablaufs keine Benachrichtigung über das Versenden des Schriftsatzes vor, erinnert diese im Laufe des letzten Tages das zuständige Dezernat an den Ablauf der Frist.

Der Klägerin ist einzuräumen, dass ihre Prozessbevollmächtigten mit dieser Darstellung das Vorliegen einer Ausgangskontrolle nachgewiesen haben. Das weitere Vorbringen in dem Schriftsatz vom 21. Juli 2017 deutet allerdings auf einen erheblichen Mangel in der Organisation der Fristen- bzw. Ausgangskontrolle hin. Danach hat Frau B. nach dem Hinweis des für die Bearbeitung des Verfahrens der Klägerin zuständigen Rechtsanwalts, die Schriftsätze in dem Zulassungsverfahren der Klägerin und in dem Parallelverfahren „in einem Abwasch“ erledigen zu wollen, die Fristenabteilung angewiesen, die Fristen des Verfahrens der Klägerin und des Parallelverfahrens statt auf den 29. Mai 2017 auf den 31. Mai 2017 zu legen. Eine solche Anweisung der Bürokraft ist anscheinend im Rahmen des dargestellten Fristenkontrollsystems möglich, ohne dass eine Rücksprache mit dem zuständigen Rechtsanwalt stattfinden bzw. dessen Zustimmung oder Genehmigung eingeholt werden muss. Dass eine Bürokraft bereits in den elektronischen Fristenkalender eingegebene Fristen ohne eine diesbezügliche Anordnung des zuständigen Rechtsanwalts eigenständig verändern darf, dürfte unvereinbar mit der Pflicht des Rechtsanwalts sein, für eine wirksame Fristenkontrolle zu sorgen. Nach der Darstellung der Klägerin kontrollieren die Rechtsanwälte des zuständigen Dezernats im Büro ihrer Prozessbevollmächtigten die Fristen bei fristgebundenen Sachen vom Eingang des Verfahrens bis hin zum Ausgang des jeweiligen Schriftsatzes. Eine solche Kontrolle läuft naturgemäß leer, wenn die Fristen ohne Kenntnis des Rechtsanwalts verändert werden dürfen. Unverständlich ist auch, warum die zentrale Fristenabteilung bei nachträglichen Veränderungen der in den elektronischen Fristenkalender eingegebenen Fristen, die nicht durch einen Rechtsanwalt angeordnet wurden, nicht verpflichtet ist, eine Kontrolle durch Zugriff auf die elektronischen Akten durchzuführen.

Es liegt auch nicht eine hinreichend konkrete anwaltliche Einzelanweisung vor, deren Befolgung die Fristwahrung sichergestellt hätte. Nur dann, wenn ein Rechtsanwalt für einen bestimmten Fall genaue Anweisungen erteilt, die eine Fristwahrung gewährleisten, sind diese allein maßgeblich und kommt es auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen nicht mehr an (BGH, Beschl. v. 10.2.2016 - VII ZB 36/15 -, juris, Rn. 11). Die Klägerin hat im Wiedereinsetzungsverfahren eine solche Weisung geltend gemacht. Der für die Bearbeitung des Verfahrens der Klägerin zuständige Rechtsanwalt habe nach Vorlage der Handakte am Tag der Vorfrist und nach Fertigung eines ersten Entwurfs der Begründung des Zulassungsantrages Frau B. fünf Tage vor Fristablauf angewiesen, ihm die ausgefertigte Zulassungsbegründung in dem Verfahren der Klägerin und in dem Parallelverfahren (11 LA 140/17) zur finalen Durchsicht und Unterzeichnung am Tag des Fristablaufs des Verfahrens der Klägerin (29.5.2017) vorzulegen. Diese Anweisung ist nicht geeignet, die allgemeine Ausgangskontrolle zu ersetzen.

Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt zwar darauf vertrauen, dass ausgebildetes Büropersonal, das sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend zu vergewissern, ob eine erteilte Weisung auch ausgeführt worden ist (BGH, Beschl. v. 2.4.2008 - XII ZB 189/07 -, NJW 2008, 2589, juris, Rn. 12). Wird die Anweisung nur mündlich erteilt, müssen allerdings ausreichende Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass die Erledigung in Vergessenheit gerät (BGH, Beschl. v. 8.2.2012 - XII ZB 165/11 -, juris, Rn. 31). Eine zusätzliche Vorkehrung ist entbehrlich, wenn beispielsweise im Einzelfall die Weisung erteilt wird, den Auftrag sofort und vor allen anderen Aufgaben auszuführen. Daran gemessen durfte der zuständige Rechtsanwalt nicht darauf vertrauen, dass Frau B. seine Einzelanweisung befolgt. Der Rechtsanwalt hat die Bürokraft lediglich mündlich angewiesen. Außerdem lagen zwischen dem Zeitpunkt der Anweisung und dem Zeitpunkt, zu dem die Verfahrensakte der Klägerin dem Rechtsanwalt wieder hätte vorgelegt werden sollen, mehrere Tage. Die Klägerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass im Büro ihrer Prozessbevollmächtigten zusätzliche Vorkehrungen zur Absicherung der Ausführung der von dem zuständigen Rechtsanwalt erteilten Einzelanweisung getroffen worden sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).