Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.03.2022, Az.: 13 LA 56/22
Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes; Asylgrund, materieller; Ausländerbehörde; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Richtigkeit; Zweifel, ernstliche
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.03.2022
- Aktenzeichen
- 13 LA 56/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59882
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 10.01.2022 - AZ: 4 A 264/20
Rechtsgrundlagen
- § 24 Abs 2 AsylVfG 1992
- § 42 AsylVfG 1992
- § 60 Abs 5 AsylVfG 1992
- § 60 Abs 7 AsylVfG 1992
- Art 8 Abs 1 MRK
- § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 4. Kammer - vom 10. Januar 2022 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert des Zulassungsverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 4. Kammer - vom 10. Januar 2022, mit dem dieses seine Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und Aufhebung des dies ablehnenden Bescheids des Beklagten vom 2. September 2020 (Blatt 9 ff. der Gerichtsakte) abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.
Der vom Kläger allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne dieser Bestimmung sind zu bejahen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, BVerfGE 125, 104, 140 - juris Rn. 96). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, 543 - juris Rn. 9). Eine den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügende Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert, dass im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, dass und warum Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des erkennenden Verwaltungsgerichts bestehen sollen. Hierzu bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.8.2017 - 13 LA 188/15 -, juris Rn. 8; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 124a Rn. 80 jeweils m.w.N.).
Der Kläger wendet gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ein, das Verwaltungsgericht habe eine Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu Unrecht abgelehnt. Ein Wahlrecht des Ausländers, verfolgungsbedingte humanitäre Gründe im asylrechtlichen Verfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder im aufenthaltsrechtlichen Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen, dürfe allenfalls dann verneint werden, wenn solche verfolgungsbedingten Gründe (noch) geltend gemacht würden. Er - der Kläger - habe sich zwar zunächst darauf berufen, durch den türkischen Staat wegen der politischen Einstellung seiner Familie benachteiligt zu werden und eine Einziehung zum Wehrdienst zu befürchten. Spätestens im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht habe er aber "auch weitere humanitäre Gründe vorgetragen …, die es rechtfertigen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt" (Zulassungsbegründungsschriftsatz v. 7.3.2022, S. 3 = Blatt 91 der Gerichtsakte). So habe er darauf hingewiesen, sich vollständig in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert zu haben und auch wegen der Bindung zu seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen nicht mehr in die Türkei zurückkehren zu können. Mit diesem Vorbringen dürfe er nicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens verwiesen werden.
Nach dem aufgezeigten Maßstab setzen diese Einwände die in der erstinstanzlichen Entscheidung getroffene Feststellung, der Kläger könne die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG nicht beanspruchen (Urt. v. 10.1.2022, Umdruck S. 4 ff.), keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln aus.
Hierfür ist es unerheblich, ob der Kläger mit seinem Begehren auf das asylrechtliche Verfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verwiesen werden durfte. Denn für die vom Kläger geltend gemachten Abschiebungsverbote wegen des Schutzes seines im Bundesgebiet geführten Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK bietet § 25 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit § 60 Abs. 5 AufenthG von vorneherein keine Rechtsgrundlage. Denn § 60 Abs. 5 AufenthG verweist nur insoweit auf die Europäische Menschenrechtskonvention, als sich aus ihr Abschiebungsverbote ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote"; vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013 - BVerwG 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12, 27 - juris Rn. 35 f.; Urt. v. 11.11.1997 - BVerwG 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322, 324 ff. - juris Rn. 8 ff. (zu § 53 Abs. 4 AuslG a.F.); Hailbronner, a.a.O., § 60 Rn. 54 (Stand: August 2016)). Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil andernfalls ein geschütztes Rechtsgut im Bundesgebiet verletzt würde ("inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse"), wie hier ein nach Art. 8 EMRK geschütztes Privat- oder Familienleben des Klägers in Deutschland, fallen hingegen nicht unter § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 103).
Im Übrigen ist es aber auch in der Sache nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht den Kläger mit seinem Begehren auf das asylrechtliche Verfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verwiesen hat (Urt. v. 10.1.2022, Umdruck S. 4 ff.). Denn neben den auf das Bundesgebiet bezogenen Umständen hat der Kläger eben "auch weitere" (Zulassungsbegründungsschriftsatz v. 7.3.2022, S. 3 = Blatt 91 der Gerichtsakte) Umstände einer verfolgungsbedingten Gefahr für Leib oder Leben im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland geltend gemacht, die einen materiellen Asylgrund vermitteln können, der zunächst im Rahmen eines Asylverfahrens geltend zu machen ist. In diesem Asylverfahren obliegt gemäß § 24 Abs. 2 AsylG dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Der Kläger hat insoweit kein Wahlrecht zwischen asylrechtlichem und aufenthaltsrechtlichem Schutzbegehren, da es weder dem Beklagten noch den Verwaltungsgerichten zusteht, ohne die positive Bindungswirkung des § 42 AsylG von einer zielstaatsbezogenen Gefahr auszugehen (vgl. Senatsbeschl. v. 26.9.2018 - 13 ME 159/18 -, V.n.b. Umdruck S. 8 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 29.3.2011 - 8 LB 121/08 -, juris Rn. 40).
Schließlich ergeben sich - ohne dass dies im erstinstanzlichen Verfahren oder mit dem Zulassungsantrag ausdrücklich geltend gemacht worden wäre - aus dem Vorbringen des Klägers auch keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür, dass ihm die Ausreise aus dem Bundesgebiet im Sinne des § 25 Abs. 5 (Sic!) Satz 1 AufenthG wegen des Schutzes seines Privatlebens im Bundesgebiet nach Art. 8 EMRK (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 81 ff. m.w.N.) oder wegen des Schutzes seines Familienlebens im Bundesgebiet nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 9.7.2018 - 13 ME 212/18 -, V.n.b. Umdruck S. 4 f.; v. 9.8.2017 - 13 ME 167/17 -, juris Rn. 18 m.w.N.) rechtlich unmöglich sein könnte. Insbesondere kann der Kläger nicht als derart im Bundesgebiet verwurzelt und als in seinem Heimatland entwurzelt angesehen werden (vgl. zum kumulativen Erfordernis einerseits einer Integration im Bundesgebiet und andererseits einer ausgeschlossenen (Re-)Integration im Zielstaat einer Abschiebung: Senatsbeschl. v. 13.7.2018 - 13 ME 373/17 -, juris Rn. 38), dass ihm ein Verlassen des Bundesgebiets unter Aufgabe seines hier geführten Privat- und Familienlebens unmöglich oder unzumutbar (vgl. zur Maßgeblichkeit dieser beiden Aspekte: EGMR, Urt. v. 5.7. 2005 - 46410/99 -, InfAuslR 2005, 450 f. (Üner ./. Niederlande)) erschiene.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).