Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.11.2013, Az.: 8 ME 157/13

Einstweiliger Rechtschutz im Zusammenhang mit der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen; Fortbestand der familiären Gemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem minderjährigen ledigen deutschen Kind

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.11.2013
Aktenzeichen
8 ME 157/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 50256
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:1128.8ME157.13.0A

Fundstellen

  • AUAS 2014, 2-4
  • FStBW 2014, 587-589
  • FStHe 2014, 462-465
  • FStNds 2014, 177-179
  • GV/RP 2014, 462-464
  • InfAuslR 2014, 48-49
  • KomVerw/B 2014, 289-291
  • KomVerw/LSA 2014, 298-300
  • KomVerw/MV 2014, 293-295
  • KomVerw/S 2014, 299-301
  • KomVerw/T 2014, 293-296

Amtlicher Leitsatz

Zum Fortbestand der familiären Gemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem minderjährigen ledigen deutschen Kind bei Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft und der vorübergehenden Unterbrechung von Umgangskontakten.

[Gründe]

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. Die von dem Antragsteller mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren zu beschränken hat, gebieten eine Änderung der angefochtenen Entscheidung.

Auf den Antrag des Antragstellers ist die aufschiebende Wirkung seiner vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg am 22. Juli 2013 - 4 A 172/13 - erhobenen Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. Juni 2013 anzuordnen.

Hat ein Rechtsbehelf kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung, so kann das Verwaltungsgericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Ein solcher Antrag hat Erfolg, wenn die vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, einerseits und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung andererseits zugunsten des Antragstellers ausfällt. Ein solches überwiegendes Interesse kann in den Fällen, in denen dem Rechtsbehelf - wie hier nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG - schon von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukommt, nur dann angenommen werden, wenn der Rechtsbehelf des Antragstellers offensichtlich oder doch zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird oder wenn sonstige Umstände gegeben sind, die es rechtfertigen, ausnahmsweise - in Abweichung von der gesetzlich getroffenen Wertung - dem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, 93, 94; BVerwG, Beschl. v. 14.4.2005 - BVerwG 4 VR 1005.04 -, BVerwGE 123, 241, 244 f.).

Im vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen, unter denen die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist, erfüllt.

Der angefochtene Bescheid des Antragsgegners vom 20. Juni 2013, mit dem er den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen abgelehnt und ihm die Abschiebung in den Kosovo angedroht hat, ist voraussichtlich rechtswidrig.

Die Verlängerung einer nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zur Personensorge erteilten Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 28 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch voraus, nur hierum streiten die Beteiligten, dass die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen ledigen deutschen Kind fortbesteht (vgl. Senatsbeschl. v. 14.10.2010 - 8 PA 234/10 -, [...] Rn. 14 f.; v. 28.7.2009 - 8 ME 111/09 -, [...] Rn. 3 f. m.w.N.). Diese einfachgesetzliche Bestimmung ist unter Berücksichtigung der sich aus Art. 6 GG für den Schutz der Familie ergebenden verfassungsrechtlichen Wertungen auszulegen. Danach kann der Träger des Grundrechts aus Art. 6 GG beanspruchen, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen, und zwar durch Betrachtung des Einzelfalles, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Allein formal-rechtliche familiäre Bindungen lösen dabei die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 GG noch nicht aus. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Das unveränderte Bestehen einer solchen tatsächlichen Verbundenheit mit seinem Sohn, dem am B. geborenen deutschen Staatsangehörigen C., hat der Antragsteller hier entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts hinreichend glaubhaft gemacht.

Von der Geburt bis zum Mai 2012 haben der Antragsteller, sein Sohn und die Kindesmutter in einem gemeinsamen Haushalt gelebt und tatsächlich eine familiäre Lebensgemeinschaft geführt. Der Antragsteller übte die ihm mit der Kindesmutter zustehende Personensorge für den gemeinsamen Sohn tatsächlich aus und übernahm Elternverantwortung.

Im Mai 2012 wurde die häusliche Gemeinschaft, nachdem die Kindesmutter mit dem Sohn aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, zwar aufgegeben. Eine familiäre Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn bestand aber fort. Der Antragsteller hat mit der eidesstattlichen Versicherung vom 2. Oktober 2013 hinreichend glaubhaft gemacht, dass er bis zum November 2012 regelmäßigen Umgang mit seinem Sohn pflegte. Danach holte er seinen Sohn regelmäßig an jedem zweiten Wochenende bei dessen Großeltern ab und verbrachte die Zeit von Freitag, 16 Uhr, bis Sonntag, 18 Uhr, mit ihm. Der Sohn übernachtete auch bei dem Antragsteller. Bis zum November 2012 zahlte der Antragsteller monatlich 200 EUR Kindesunterhalt. Bei derartigen bloßen Umgangskontakten unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung zwar typischerweise deutlich von dem Verhältnis des Kindes zur täglichen Betreuungsperson. Dass der Umgangsberechtigte nur ausschnittsweise am Leben des Kindes Anteil nehmen kann und keine alltäglichen Erziehungsentscheidungen trifft, steht der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft auch nicht grundsätzlich entgegen. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann vielmehr gerade die Ausübung des Umgangsrechts die Erfüllung der Elternfunktion im Sinne des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG unter den für den umgangsberechtigten Elternteil nicht änderbaren Beschränkungen bedeuten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009, a.a.O.: 14tägige betreute Besuchskontakte zwischen nicht sorgeberechtigtem Vater und dem bei der Mutter lebenden zweijährigen Kind; BVerfG, Beschl. v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -, [...], Rn. 39: 14tägige Besuchskontakte zwischen tlw. sorgeberechtigtem Vater und dem in einer Pflegefamilie lebenden zweijährigen Kind; BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, FamRZ 2006, 187: 14tägige Besuchskontakte zwischen nicht sorgeberechtigtem Vater und dem bei der Mutter lebenden fünfjährigen Kind). Denn die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch messbare Betreuungsbeiträge der Eltern geprägt, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung. Ist daher die Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind getragen von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes und besteht ein regelmäßiger Umgang des ausländischen Elternteils, der dem auch sonst Üblichen entspricht, kann von einer familiären Gemeinschaft ausgegangen werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.12.2008, a.a.O., [...] Rn. 35; Beschl. v. 8.12.2005, a.a.O., S. 188 f.).

Erst seit Ende November 2012 verweigerte die Kindesmutter dem Antragsteller den weiteren Umgang mit dem gemeinsamen Sohn. Der Senat geht aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Antragstellers für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aber davon aus, dass die hiermit verbundene Aufhebung der familiären Gemeinschaft nur vorübergehender Art war und ohne Einfluss auf den Fortbestand der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen blieb (vgl. zur Abgrenzung zwischen dauerhafter und nur vorübergehender Aufhebung einer familiären Gemeinschaft: GK-AufenthG, Stand: Mai 2008, § 27 Rn. 75 f. m.w.N.). Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, sich umgehend und nachhaltig um die Fortsetzung der Umgangskontakte bemüht zu haben. Ausweislich seiner eidesstattlichen Versicherung vom 2. Oktober 2013 beauftragte er bereits im Dezember 2012 einen Rechtsanwalt mit der Durchsetzung des Umgangsrechts und nahm im Januar 2013 Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt des Landkreises D. auf und bat dieses um Vermittlung. Das Jugendamt des Landkreises D. regte einen durch die Lebensberatungsstelle E. begleiteten Umgang an, dem die Kindesmutter zunächst auch zustimmte, diesen letztlich aber verweigerte. Im hierauf von dem Antragsteller eingeleiteten familiengerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht E. - 10 F 317/13 UG - ist am 15. August 2013 ein Zwischenvergleich geschlossen worden, wonach der Antragsteller das Recht auf einen begleiteten Umgang mit seinem Sohn haben soll und dieser Umgang einmal wöchentlich für mehrere Stunden bei der Lebensberatungsstelle E. stattfinden soll. Der Verfahrensbeistand des Sohnes erklärte mit Schreiben vom 5. November 2013, dass auf der Grundlage des Zwischenvergleichs bis zum 26. August 2013 Umgangskontakte stattgefunden und in der Folge nach den Angaben der Kindesmutter nur Erkrankungen Umgangskontakte verhindert hätten. Weiter betonte der Verfahrensbeistand die Wichtigkeit der Umgangskontakte für den Sohn des Antragstellers und wies auf die Unzugänglichkeit der Kindesmutter hin. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erweist sich die Unterbrechung der Umgangskontakte, die offenbar maßgeblich auf das Verhalten der Kindesmutter zurückzuführen ist, als nur vorübergehend. Eine solche nur vorübergehende Unterbrechung von Umgangskontakten ist nicht geeignet, eine bestehende familiäre Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind aufzuheben.

Im Übrigen ist dem privaten Interesse des Antragstellers an einem jedenfalls vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet auch unter Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 8 EMRK ergebenden Schutzwirkungen ein das öffentliche Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung überwiegendes Gewicht beizumessen. Denn die sofortige Aufenthaltsbeendigung würde dem Antragsteller die effektive Führung des von ihm betriebenen familiengerichtlichen Verfahrens auf Durchsetzung des bestehenden Umgangsrechts mit seinem Sohn unzumutbar erschweren und auch dessen Ausgang in unzulässiger Weise vorwegnehmen. Derart wirkende aufenthaltsrechtliche Maßnahmen stehen regelmäßig im Widerspruch zu der sich aus dem Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Verpflichtung der Gerichte, die verfahrensrechtliche Durchsetzung von Grundrechten zu sichern (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 29.9.2005 - 10 CE 05.2067 -, [...] Rn. 4 f.; OVG Saarland, Beschl. v. 5.3.2001 - 9 W 7/00 -, [...] Rn. 37 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 104 f.; grundlegend BVerfG, Beschl. v. 9.8.1990 - 2 BvR 1128/88 -, [...] Rn. 13), und sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. EGMR, Urt. v. 11.7.2000 - 29192/95 -, NVwZ 2001, 547 Rn. 62 [EGMR 11.07.2000 - 29192/95] (Ciliz ./. Niederlande): "a negative obligation to refrain from measures which cause family ties to rupture").

Dem Antragsteller ist auf seinen Antrag gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, da seine Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zur Aufbringung der Kosten der Prozessführung nicht in der Lage ist. Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 ZPO.

Die Kostenentscheidung im Hauptsacheverfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Im Prozesskostenhilfeverfahren ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Der Ansatz von Gerichtsgebühren für dieses Verfahren ist im Gerichtskostengesetz nicht vorgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO nicht erstattet.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.1 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.