Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.08.2017, Az.: 8 ME 94/17

Aufenthaltserlaubnis; Ausnahmefall; Ausweisungsinteresse; Duldungsgründe; Erteilungsvoraussetzung; allgemeine Erteilungsvoraussetzung; Lebensunterhalt; Privatleben; Verwurzelung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.08.2017
Aktenzeichen
8 ME 94/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54142
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 09.06.2017 - AZ: 12 B 3026/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Trotz Vorliegens eines Ausweisungsinteresses steht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht entgegen, wenn ein Ausnahmefall vorliegt, weil die Aufenthaltsbeendigung aufgrund verfassungs-, unions- oder völkerrechtlicher Gewährleistungen rechtlich unmöglich ist und die Nichterteilung der Aufenthaltserlaubnis auch nicht aus anderen Erwägungen einen auf den Zweck des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bezogenen Nutzen haben kann.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 9. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und eine Abschiebungsandrohung.

Der 1993 im Bundesgebiet geborene Antragsteller ist mazedonischer Staatsangehöriger. Er erreichte den Hauptschulabschluss, nahm an Qualifizierungsmaßnahmen teil und war mehrfach für jeweils einige Monate beschäftigt. Seit 2008 wurden von ihm begangene Straftaten wiederholt jugendgerichtlich geahndet. 2014 verurteilte ihn das AG Springe wegen Diebstahls, wegen Computerbetruges in vier Fällen, davon in einem Fall im Versuch, und wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung und Missbrauchs von Ausweispapieren in zwei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten. Diese Strafe verbüßte er vom 30. Juni 2014 bis zum 23. Oktober 2015. Am 13. Juni 2016 verurteilte ihn das AG Springe wegen gemeinschaftlichen versuchten schweren Diebstahls zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen; Datum der letzten Tat war der 1. Februar 2016.

Der Antragsteller hatte Aufenthaltserlaubnisse inne, zuletzt eine bis zum 23. August 2013 befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG, deren Verlängerung er am 28. August 2013 beantragte. Seither erhielt er Fiktionsbescheinigungen. Durch Verfügung vom 8. März 2017, zugestellt am 14. März 2017, lehnte der Regionspräsident der Antragsgegnerin den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, drohte die Abschiebung nach Mazedonien an und befristete die Wirkungen der Abschiebung auf drei Jahre. Dagegen hat der Kläger am 10. April 2017 Klage erhoben und vorläufigen Rechtsschutz beantragt.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz durch Beschluss vom 9. Juni 2017, zugestellt am 14. Juni 2017, abgelehnt. Der Antrag sei gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Mit der Ablehnung des Aufenthaltstitels sei die Fiktion gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG, die hier nach § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG a.F. angeordnet worden sei, entfallen. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiege das Interesse an einem Aufenthalt bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Der angefochtene Bescheid sei offensichtlich rechtmäßig. Anspruchsgrundlage sei § 34 Abs. 3 AufenthG. Es fehle an den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung, der Erfüllung der Passpflicht und des Nichtbestehens eines Ausweisungsinteresses. Es könne nicht prognostiziert werden, dass der Antragsteller zukünftig in der Lage sein werde, für seinen Lebensunterhalt dauerhaft selbst zu sorgen. Er habe ursprünglich behauptet, sein Onkel wolle ihn in seiner Autowerkstatt zunächst beschäftigen und ab August ausbilden. Er habe jedoch keinen Arbeits- oder Ausbildungsvertrag mit dem Onkel nachgewiesen. Möglicherweise gelte das Angebot nicht mehr, da der Antragsteller einen Arbeitsvertrag mit der B. vorgelegt habe. Hierzu habe er noch nicht einmal vorgetragen, die Arbeit aufgenommen zu haben. Im Hinblick auf seinen bisherigen Werdegang sei in keinem Fall mit der nötigen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er dauerhaft arbeiten und seinen Lebensunterhalt sicherstellen werde. Er sei seit seinem Schulabschluss 2010 keiner längerfristigen Beschäftigung nachgegangen. Im April 2016 habe er eine Qualifizierungsmaßnahme vorzeitig abgebrochen. Danach sei er noch zweimal kurzzeitig beschäftigt gewesen und in einem Fall fristlos entlassen worden. Ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG komme nur im Ausnahmefall in Betracht, wenn besondere, atypische Umstände vorlägen, die so bedeutsam seien, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigten. Der Antragsteller decke seinen Lebensunterhalt nur deshalb nicht, weil er sich seit seinem Schulabschluss zu keiner Zeit nachhaltig um Arbeit bemüht habe. Dass ihn dazu niemand motiviert habe, sei unbeachtlich und im Übrigen nicht richtig; er habe mehrere Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen erhalten. Der Antragsteller erfülle die Passpflicht nicht, da sein Pass am 7. August 2016 abgelaufen sei. Ob insoweit eine Atypik gegeben sei, lasse sich nicht feststellen, weil er die Gründe dafür, dass er seinen Pass nicht habe verlängern lassen, nicht angegeben habe. Aufgrund der Verurteilung zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten bestehe ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG. Die Regelerteilungsvoraussetzung gelte bereits dann nicht als erfüllt, wenn ein Ausweisungsinteresse vorliege. Auf den Vortrag, die Antragsgegnerin habe sein Bleibeinteresse nicht ausreichend berücksichtigt, komme es nicht an. Auch hinsichtlich dieser Regelerteilungsvoraussetzung seien keine Anhaltspunkte für einen von der Regel abweichenden Sachverhalt ersichtlich. Die das Ausweisungsinteresse begründende Verurteilung sei zwar die erste zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung, aber nur eine von vielen Verurteilungen gewesen. Nach der Haft sei er bereits wieder verurteilt worden. Zwei Ermittlungsverfahren seien noch offen. Das Amtsgericht Springe habe in seinem Urteil vom 22. April 2014 ausgeführt, dass schädliche Neigungen sicher festzustellen seien und keine günstige Prognose bestehe. Die Abschiebungsandrohung sei ebenfalls offensichtlich rechtmäßig. Der hilfsweise gestellte Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, einstweilen von Abschiebemaßnahmen Abstand zu nehmen, sei gemäß § 123 Abs. 5 VwGO unzulässig.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 28. Juni 2017, mit der er geltend macht, aus seiner Biographie ergebe sich, dass ein Ausnahmefall vorliege, in dem die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht erforderlich sei.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den mit ihr dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht abgelehnt hätte.

Die Beschwerde ist bereits unbegründet, weil das Verwaltungsgericht selbständig tragend darauf abgestellt hat, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht gegeben ist. Insoweit wird mit der Beschwerde nichts vorgebracht.

Soweit das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung als unbegründet angesehen hat, weil die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts und des Nichtbestehens eines Ausweisungsinteresses nicht erfüllt seien, greift das Beschwerdevorbringen nicht durch.

1. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass der Lebensunterhalt des Antragstellers i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert oder dass der beantragte Aufenthaltstitel ausnahmsweise ohne Erfüllung dieser Voraussetzung zu erteilen wäre.

a. Bei der Prüfung dieser Erteilungsvoraussetzung bedarf es der positiven Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist (Senatsbeschl. v. 20.3.2012 - 8 LC 277/10 -, NVwZ-RR 2012, 725, juris Rn. 5). Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt gegenwärtig selbst bestritte. Die nicht glaubhaft gemachte Behauptung, dass mit einer Verlängerung des Beschäftigungsverhältnisses zu der B. durchaus gerechnet werden könne, entkräftet nicht die vom Verwaltungsgericht aus der bisherigen Erwerbsbiographie abgeleitete negative Prognose. Erst recht kann die Annahme, dass der Antragsteller in Zukunft dauerhaft in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten, nicht daraus abgeleitet werden, dass sich sein Onkel nach seinem Vortrag bereit erklärt hat, ihn bei der weiteren Arbeitsmarktintegration zu unterstützen.

b. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass ein Ausnahmefall vorläge. Bei der Unterhaltssicherung handelt es sich um ein Regelerfordernis. Sowohl verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen als auch atypische Umstände des Einzelfalls, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, können eine Ausnahme vom Regelfall rechtfertigen (BVerwG, Urt. v. 13.6.2013 - 10 C 16.12 -, NVwZ 2013, 1493, juris Rn. 16).

Solche Umstände liegen nicht vor. Soweit der Antragsteller vorträgt, er habe bei der Arbeitssuche keine Unterstützung seiner Eltern erhalten und es hätte über die Qualifizierungsmaßnahmen hinaus ein umfassendes Hilfeplankonzept geben müssen, bestätigt er letztlich nur die ungünstige Prognose, zu der das Verwaltungsgericht gekommen ist. Die Regelerteilungsvoraussetzungen sind grundsätzlich verschuldensunabhängig anzuwenden. Ein unverschuldeter Sozialleistungsbezug vermag unter Umständen einen Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu begründen, wenn sich der Ausländer persönlich in einer Sondersituation befindet, die sich wesentlich von der anderer Ausländer unterscheidet (Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.10.2014 - 10 C 14.2002 -, juris Rn. 17). Dass der Ausländer ohne familiäre Unterstützung eine Arbeit suchen muss, ist keine Sondersituation. Auch, dass immer die Möglichkeit besteht, dass der Ausländer zusätzlich zu den von ihm tatsächlich bezogenen Sozialleistungen noch weitere hätte erhalten können, die vielleicht seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt in gewisser Weise gesteigert hätten, begründet keinen wesentlichen Unterschied gegenüber anderen Ausländern.

Die Arbeitssuche ist nicht durch die Befristung der erteilten Fiktionsbescheinigungen in atypischer Weise erschwert worden. Verhindert eine Ausländerbehörde die mögliche Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, kann hierin zwar unter Umständen ein atypischer Sachverhalt gesehen werden, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt (Senatsbeschl. v. 18.3.2010 - 8 ME 24/10 -, juris Rn. 12). So verhält es sich hier aber nicht. Die vor der Strafhaft erteilte Fiktionsbescheinigung vom 28. August 2013 war sechs Monate lang gültig. Nach der Entlassung aus der Strafhaft betrug die Gültigkeitsdauer der Fiktionsbescheinigungen überwiegend drei Monate. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass dies rechtswidrig oder auch nur unsachgemäß wäre.

Das Gericht folgt auch nicht der Ansicht der Beschwerde, aus Vorschriften des SGB III ergebe sich eine im Aufenthaltsrecht zu beachtende Wertung. Der Gesetzgeber sieht in der Unterhaltssicherung eine Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.8.2011 - 1 C 12.10 -, NVwZ-RR 2012, 330, juris Rn. 13). Diese Wertung gilt auch in Fällen, in denen familiäre und soziale Belastungen die Sicherung des Lebensunterhalts erschweren. Sie wird nicht dadurch verdrängt, dass sozialrechtliche Vorschriften auf solche Belastungen Rücksicht nehmen.

2. Ohne Erfolg wendet sich die Beschwerde gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegensteht, weil ein Ausweisungsinteresse besteht.

a. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Diese Regelvoraussetzung ist nicht erfüllt.

Ein Ausweisungsinteresse i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht jedenfalls, wenn der Tatbestand eines schwerwiegenden oder besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses i.S.d. § 54 AufenthG erfüllt ist und die dadurch begründete Gefahr fortwirkt, was im Falle strafgerichtlicher Verurteilungen beim Vorliegen einer Wiederholungsgefahr der Fall ist.

Die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist bereits dann nicht erfüllt, wenn das Ausweisungsinteresse besteht. Ob die Abwägung im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu dem Ergebnis führt, dass das Ausreiseinteresse überwiegt, ist in Bezug auf die Frage, ob der Regeltatbestand erfüllt ist, nicht erheblich. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Der Begriff des Ausweisungsinteresses ist an die Stelle des Ausweisungsgrundes getreten. Dabei handelte es sich um in § 53 AufenthG a.F. festgelegte Tatbestände. Unter der bisherigen Rechtslage setzte das Bestehen eines Ausweisungsgrundes nicht voraus, dass eine Ausweisungsverfügung rechtmäßig und ermessensfehlerfrei erlassen werden konnte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 25.8.2015 - 11 S 1500/15 -, InfAuslR 2015, 432, juris Rn. 9; OVG Hamburg, Urt. v. 17.12.2015 - 4 Bf 137/13 -, InfAuslR 2016, 276, juris Rn. 42 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 16.8.2016 - 18 B 754/16 -, juris Rn. 11 ff.).

Soweit Einzelheiten der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht abschließend geklärt sind, kommt es hierauf nicht an, weil auch in der für den Antragsteller günstigsten Auslegung ein Ausweisungsinteresse zu bejahen ist. Neben den in § 54 AufenthG bezeichneten Ausweisungsinteressen sieht § 53 Abs. 1 AufenthG eine Ausweisung auch in weiteren Fällen vor, in denen der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Es kann offen bleiben, ob auch das Vorliegen eines in § 54 AufenthG nicht erwähnten Ausweisungsinteresses dazu führen kann, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist (bejahend VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 25.8.2015 - 11 S 1500/15 -, InfAuslR 2015, 432, juris Rn. 9; Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 5 AufenthG Rn. 45; wohl a.A. OVG Hamburg, Urt. v. 17.12.2015 - 4 Bf 137/13 -, InfAuslR 2016, 276, juris Rn. 44; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 16.8.2016 - 18 B 754/16 -, juris Rn. 11; Maor, in: BeckOK AuslR, § 5 AufenthG Rn. 8 (Stand Mai 2017)). Ebenso kann offen bleiben, ob ein Ausweisungsinteresse besteht, wenn allein generalpräventive Gründe vorliegen (bejahend BT-Drs. 18/4097, S. 49; verneinend VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.4.2017 - 11 S 1967/16 -, juris Rn. 33 ff.). Kommen spezialpräventive Gründe in Betracht, ist schließlich die Kontrolldichte umstritten, mit der deren Aktualität zu prüfen ist. Zum Teil wird das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nur dann bejaht, wenn ohne vernünftige Zweifel feststeht, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, die mit dem Ausweisungsinteresse zusammenhängt, nicht mehr besteht (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 29.8.2016 - 10 AS 16.1602 -, juris Rn. 22; Maor, in: BeckOK AuslR, § 5 AufenthG Rn. 11 (Stand Mai 2017)). Nach anderer Ansicht bedarf es zur Verneinung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der positiven Feststellung einer Wiederholungsgefahr (so wohl VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.4.2017 - 11 S 1967/16 -, juris Rn. 25 ff.; Bayerischer VGH, Urt. v. 9.12.2015 - 19 B 15.1066 -, juris Rn. 26 f.). Auch das muss vorliegend nicht entschieden werden.

Aufgrund der Verurteilung des Antragstellers zu einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, durch das Urteil des AG Springe vom 22. April 2014 ist ein Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gegeben. Es besteht zudem eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich Eigentums- und Vermögensdelikten, aber auch Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Die erste jugendgerichtlich geahndete Tat beging der Antragsteller im Alter von 14 Jahren. Insgesamt wurde er bislang neunmal verurteilt. Zu Diebstählen und Leistungserschleichungen traten später Körperverletzungsdelikte hinzu. Bei den Diebstählen steigerte sich die Intensität von Ladendiebstählen zu einem Einbruch und dem Entwenden von Brieftaschen in fremden Wohnungen, der Fälschung von Unterschriften auf Überweisungsträgern und der Benutzung eines gestohlenen Ausweises, um die Bank über die Identität zu täuschen. Der Antragsteller war Bewährungsversager. Die Verbüßung der Jugendstrafe hat ihn ersichtlich nicht beeindruckt, denn weniger als vier Monate nach der Entlassung beging er den durch das Urteil des AG Springe vom 13. Juni 2016 geahndeten Diebstahl. In der Haft hat er sich ausweislich der Fortschreibungen des Erziehungs- und Förderplans zwar im Wesentlichen beanstandungsfrei geführt und seine Qualifikation ausgebaut. Es fehlt aber an tatsächlichen Anhaltspunkten für einen Prozess, der zu einer Änderung des Verhaltens geführt haben könnte. Dass er nunmehr beruflich Fuß gefasst haben könnte, lässt sich aus der seit dem 8. Juni 2017 ausgeübten Tätigkeit für ein Personaldienstleistungsunternehmen bislang nicht ableiten. Dafür, dass es nicht mehr zu Alkohol- und Betäubungsmittelmissbrauch kommen wird, fehlen Anhaltspunkte. Zwar ist dem Antragsteller bescheinigt worden, dass er in der Haft am Gesprächskreis Alkohol, Drogen, Therapie teilgenommen hat. Als Ergebnis ist aber nur festgehalten worden, dass Krankheitseinsicht und Veränderungsbewusstsein hervorgerufen wurden. Anhaltspunkte für eine tatsächliche Verhaltensänderung fehlen.

b. Ein Ausnahmefall, in dem ein Aufenthaltstitel trotz des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses erteilt werden könnte, ist nicht gegeben.

Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG muss „in der Regel“ vorliegen; dass sie fehlt, steht der Erteilung eines Aufenthaltstitels folglich in Ausnahmefällen nicht entgegen.

Atypische Umstände ergeben sich nicht daraus, dass der Antragsteller die Straftaten überwiegend im Jugend- und Heranwachsendenalter begangen hat. § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gilt gerade für die Verurteilung zu einer Jugendstrafe, die die Tatbegehung in diesem Alter voraussetzt. Auch aus der familiären und sozialen Belastung, wie sie mit der Beschwerde im Einzelnen dargelegt worden ist, ist ein Ausnahmefall nicht abzuleiten. An der Notwendigkeit, die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten abzuwehren, ändert diese Belastung nichts.

Ein Ausnahmefall liegt auch unter Einbeziehung der sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergebenden Anforderungen nicht vor.

Grundsätzlich können verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen eine Ausnahme vom Regelfall rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.6.2013 - 10 C 16.12 -, NVwZ 2013, 1493, juris Rn. 16). Dies kommt auch im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Betracht. Ein atypischer Ausnahmefall ist gegeben, wenn die besonderen Umstände des Falles dazu führen, dass der mit der Aufstellung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung verfolgte Zweck ausnahmsweise nicht erreicht werden kann. Das kann auch dann gegeben sein, wenn zwar ein Ausweisungsinteresse besteht, verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen aber der Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 29.8.2016 - 10 AS 16.1602 -, juris Rn. 24; Beschl. v. 31.8.2016 - 10 CS 16.649 -, juris Rn. 7 f.; OVG Bremen, Urt. v. 28.6.2011 - 1 A 141/11 -, NordÖR 2011, 440, juris Rn. 67 f.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 5 Rn. 74 (Okt. 2015)). Führen die Vorgaben des höherrangigen Rechts dazu, dass die Abschiebung rechtlich unmöglich ist, so dass der Ausländer jedenfalls geduldet werden müsste, und gibt es auch keine sonstigen - etwa generalpräventiven - Erwägungen, aufgrund deren die Nichterteilung der Aufenthaltserlaubnis noch einen Nutzen haben kann, so ist die Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht geeignet, den mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verfolgten Zweck zu erfüllen. Der in der Vorschrift vorausgesetzte Regelfall ist dann nicht gegeben. Dies gilt jedenfalls, wenn das Ausweisungsinteresse aus der Begehung von Straftaten abzuleiten ist. Inwieweit ein Ausnahmefall anzunehmen sein kann, wenn etwa falsche Angaben in einem Verwaltungsverfahren ein Ausweisungsinteresse ergeben (vgl. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a) AufenthG), bedarf im vorliegenden Fall keiner Vertiefung.

Allerdings führen die vorstehenden Erwägungen dazu, dass in Fällen, in denen verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen der Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen können, auf der Ebene des Ausnahmefalls eine Prüfung der rechtlichen Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung aufgrund von verfassungs-, unions- oder völkerrechtlichen Gewährleistungen vorzunehmen ist (was enger ist als die vollständige Abwägung von Ausreise- und Bleibeinteresse i.S.d § 53 Abs. 1 AufenthG). Dies gilt, obwohl auf der Ebene der Prüfung des Bestehens eines Ausweisungsinteresses eine Abwägung gerade nicht erforderlich ist (s.o. a.). Eine solche Vorgehensweise ist jedoch unvermeidlich, weil die mögliche Atypik des Falls nur auf diese Weise untersucht werden kann. Im Übrigen müsste die Abwägung, wollte man § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht in der dargelegten Weise anwenden, im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgenommen werden.

Hier würde die Aufenthaltsbeendigung in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Privatleben eingreifen, denn der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Antragsteller, der bis zum Alter von 19 Jahren im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen und danach von Fiktionsbescheinigungen war, verfügt über soziale Beziehungen im Inland im Sinne der Rechtsprechung des EGMR (vgl. EGMR, Urt. v. 23.6.2008 - 1638/03 -, InfAuslR 2008, 333). Die Verhältnismäßigkeit ist anhand der folgenden Kriterien zu prüfen: Art und Schwere der begangenen Straftaten; Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet; zwischen der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers während dieser Zeit; Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat (vgl. EGMR, Urt. v. 25.3.2010 - 40601/05 -, InfAuslR 2010, 325, juris Rn. 54). Die Prüfung ergibt, dass das Interesse an der Aufenthaltsbeendigung auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens überwiegt.

Die Aufenthaltsbeendigung dient der Abwehr der vom Antragsteller ausgehenden Wiederholungsgefahr. Von diesem sind Diebstähle und andere Eigentums- und Vermögensdelikte zu erwarten. Es muss damit gerechnet werden, dass die Taten jeweils im Abstand nur weniger Monate begangen werden und jeweils einen Schaden von bis zu mehreren Tausend Euro herbeiführen. Hinzu kommt die Gefahr weiterer Körperverletzungen. Bis auf den letzten Diebstahl im Jahr 2016 wurden die Taten bisher zwar als Jugendlicher oder Heranwachsender begangen. Die zukünftig zu erwartenden Taten würden aber im Erwachsenenalter begangen. In der Strafhaft hat der Kläger an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen; wesentliche Integrationsfortschritte oder Verhaltensänderungen in Bezug auf seine Kriminalität sind aber nicht zu erkennen. Die Beziehungen zur Gesellschaft der Bundesrepublik sind von einigem Gewicht. Der Antragsteller wurde im Bundesgebiet geboren und ist hier aufgewachsen. Es bestehen familiäre Bindungen an die Mutter und den Bruder, der allerdings ebenfalls über kein Aufenthaltsrecht mehr verfügt. Dass der Antragsteller die deutsche Sprache beherrscht und sich grundsätzlich darin auch schriftlich ausdrücken kann, ist nicht zweifelhaft. Er hat den Hauptschulabschluss erworben. Eine Ausbildung hat er abgebrochen. Eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht erfolgt; die aufgenommenen Erwerbstätigkeiten endeten jeweils nach kurzer Zeit, zum Teil durch fristlose Kündigung. Während der Strafhaft war er ehrenamtlich beim DRK tätig. Die in größerer Zahl begangenen Straftaten zeigen, dass er sich an die in der deutschen Gesellschaft geltenden Normen nur hält, wenn es ihm passt. Mazedonien kennt er durch kürzere Aufenthalte im Urlaub und zur Passverlängerung. Er spricht die mazedonische Sprache. Dies ergibt sich aus dem erfolgreichen Besuch des muttersprachlichen Unterrichts in der Grundschule und der Angabe in seinem Lebenslauf „Makedonisch mündlich (sehr gute Kenntnisse); schriftlich (sehr gute Kenntnisse)“. Die Behauptung in seiner mit der Beschwerde vorgelegten Stellungnahme, er beherrsche die Sprache nicht, wertet das Gericht vor diesem Hintergrund als Lüge. Insgesamt werden die Anfangsschwierigkeiten erheblich, aber angesichts der Sprachkenntnisse, des Alters und der Arbeitsfähigkeit des Antragstellers überwindbar sein. Bei Würdigung der beträchtlichen, aber angesichts der Straftaten und der fehlenden beruflichen Integration immer noch unterdurchschnittlichen Bindung an die Inlandsgesellschaft und der mit Schwierigkeiten verbundenen Eingliederung in die mazedonische Gesellschaft, für die der Antragsteller aber einige Voraussetzungen mitbringt, ergibt sich insgesamt, dass die durch die Aufenthaltsbeendigung hervorgerufene Belastung weniger schwer wiegt als der Belang der Abwehr der vom Antragsteller ausgehenden Wiederholungsgefahr.