Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 26.08.2005, Az.: VgK 37/05

Voraussetzung für die Antragsbefugnis im Nachprüfungsverfahren; Vergabe von Aufträgen für Tischlerarbeiten und den Bau von Einbauschränken im Rahmen des Neubaus eines Kreishauses; Anforderungen an die Darlegungslast bzgl. eines dem Unternehmen entstandenen Schadens; Positive Kenntnis eines Mangels i.S.v. § 107 Abs. 3 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)

Bibliographie

Gericht
VK Lüneburg
Datum
26.08.2005
Aktenzeichen
VgK 37/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 20253
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgegenstand

VOB-Vergabe Nr. HJA 25 (Tischlerarbeiten 2 / Einbauschränke) im Rahmen des Neubaus des Kreishauses

Redaktioneller Leitsatz

Die Antragstellerin ist verpflichtet, vor Anrufung der Vergabekammer die behaupteten Verstöße gegen die Vergabevorschriften gegenüber dem Auftraggeber unverzüglich zu rügen. Wird gegen diese Rügepflicht verstoßen, ist der Nachprüfungsantrag unzulässig. Die Rügepflicht des § 107 Abs. 3 S. 1 GWB entsteht, sobald ein Bieter oder Bewerber im Vergabeverfahren einen vermeintlichen Fehler erkennt. Vorausgesetzt ist die positive Kenntnis des Anbieters von den Tatsachen. Werden etwa beim Durcharbeiten des Leistungsverzeichnisses Ungenauigkeiten festgestellt, liegt bereits positive Kenntnis vor. Ausreichend für die positive Kenntnis eines Mangels ist bereits das Wissen um einen Sachverhalt, der den Schluss auf die Verletzung vergaberechtlicher Bestimmungen erlaubt und es bei vernünftiger Betrachtung gerechtfertigt erscheinen lässt, das Vergabeverfahren als fehlerhaft zu beanstanden. Die Rüge muss angesichts der kurzen Fristen, die im Vergaberecht allgemein gelten, grundsätzlich binnen ein bis drei Tagen erfolgen.

Die Vergabekammer hat
durch
die Vorsitzende ORR'in Dr. Raab,
die hauptamtliche Beisitzerin BOAR'in Schulte und
den ehrenamtlichen Beisitzer Bullerdiek
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.

  3. 3.

    Die Kosten werden auf 2.561 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Auftraggeber hat mit Datum vom 23.02.2005 die Tischlerarbeiten (Einbauschränke)

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zum Neubau eines Kreishauses in ... im offenen Verfahren europaweit ausgeschrieben, nachdem er am 18.05.2004 vorab darüber informiert hatte. Der Bekanntmachung war zu entnehmen, dass eine Unterteilung der zu erbringenden Leistungen in Lose nicht vorgesehen ist. Die Bieter wurden jedoch darauf hingewiesen, dass Nebenangebote/Alternativvorschläge berücksichtigt werden.

3

Hinsichtlich der Nachweise zur Beurteilung der Eignung forderte der Auftraggeber verschiedene Angaben und Unterlagen gemäß § 8 Nr. 3 und 5 VOB/A sowie weitere Bescheinigungen und Nachweise.

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Der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlich günstigste Angebot aufgrund der in den Unterlagen genannten Kriterien erteilt werden. Dort ist lediglich der Preis als Zuschlagskriterium genannt.

5

Bei der Angebotseröffnung am 05.04.2005 wurden offenbar zunächst die Angebote durch Perforierung gekennzeichnet, bevor sie geöffnet wurden. Das Angebot der Antragstellerin wurde inkl. zwei Blatt Anschreiben gekennzeichnet. Das Angebot der Beigeladenen wurde inkl. Anschreiben, Vollmacht, Beiblatt und geforderter Nachweise und Unterlagen ebenfalls gekennzeichnet. In der Niederschrift über die Verdingungsverhandlung wurde festgehalten, dass von den insgesamt 20 Firmen, die die Angebotsunterlagen angefordert hatten, 14 Bieter Angebote eingereicht hatten.

6

Laut Niederschrift wurde zum Angebot der Beigeladenen festgehalten:

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"Angebotssumme 272.170,20 EUR; geprüft 273.370,38 EUR, Begleitschreiben vom 04.04. 2 Stck." Weitere Eintragungen wurden nicht vorgenommen.

8

Zum Angebot der Antragstellerin wurde festgehalten:

"Angebotssumme 273.282,71 EUR; geprüft 273.282,75 EUR, 1 Nebenangebot, Begleitschreiben vom 04.04. Betrag nicht im Angebotsschreiben."

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Dieses Protokoll wurde u. a. von zwei Vertretern der Antragstellerin als richtig anerkannt. Vertreter der Beigeladenen waren bei dem Eröffnungstermin nicht anwesend.

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Sodann befindet sich in der Vergabeakte ein Vergabevermerk des beauftragten Architekturbüros vom 29.04.2005, in dem es vorschlägt, ein Klärungsgespräch mit dem günstigsten Bietern ... ... und ... zu führen. Ferner wurde festgehalten:

"Das Angebot ... ist ca. 21 % günstiger als das nächstplatzierte Angebot ...i/.... Es muss daher geklärt werden, ob ein unangemessen niedriger Angebotspreis vorliegt.

Das Angebot ... ist unvollständig. Es entspricht daher nicht BwB/E 212 Nr. 3.3 und Vergabehandbuch, § 25 A 1.2 und kann u. E. nicht berücksichtigt werden."

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Diese Auffassung des beauftragten Architekturbüros hinsichtlich des Ausschlusses der Beigeladenen wurde offenbar nicht aufrecht erhalten, denn als Nächstes befindet sich in der Vergabeakte jeweils ein Protokoll über Aufklärungsgespräche, die mit der Firma ..., der Antragstellerin und der Beigeladenen geführt wurden. Unter Berücksichtigung der Aufklärungsgespräche empfahl das beauftragte Architekturbüro mit Datum vom 10.06.2005 der Beigeladenen den Zuschlag unter Berücksichtigung des Nebenangebotes zu erteilen. Ferner wurde festgehalten, dass das Nebenangebot der Antragstellerin nicht gleichwertig sei. Nachdem der Projektsteuerer, der zuständige Fachbereich und das Rechnungsprüfungsamt dem Vergabevorschlag zugestimmt hatten, informierte der Auftraggeber die Antragstellerin mit Schreiben vom 07.07.2005 gem. § 13 VgV, dass er beabsichtige, den Zuschlag auf das Nebenangebot der Beigeladenen zu erteilen, da es wirtschaftlicher sei. Dieses Schreiben wurde mit Fax vom 07.07.2005 um 10.13 Uhr versandt.

12

Mit Schreiben vom 15.07.2005, eingegangen per Telefax beim Auftraggeber am selben Tage um 23.14 Uhr, rügte die Antragstellerin diese Entscheidung des Auftraggebers. Sie erklärt

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sich mit der Absage ohne genauere Erklärung bzw. Gründe für die Ablehnung ihres Haupt- und Nebenangebotes nicht einverstanden. Auf dieses Rügeschreiben antwortete der Auftraggeber offenbar nicht.

14

14 Tage nachdem der Auftraggeber die Information nach § 13 VgV versandt hatte, erteilte er mit Datum vom 22.07.2005 der Beigeladenen den Auftrag. Wann das Auftragsschreiben versandt worden ist, ist der Vergabeakte nicht zu entnehmen.

15

Mit Anwaltsschriftsatz vom 22.07.2005, eingegangen bei der Vergabekammer am selben Tage um 13.43 Uhr, hat die Antragstellerin die Vergabekammer angerufen. Der Nachprüfungsantrag wurde dem Auftraggeber am 25.07.2005 mit Fax übermittelt und am 28.07.2005 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt.

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Die Antragstellerin begründet ihren Nachprüfungsantrag damit, dass ein wirtschaftlicheres Nebenangebot von der Beigeladenen jedenfalls nicht form- und fristgerecht abgegeben worden sei. Sie führt weiter aus, dass das Nebenangebot bei der Angeboteröffnung nicht vorlag, sodass dieses schon nicht zur Eröffnung zugelassen sein konnte. Dieses Nebenangebot, soweit ein solches zu einem späteren Zeitpunkt abgegeben worden sei, wäre zwingend von der weiteren Wertung auszuschließen.

17

Unter Berücksichtigung des einzigen bekannt gemachten Zuschlagskriteriums wäre der Zuschlag auf ihr Angebot zu erteilen gewesen.

18

Mit Anwaltsschriftsatz vom 04.08.2005 beantragt die Antragstellerin,

den Nachprüfungsantrag auf den Feststellungsantrag umzustellen, nachdem der Zuschlag vor Wirksamwerden eines Zuschlagsverbots bereits erteilt worden sei.

19

Sie vertritt jetzt die Auffassung, dass sie keine positive Kenntnis von einem Verstoß, die überhaupt die Rügeobliegenheit auslösen könnte, besessen habe. Ihre Rüge habe sie rein vorsorglich erhoben, um sich alle Rechtsschutzmöglichkeiten zu erhalten. Eine positive Kenntnis scheide schon deshalb aus, weil ihr keine Einsicht in die Vergabeakte gewährt und ihr auch sonst keine weiteren Informationen zugänglich gemacht worden seien. Sie habe nur vermuten können, dass das Angebot, auf das der Zuschlag erteilt werden sollte und auch ist, bei dem Eröffnungstermin wohl nicht vorgelegen habe, da es nicht erwähnt worden sei. Die notwendige positive Kenntnis fehle mithin. Insoweit bestünde auch keine Rügeobliegenheit.

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Im Übrigen müsse auch der Auftraggeber beweisen, dass sie, die Antragstellerin bereits im Zeitpunkt der von ihr prophylaktisch erhobenen Rüge Kenntnis von denjenigen Umständen gehabt hätte, die bei ihr den zwingenden Schluss auf einen Verstoß gegen vergaberechtliche Vorschriften nahe gelegt hätten.

21

Positive Kenntnis von einem Verstoß gegen Vergabevorschriften könne daher erst durch anwaltliche Beratung zu Stande kommen. Die Antragstellerin könne daher, da sie erst am 22.07.2005 anwaltlich beraten wurde, allenfalls in grob fahrlässiger Unkenntnis von einem Vergaberechtsverstoß gewesen sein. Dies schade jedoch nach ständiger Rechtssprechung nicht.

22

Soweit eine Rüge überhaupt für erforderlich gehalten werde, sei sie auch unverzüglich i.S.d. § 107 Abs. 3 GWB erfolgt. Zwar normiere das GWB keine eigene Definition des Begriffs, jedoch würden den Bietern in der Regel zwei Wochen bis zur Erklärung einer Rüge nach der Rechtsprechung eingeräumt. Diese Frist habe sie noch nicht einmal ausgenutzt, da sie bereits eine Woche nach Erhalt der Information nach § 13 VgV die Entscheidung gerügt habe.

23

Die Antragstellerin beantragt:

  1. 1.

    festzustellen, dass bei Durchführung des Vergabeverfahrens zur Vergabe des Auftrages zum Neubau des Kreishauses ..., ..., Vergabenummer: HJA 25 (Tischlerarbeiten 2/Einbauschränke) eine Rechtsverletzung vorgelegen hat;

  2. 2.

    die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten für die Antragstellerin für notwendig zu erklären;

  3. 3.

    dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens sowie die Kosten für die zweckentsprechende Rechtsverfolgung gem. §§ 124 Abs. 4 GWB, 80 VwVfG - einschließlich der vorprozessualen Anwaltskosten - aufzuerlegen.

24

Der Auftraggeber beantragt,

den Antrag zurückzuweisen,

25

Der Auftraggeber weist darauf hin, dass er den Auftrag für das Gewerk Tischlerarbeiten bereits am 22.07.2005 erteilt hat.

26

Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt.

27

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Vergabeakte und die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

28

II.

Der Antrag auf Nachprüfung des Vergabeverfahrens ist unzulässig, da die Antragstellerin die von ihr geltend gemachten vermeintlichen Vergaberechtsverstöße nicht unverzüglich im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB gegenüber dem Auftraggeber gerügt hat, überdies die Rüge nicht den inhaltlichen Anforderungen an eine Rüge genügt.

29

Bei dem Auftraggeber handelt es sich um eine Gebietskörperschaft und somit um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 98 Nr. 1 GWB. Der streitbefangene Auftrag übersteigt auch den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gem. § 100 Abs. 1 GWB. Danach gilt der 4. Teil des GWB nur für solche Aufträge, die die Auftragswerte erreichen oder überschreiten, die durch Rechtsverordnung nach § 127 GWB festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich um das Los Tischlerarbeiten 2 / Einbauschränke im Rahmen der Baumaßnahme Neubau eines Kreishauses für den Landkreis ... und damit um Leistungen im Rahmen eines Bauauftrages gem. § 1 VOB/A. Für Bauaufträge gilt gem. § 2 Nr. 4 VgV ein Schwellenwert von 5 Mio. Euro. Werden Bauaufträge, wie im vorliegenden Fall, losweise ausgeschrieben, so gilt gem. § 2 Nr. 7 VgV ein Schwellenwert von 1 Mio. Euro oder bei Losen unterhalb 1 Mio. Euro deren addierter Wert ab 20 % des Gesamtwertes aller Lose. Nach dem Ergebnis der streitbefangenen Ausschreibung erreicht der Wert des ausgeschriebenen Loses Tischlerarbeiten 2 / Einbauschränke zwar weder den Schwellenwert von 5 Mio. Euro noch den Wert von 1 Mio. Euro. Der Auftraggeber hat das streitbefangene Los jedoch EU-weit im offenen Verfahren gem. § 3 a VOB/A ausgeschrieben. Dadurch hat der Auftraggeber den rechtlichen Rahmen (§§ 102 ff. GWB) für die Nachprüfung festgelegt. Die Wirkung dieser Festlegung besteht in einer Selbstbindung des Auftraggebers, dass er das verfahrensgegenständliche Los nicht dem 20%-Kontingent nach § 2 Nr. 7 VgV zuordnet, für welches das Nachprüfungsverfahren nicht eröffnet wäre (vgl. BayObLG, Beschluss v. 20.08.2001, Az.: Verg 9/01; BGH NJW 1998, S. 3636 ff., 3638 [BGH 08.09.1998 - X ZR 48/97]). Das Vergabeverfahren ist damit einer Nachprüfung durch die Vergabekammer grundsätzlich zugänglich.

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Die Antragstellerin ist auch gem. § 107 Abs. 2 GWB antragsbefugt, da sie als Bieterin ein Interesse am Auftrag hat und eine Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht, indem sie vorträgt, dass sie mit der Ablehnung ihres Haupt- und Nebenangebotes nicht einverstanden sei.

31

Voraussetzung für die Antragsbefugnis nach § 107 Abs. 2 GWB ist, dass das antragstellende Unternehmen einen durch die behauptete Rechtsverletzung entstandenen oder drohenden Schaden darlegt. Das bedeutet, dass der Antragsteller diejenigen Umstände aufzeigen muss, aus denen sich schlüssig die Möglichkeit eines solchen Schadens ergibt. Die diesbezüglichen Anforderungen oder die Darlegungslast dürfen nicht überspannt werden (vgl. Byok/Jaeger, VergabeR, § 107, Rn. 677). Die Antragstellerin hat ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis dargelegt. Sie hat zumindest schlüssig vorgetragen, dass sie bei aus ihrer Sicht erforderlicher Einbeziehung ihres Angebotes in eine vergaberechtskonforme Angebotswertung zumindest eine Chance auf den Zuschlag gehabt hätte. Es ist nicht erforderlich, dass die Antragstellerin auch schlüssig darlegt, dass sie bei vergabekonformem Verhalten des Auftraggebers den Zuschlag auch tatsächlich erhalten hätte (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 13.04.1999, Az.: Verg 1/99, S. 24).

32

Die Antragstellerin ist jedoch nicht ihrer Pflicht gem. § 107 Abs. 3 GWB nachgekommen, vor Anrufung der Vergabekammer die behaupteten Verstöße gegen die Vergabevorschriften gegenüber dem Auftraggeber unverzüglich zu rügen.

33

Ausweislich der Niederschrift über die Verdingungsverhandlung waren zwei Vertreter der Antragstellerin im Gegensatz zur Beigeladenen bei der Angebotsöffnung anwesend. Der Antragstellerin war insoweit bekannt, dass der Auftraggeber zum Angebot der Beigeladenen nicht vermerkt hatte, dass diese auch ein Nebenangebot vorgelegt hat.

34

Soweit sich die Antragstellerin mit ihrem Nachprüfungsantrag gegen die Angebotswertung des Auftraggebers und das Ergebnis dieser Wertung wendet, hat sie die vermeintlichen Vergaberechtsverstöße nicht unverzüglich im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB gerügt, so dass der Vergabekammer eine materielleÜberprüfung dieser Angebotswertung mangels Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags und damit auch des Fortsetzungsfeststellungsantrages verwehrt ist.

35

Das Informationsschreiben des Auftraggebers gem. § 13 VgV vom 07.07.2005 ist am selben Tag vormittags von dem Auftraggeber versandt worden, so dass die Antragstellerin seit dem 08.07.2005 bekannt gewesen sein dürfte, dass der Zuschlag auf das Nebenangebot der Beigeladenen erfolgen sollte. Seit diesem Zeitpunkt hat die Antragstellerin Kenntnis darüber erlangt, dass die Wertung des Auftraggebers zu dem Ergebnis geführt hat, dass der Zuschlag auf das Nebenangebot der Beigeladenen erteilt werden soll und dass der Zuschlag nicht auf das Angebot der Antragstellerin erteilt werden könne, weil sie nicht das wirtschaftlichste Angebot gem. § 25 Nr. 3 VOL/A abgegeben habe. Der Auftraggeber hat diese Entscheidung zwar knapp, aber im Einklang mit der Rechtsprechung ausreichend damit begründet, dass ein wirtschaftlicheres Nebenangebot der Beigeladenen vorliege und das Angebot der Antragstellerin nicht das wirtschaftlichste gewesen ist.

36

Spätestens der Hinweis auf das vermeintlich wirtschaftlichere Nebenangebot der Beigeladenen hätte die Antragstellerin veranlassen müssen, diese Entscheidung des Auftraggebers zumindest zu hinterfragen und spätestens innerhalb einer Frist von 3 Tagen gegenüber dem Auftraggeber zu rügen. Die Antragstellerin hat jedoch erst am Freitag, den 15.07.2005, abends um 23.14 Uhr und damit nach Geschäftsschluss an den Auftraggeber ihre Rüge abgesandt, so dass die Rüge den Auftraggeber erst am Montag, den 18.07.2005, und damit 7 Tage nach Eingang des Informationsschreibens bei der Antragstellerin zugegangen ist (vgl. Palandt-Heinrichs, BGB, 62. Auflage, § 130, Rn. 7, 7 a, m.w.N.). Das Erfordernis der Unverzüglichkeit ist damit nicht gewahrt.

37

Bei der Vorschrift des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB handelt es sich um eine Präklusionsregel unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben. Der Bieter soll Vergabefehler nicht auf Vorrat sammeln. Die Rügepflicht des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB entsteht, sobald ein Bieter oder Bewerber im Vergabeverfahren einen vermeintlichen Fehler erkennt. Vorausgesetzt ist die positive Kenntnis des Anbieters von den Tatsachen. Werden etwa beim Durcharbeiten des Leistungsverzeichnisses Ungenauigkeiten festgestellt, liegt bereits positive Kenntnis vor (vgl. Byok/Jaeger, a.a.O., § 107, Rn. 681). Ausreichend für die positive Kenntnis eines Mangels im Sinne von § 107 Abs. 3 GWB ist bereits das Wissen um einen Sachverhalt, der den Schluss auf die Verletzung vergaberechtlicher Bestimmungen erlaubt und es bei vernünftiger Betrachtung gerechtfertigt erscheinen lässt, das Vergabeverfahren als fehlerhaft zu beanstanden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.08.2002, Az.: Verg 9/00). Die Frage, ob eine Rüge noch unverzüglich nach positiver Kenntniserlangung erfolgt, hängt vom Einzelfall ab. Nach der Rechtsprechung muss die Rüge angesichts der kurzen Fristen, die im Vergaberecht allgemein gelten, grundsätzlich binnen ein bis drei Tagen erfolgen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 18.09.2003, Az.: 1 Verg. 4/03; Bechtold, GWB, § 107, Rn. 2). Eine Rügefrist von zwei Wochen, die in der Rechtsprechung als Obergrenze anerkannt wird (vgl. OLG Düsseldorf, NZBau 2000, S. 45 ff. [OLG Düsseldorf 13.04.1999 - Verg 1/99]) kann einem Bieterunternehmen allenfalls dann zugestanden werden, wenn eine verständliche Abfassung der Rüge durch eine schwierige Sach- und/oder Rechtslage erschwert wird und die Inanspruchnahme fachkundiger Hilfe erfordert. Die Voraussetzungen für die Ausschöpfung der von der Rechtsprechung maximal zugestandenen Rügefrist liegen im vorliegenden Fall jedoch nicht vor.

38

Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin nicht die Entscheidung zu Gunsten der Beigeladenen gerügt hat, sondern sich lediglich allgemein mit der Absage ohne genauere Erklärung bzw. Gründe für die Ablehnung des Haupt- und Nebenangebotes nicht einverstanden erklärte. Die Rüge lautete wörtlich:

"Wir bestätigen den Eingang Ihres Informations- und Absageschreibens vom 07. Juli d. J. und erklären uns mit der Absage ohne eine genauere Erklärung bzw. Gründe für die Ablehnung unseres Haupt- und Nebenangebotes nicht einverstanden.

Gemäß VOB/A § 22 sowie VOB/A - SKR § 11 beantragen wir die Einsicht in die entsprechenden Unterlagen und bitten um Bekanntgabe eines möglichen Termins."

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Insoweit warf der Inhalt des Informationsschreibens unter Berücksichtigung der Tatsache, dass zwei Vertreter der Antragstellerin bei der Verdingungsverhandlung anwesend waren und ihnen somit bekannt war, dass lt. Niederschrift die Beigeladene kein Nebenangebot vorgelegt hatte, keine derart komplizierten Sach- oder Rechtsfragen auf, dass die vorherige Befassung der Angelegenheit mit einem Rechtsanwalt vor Absetzung der Rüge erforderlich gewesen wäre. Dieser Widerspruch zwischen den Feststellungen in der Verdingungsverhandlung und der Begründung in der Information nach § 13 VgV musste die Antragstellerin als fachkundiges Unternehmen veranlassen, unverzüglich eine Rüge, die grundsätzlich formlos möglich ist, an den Auftraggeber abzusetzen. Dies ist jedoch noch nicht einmal in telefonischer Form auch nur ansatzweise geschehen, obgleich an den Inhalt einer Rüge nur sehr geringe Anforderungen gestellt werden. Weder muss sie ausdrücklich als solche bezeichnet werden, noch ist es erforderlich, mit ihr die verletzte Vergabevorschrift zu benennen. Sie muss aber den vermeintlichen Vergabeverstoß bezeichnen und die Aufforderung an die Vergabestelle enthalten, Abhilfe zu schaffen (vgl. Kullack in: Heiermann/Riedl/Rusam, VOB, 10. Auflage, § 107 GWB, Rdn. 28, m.w.N.).

40

Unter Zugrundelegung dieses zutreffenden Maßstabs mangelt es dem Rügeschreiben der Antragstellerin, das bereits nicht unverzüglich abgesetzt wurde, zudem an der Beanstandung eines konkreten Vergaberechtsverstoß, die den Auftraggeber in die Lage versetzen soll, einen beanstandeten Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Der bloße Hinweis, dass man nicht mit der Absage ohne genaue Erklärungen bzw. Gründe für die Ablehnung des Haupt- und Nebenangeboteszu erkennen und nicht einverstanden sei, genügt nicht den Rügeerfordernissen. Eine ordnungsgemäße Rüge hat eine konkrete und deutliche Beanstandung zur Voraussetzung, die eine Verletzung von Vergabevorschriften erkennen lässt und die Vergabestelle in die Lage versetzt, einen beanstandeten Fehler zu berichtigen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 05.03.2002, VergabeR 2002, 394 ff.). Der gerügte Verstoß muss konkret benannt werden und mit einer Sachverhaltsdarstellung verbunden sein (OLG Koblenz, Beschluss vom 10.08.2000, NZBau 2000, 535 f. [OLG Koblenz 10.08.2000 - 1 Verg 2/00]). Die Rüge muss zudem die Vergabestelle auffordern, den gerügten Verstoß abzustellen (Thüringer OLG, Beschluss vom 22.11.2000, VergabeR 2001, 52 ff.). Diesen inhaltlichen Anforderungen wird das Rügeschreiben vom 15.07.2005 nicht gerecht. Der Auftraggeber konnte aufgrund dieses Rügeschreibens nicht erkennen bzw. aufklären, warum die Antragstellerin mit der beabsichtigten Vergabe nicht einverstanden ist.

41

Ferner erfolgte die allgemein gefasste Rüge vom 15.07.2005 per Telefax am gleichen Tage, jedoch erst nach Geschäftsschluss versandte und frühestens am 18.07.2005 beim Auftraggeber eingegangene Rüge nicht unverzüglich im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB.

42

Soweit die Antragstellerin in ihrem Nachprüfungsantrag behauptet, dass eine Rüge entbehrlich sei, da sie positive Kenntnis von einem Verstoß gegen Vergabevorschriften erst durch anwaltliche Beratung am 22.07.2005 erhalten habe, ist festzustellen, dass die Rügeobliegenheit nur für solche Vergaberechtsfehler entfällt, die der antragstellenden Partei erst während des laufenden Nachprüfungsverfahrens bekannt werden (OLG Düsseldorf Beschluss vom 08.05.2002, Az. Verg 4/02, Beschluss vom 25.05.2002, Az. Verg 5/02). Einer gesonderten Rüge bedarf es nach Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens nicht mehr (VK Düsseldorf, Beschluss vom 30.09.2002, Az. VK-26/2002-I). Unter Zugrundelegung dieser zutreffenden Feststellungen ergibt sich, dass die Rügepflicht nur entbehrlich ist, wenn

  • bereits das Nachprüfungsverfahren anhängig ist,
  • gerügte Verstöße vom Auftraggeber wiederholt werden oder sich fortsetzen,
  • der Auftraggeber bereits im Hinblick auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß eindeutig und unmissverständlich erklärt hat, dass er sein Vergabeverhalten nicht ändern will,
  • wenn eine vorherige Rüge zu einer Rechtsschutzverkürzung zum Nachteil des Bieters führen könnte oder
  • es um nicht korrigierbare Vergabemängel geht (vgl. Reidt in Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht Kommentar, § 107 GWB, Rdn. 36 ff).

43

Diese Fallkonstellationen liegen hier eindeutig nicht vor, sodass eine Rüge nicht entbehrlich war.

44

Der Nachprüfungsantrag war gemäß §§ 107 Abs. 2 Satz 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 GWB als unzulässig zurückzuweisen. Der Nachprüfungsantrag vom 22.07.2005, eingegangen mit Telefax bei der Vergabekammer am selben Tage um 13.43 Uhr, erfolgte am gleichen Tage wie die Versendung des Auftragsschreibens; der Auftraggeber erteilte den Auftrag exakt 14 Kalendertage nach Beginn der Informationsfrist. Soweit die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 04.08.2005, eingegangen mit Telefax bei der Vergabekammer am selben Tage, beantragt festzustellen, dass bei der Durchführung des Vergabeverfahrens eine Rechtsverletzung vorgelegen hat, war der Antrag demnach abzulehnen. Für diesen Antrag war kein Raum mehr, da der ursprüngliche Nachprüfungsantrag bereits unzulässig war.

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III.

Kosten

46

Die Kostenentscheidung folgt aus § 128 GWB. Nach Art. 7 Nr. 5 des 9. Euro - Einführungsgesetzes (BGBl. 58/2001 vom 14.11.2001, S. 2992 ff.) vom 10.11.2001 werden die

47

DM-Angaben in § 128 GWB für die von der Vergabekammer festzusetzende Gebühr durch Angaben in Euro im Verhältnis 1: 2 ersetzt, so dass die regelmäßige Mindestgebühr nunmehr 2.500 Euro, die Höchstgebühr 25.000 Euro bzw., in Ausnahmefällen, 50.000 Euro beträgt.

48

Es wird eine Gebühr in Höhe von 2561,00 EUR gemäß § 128 Abs. 2 GWB festgesetzt.

49

Der zu Grunde zu legende Auftragswert beträgt nach dem Ergebnis der streitbefangenen Ausschreibung 273.282,75 EUR. Dieser Betrag entspricht den Kosten nach dem rechnerisch geprüften Angebot der Antragstellerin für das Los und damit ihrem Interesse am Auftrag.

50

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes vom 09.02.1999 in der z. Zt. gültigen Fassung vom 01.01.2003. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 EUR (§ 128 (2) GWB) eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 EUR zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 25.000 EUR (§ 128 (2) GWB) eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. EUR (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996-1998) gegenübergestellt. Bei einer gewerteten Angebotssumme von 273.282,75 EUR für das Hauptangebot ergibt sich eine Gebühr von 2.561,00 EUR.

51

Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein.

52

Die im Tenor verfügte Kostentragungspflicht ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren i. S. d. § 128 Abs.3 Satz 1 GWB im vollen Umfang unterlegen ist.

53

Die Antragstellerin wird aufgefordert, den Betrag von 2.561,00 EUR unter Angabe des Kassenzeichens

54

...innerhalb einer Frist von einem Monat nach Rechtskraft dieses Beschlusses auf folgendes Konto zu überweisen:

55

NORD/LB (BLZ 250 500 00) Konto 106035355

Dr. Raab
Schulte
Bullerdiek