Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.01.2012, Az.: 11 ME 420/11
Möglichkeit der Verwirkung des Rechts zum Verlangen der Fortsetzung eines nach § 92 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 VwGO eingestellten Verfahrens
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 23.01.2012
- Aktenzeichen
- 11 ME 420/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 10167
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2012:0123.11ME420.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 7 VwGO
- § 92 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 VwGO
Fundstellen
- DÖV 2012, 328
- NVwZ-RR 2012, 533-535
- ZAR 2012, 443
Amtlicher Leitsatz
Das Recht, die Fortsetzung eines nach § 92 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 VwGO eingestellten Verfahrens zu beantragen, unterliegt der Verwirkung.
Gründe
Der 1974 geborene Antragsteller erhielt im August 2003 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach dem Inkrafttreten desAufenthaltsgesetzes als Niederlassungserlaubnis fort galt. Durch Urteil des Landgerichts Hannover vom 19. Juli 2007 wurde er wegen unerlaubten Handeltreibens mit Kokain in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Antragsgegnerin wies den Antragsteller daraufhin mit dem in diesem Verfahren streitigen, sofort vollziehbaren Bescheid vom 28. April 2008 aus. Ein hiergegen gerichteter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes blieb im August 2008 erfolglos (- 1 B 2870/08 -). Ein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO (- 1 B 3408/09 -) wurde im August 2009 zurückgenommen. Anfang August 2008 wurde der Antragsteller aus der Strafhaft entlassen. Seiner für den 1. September 2008 vorgesehenen Abschiebung entzog er sich durch Untertauchen. Nach den Angaben der Antragsgegnerin wurde er nachfolgend zur Fahndung ausgeschrieben, diese aber später offenbar ausgesetzt, nachdem sich der Antragsteller im September 2009 wieder gemeldet hatte. In dem gegen den Ausweisungsbescheid gerichteten Klageverfahren (vormals 1 A 2810/08, nach einem Kammerwechsel zum 1. Januar 2010: 13 A 35/10) machte die Antragsgegnerin unter dem 29. September 2009 einen Vergleichsvorschlag, zu dem sich der damals durch Rechtsanwalt D. vertretene Antragsteller nicht äußerte. Bei einer Vorsprache im Ausländeramt der Antragsgegnerin am 2. Oktober 2009 wurde dem Antragsteller erklärt, dass seine Niederlassungserlaubnis erloschen sei und er sich illegal im Bundesgebiet aufhalte. Die Annahme einer angebotenen Duldung (für drei Monate) lehnte er ab. Unter dem 8. Januar 2010 erließ der Berichterstatter im Klageverfahren eine Betreibensaufforderung an den Antragsteller, die seinem Bevollmächtigten am 11. Februar 2010 zugestellt wurde. Eine Reaktion hierauf unterblieb auch nach der Mitteilung der Antragsgegnerin, nunmehr den Aufenthalt des Antragsstellers tatsächlich beenden zu wollen. Mit Beschluss vom 13. April 2010 wurde das Klageverfahren eingestellt. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen wurden von der Antragsgegnerin nachfolgend aus Gründen, die aus der Ausländerakte nicht ersichtlich sind, offenbar nicht ergriffen, sondern der Antragsteller (erst) im Oktober 2011 zur Klärung seiner ausländerrechtlichen Angelegenheiten aufgefordert.
Daraufhin stellte der Antragsteller durch seinen neuen Bevollmächtigten am 24. November 2011 einen Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens (13 A 35/10) und ergänzend einen (weiteren) Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO (13 B 5103/11). Zur Begründung berief er sich auf die Unwirksamkeit der Betreibensaufforderung und eine nunmehr zu seinen Gunsten geänderte Gefahrenprognose, nachdem seine zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe erlassen worden sei. Das Verwaltungsgericht sah die Betreibensaufforderung als wirksam und damit die Ausweisung als bestandskräftig an und lehnte deshalb den Antrag nach§ 80 Abs. 7 VwGO mit Beschluss vom 25. November 2011 ab. Zur Begründung seiner Beschwerde vertieft der Antragsteller sein Vorbringen zur Unwirksamkeit der Betreibensaufforderung und beruft sich ergänzend darauf, dass sein früherer Bevollmächtigter vorübergehend seine Zulassung als Rechtsanwalt verloren habe und ihm deshalb dessen Handeln bzw. Unterlassen nicht zurechenbar sei.
Mit diesem Vorbringen entspricht der Antragsteller schon nicht den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO an die Darlegung der Beschwerdegründe. Danach muss er sich nämlich nicht nur mit der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzen, sondern auch die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist. Ist - wie hier - der Antrag nach § 80 VwGO vom Verwaltungsgericht bereits als unzulässig abgelehnt worden, erfordert§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO daher nicht nur die Darlegung, warum der Antrag entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts zulässig sei, sondern auch Ausführungen dazu, warum er begründet sei (vgl. nur Kuhlmann, in: Wysk (Hrsg.), VwGO, § 146, Rn. 26; OVG Sachsen - Anhalt, Beschl. v. 27.5.2008 - 2 M 72/08 -, jeweils m.w.N.). An Letzterem mangelt es hier, da der Antragsteller innerhalb der maßgeblichen Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO zur Frage der Begründetheit des Antrages nach § 80 Abs. 7 VwGO nicht Stellung genommen hat.
Im Übrigen ist dem Verwaltungsgericht zwar nicht in der Begründung, aber in der Sache in der Annahme zu folgen, dass der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO keinen Erfolg hat.
Dem Antragsteller dürfte zunächst schon das Rechtsschutzbedürfnis für die Anrufung des Gerichts fehlen. Auch wenn grundsätzlich keine Verpflichtung besteht, sich vor Stellung eines Antrages nach § 80 Abs. 7 VwGO vorab an die Behörde zu wenden, so gilt vorliegend angesichts der Besonderheiten des Einzelfalles etwa anderes. Denn die Antragsgegnerin hatte dem Antragsteller schon vor über zwei Jahren einen Vergleichsvorschlag gemacht, danach die Ausweisung - wie an sich geboten - nicht zwangsweise durchgesetzt und ihn schließlich im Oktober 2010 nochmals ausdrücklich aufgefordert, sich zur Klärung seiner Ausländerangelegenheit und zur Vermeidung der Einleitung seiner Abschiebung bei ihr zu melden, was er nach Aktenlage unterlassen hat. Er hätte sich also zunächst gegenüber der Antragsgegnerin auf eine zu seinen Gunsten veränderte Sachlage berufen und diese ggf. näher darlegen müssen.
Daneben steht der Zulässigkeit des Antrages aber jedenfalls die Bestandskraft der Ausweisung entgegen (vgl. zu dieser Voraussetzung eines Antrages nach § 80 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 80, Rn. 130). Diese Bestandskraft ist wegen Mängeln der Betreibensaufforderung zwar noch nicht im April 2010 (1), spätestens aber Ende April 2011 durch Verwirkung des Rechts, eine Fortsetzung des Klageverfahrens zu beantragen (2), eingetreten.
(1) Eine fiktive Antragsrücknahme nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO setzt voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Antragstellers bestanden haben. Hinreichend konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Antragstellers, aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Antragstellers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Nicht geboten ist insoweit ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss (vgl. BVerwG, Beschl. v. 7.7.2005 - 10 BN 1/05 -, [...], m.w.N.).
Hier hatte der Antragsteller im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung im Februar 2010 zwar seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletzt, da er zum Vergleichsvorschlag der Antragsgegnerin ohne Angabe von Gründen keine Stellungnahme abgegeben hatte. Es fehlten aber zu diesem Zeitpunkt hinreichende Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses an einer Sachentscheidung über seine Ausweisung, da diese für seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet existentielle Bedeutung hatte, er sich nach Aktenlage zum damaligen Zeitpunkt im Bundesgebiet an seiner Meldeanschrift aufhielt und seine Anfechtungsklage jedenfalls nach dem Inhalt des Vergleichsvorschlages der Antragsgegnerin auch nicht völlig aussichtslos erschien. Lagen damit im Februar 2010 die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO für den Erlass einer Betreibensaufforderung nicht vor, so gilt die Klage - mangels fristgerechter Reaktion des Antragstellers - nicht bereits als im April 2010 zurückgenommen.
(2) Die Bestandskraft des Ausweisungsbescheides ist aber spätestens Ende April 2011 durch Verwirkung des Rechts, eine Fortsetzung des Klageverfahrens zu beantragen, eingetreten.
Besteht - wie hier - Unklarheit, ob eine Klage als zurückgenommen gilt, so ist der Rechtsstreit - zunächst zur Klärung der Frage nach der Wirksamkeit einer Klagerücknahme - auf Antrag eines Beteiligten fortzuführen. Dieses Antragsrecht unterliegt jedoch wie andere prozessuale Rechte auch der Verwirkung (vgl. zum Folgenden: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 27.10.2005 - 13 A 3802/05 -, [...]; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 92, Rn. 77, m.w.N.), d.h. es ist verwirkt, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist, der Berechtigte untätig bleibt, obwohl vernünftigerweise von ihm eine Reaktion zu erwarten war, und sich die Gegenpartei daher auf das Untätigwerden eingestellt hat; als Zeitraum für eine solche Untätigkeit wird in Anlehnung an die Fristen der §§ 58 Abs. 2, 60 Abs. 3 VwGO üblicherweise ein Jahr angenommen, die in § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO für eine vergleichbare Fallgestaltung im finanzgerichtlichen Verfahren auch ausdrücklich geregelt ist. Diese Erwägungen gelten auch für Anfechtungsklagen gegen eine Ausweisung, da im allgemeinen Interesse Rechtsklarheit darüber bestehen muss, ob eine solche Ausweisung nun bestandskräftig und der betroffene Ausländer damit ausreisepflichtig ist bzw. sich andernfalls ggf. sogar strafbar (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) im Bundesgebiet aufhält, und zudem eine zeitnahe Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung auch im Hinblick darauf geboten ist, dass sich die Rechtmäßigkeit der Ausweisung grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt des (Tatsachen-)Gerichts bemisst.
Hieran gemessen hätte der Antragsteller, nachdem er bzw. sein Bevollmächtigter, dessen Handeln bzw. Unterlassen ihm nach§ 173 VwGO i.V.m. § 85 ZPO zugerechnet wird, innerhalb der Frist von zwei Monaten auf die Betreibensaufforderung nicht reagiert hatte, zumindest nachfolgend binnen Jahresfrist ab April 2010 gegenüber dem Gericht oder zumindest der Antragsgegnerin zum Ausdruck bringen müssen, dass das Klageverfahren fortgeführt werden solle. Dies ist jedoch unterblieben. Der Antragsteller kann sich insoweit auch nicht erfolgreich darauf berufen, er habe mangels Kenntnis von der Betreibensaufforderung dazu keinen Anlass gesehen. Denn die Betreibensaufforderung ist seinem - damals und bis Mai 2010 auch noch als Rechtsanwalt zugelassenen - Bevollmächtigten zugestellt worden, so dass er sich dessen Wissen zurechnen lassen. Unabhängig hiervon hätte er sich auch selbst um den Fortgang des Klageverfahrens bemühen müssen. Denn die Antragsgegnerin hatte ihm bereits im Oktober 2009 ausdrücklich persönlich erklärt, dass seine Niederlassungserlaubnis durch die - in den vom Antragsteller selbst vorgelegten Berichten der Bewährungshelferin sogar wiederholt als "rechtskräftig" bezeichnete - Ausweisung erloschen sei (§§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und er sich illegal im Bundesgebiet aufhalte. Gleichwohl hat sich der Antragsteller nach Aktenlage mehr als zwei Jahre nicht um seinen Aufenthaltsstatus gekümmert, sondern sogar ausdrücklich die ihm zunächst in Aussicht gestellte Duldung abgelehnt.
Schließlich wäre der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO aber auch in der Sache nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand nicht begründet. Zwar stellt der Erlass des zur Bewährung ausgesetzten Strafrestes einen veränderten Umstand i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. Die Ausländerbehörde hat aber unabhängig von der Entscheidung der Strafgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr nach Maßgabe der Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu treffen. Insoweit reichen jedoch allein der Straferlass sowie die seit der Begehung der zu Grunde liegenden Straftaten verstrichene Zeit nicht aus, um eine Wiederholungsgefahr auszuschließen. Insoweit ist vielmehr das gesamte Verhalten des Antragstellers zu berücksichtigen. Der dazu nach§ 82 Abs. 1 AufenthG mitwirkungspflichtige Antragsteller hat aber schon nicht vorgetragen und erst recht nicht durch Vorlage von geeigneten Nachweisen belegt, dass er seine eigene Abhängigkeit von Betäubungsmitteln überwunden und sich aus seinem früheren kriminellen Umfeld gelöst hat sowie nunmehr in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt eigenständig zu sichern. Zudem ist zu berücksichtigen, dass er sich nach Aktenlage der Abschiebung zunächst durch Untertauchen entzogen hat, danach seit über zwei Jahren illegal und damit strafbar im Bundesgebiet aufhält und das Ermittlungsverfahren wegen eines im Oktober 2009 ggf. begangenen Verstoßes gegen§ 201 StGB nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden ist.