Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.03.2022, Az.: 11 OB 375/21

Verfügung, prozessleitend

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.03.2022
Aktenzeichen
11 OB 375/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59840
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - AZ: 10 A 5471/21

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine gerichtliche Verfügung, mit der die vom Beklagten übersandten Schriftsätze und Akten ohne weitere Kenntnisnahme und Prüfung an den Beklagten zurückgesandt worden sind zum Zweck der Prüfung, ob diese geheimhaltungsbedürftige Tatsachen enthalten, ist eine prozessleitende Verfügung im Sinne von § 146 Abs. 2 VwGO, die nicht mit der Beschwerde angefochten werden kann.

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts Hannover - Berichterstatterin der 10. Kammer - vom 1. November 2021 wird verworfen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin gegen die angefochtene Verfügung des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.

Die Klägerin hat am 22. September 2021 bei dem Verwaltungsgericht Klage erhoben, mit der sie die Feststellung begehrt, dass ihre längerfristige Observation durch die Beklagte im Oktober/November 2020, vermutlich im Zeitraum vom 26. Oktober 2020 bis 6. November 2020, rechtswidrig gewesen ist. Zugleich hat sie beantragt, ihr Akteneinsicht in den Verwaltungsvorgang der Beklagten zu gewähren. Mit Verfügung vom 1. November 2021 hat die Berichterstatterin der Kammer die von der Beklagten übersandten Schriftsätze und Akten ohne weitere Kenntnisnahme und Prüfung an die Beklagte zurückgesandt mit der Bitte zu prüfen, ob diese dem Gericht tatsächlich so überreicht werden sollen. Die Klägerin hat am 15. November 2021 Beschwerde gegen die gerichtliche Verfügung vom 1. November 2021 erhoben.

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und damit zu verwerfen. Bei der Verfügung vom 1. November 2021 handelt es sich nicht um eine beschwerdefähige Entscheidung.

Nach § 146 Abs. 1 VwGO steht den Beteiligten und den sonst von der Entscheidung Betroffenen gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, des Vorsitzenden oder Berichterstatters, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu. Dies gilt jedoch u.a. nicht für prozessleitende Verfügungen, die nach § 146 Abs. 2 VwGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden können. Um eine solche handelt es sich hier.

Prozessleitende Verfügungen im Sinne von § 146 Abs. 2 VwGO sind Entscheidungen und Maßnahmen des Gerichts, die sich auf den äußeren, förmlichen Gang des Verfahrens beziehen. Ihnen kommt im Vergleich zu verfahrensbeendenden Entscheidungen nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Der Gesetzgeber hat daher für sie die Beschwerdemöglichkeit nach § 146 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen, da eine Verzögerung des Rechtsstreits durch Eröffnung einer gegen diese Entscheidungen gegebenen Beschwerdemöglichkeit nicht sinnvoll ist. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung soll das Gericht in die Lage versetzt werden, die dem zweckmäßigen Ablauf des Verfahrens und der Vorbereitung der abschließenden Entscheidung dienenden Anordnungen ohne weitere rechtsmittelbedingte Verzögerung zu treffen, um anschließend in der Sache entscheiden zu können. Die Beteiligten können sodann gegen die Endentscheidung Rechtsmittel einlegen, dadurch sind ihre berechtigten Interessen gewahrt (zum Vorstehenden etwa: VGH BW, Beschl. v. 27.3.2015 - 1 S 481/15 - juris Rn. 2; SächsOVG, Beschl. v. 24.4.2017 - 5 E 130/16 - juris Rn. 3; Rudisile, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 146 Rn. 10; Kaufmann, in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, Stand: 1.1.2020, § 146 Rn. 2; Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 21 f.).

Nach diesen Maßstäben handelt es sich bei der Verfügung vom 1. November 2021 um eine prozessleitende Verfügung im Sinne von § 146 Abs. 2 VwGO. Die Rücksendung der vom Beklagten übersandten Schriftsätze und Akten ohne weitere Kenntnisnahme und Prüfung mit der Bitte zu prüfen, ob diese dem Gericht tatsächlich so überreicht werden sollen, betrifft den weiteren äußeren, förmlichen Gang des Verfahrens. Dass der Klägerin nicht antragsgemäß unmittelbar Einsicht in die übermittelten Vorgänge der Beklagten gewährt wurde, führt zu keiner anderen Betrachtung. Dabei bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner abschließenden Bewertung, inwieweit Entscheidungen im Zusammenhang mit einer Gewährung von Akteneinsicht insbesondere nach § 100 VwGO im Allgemeinen der Beschwerde unterliegen (eine Beschwerdemöglichkeit außerhalb des Anwendungsbereichs des § 99 VwGO ablehnend etwa Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 100 Rn. 8 ff.; in diesem Sinne wohl auch Kaufmann, in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, Stand: 1.1.2020, § 146 Rn. 5; Kautz, in: Fehling/Kastner/Störmer, VwGO, 5. Aufl. 2021, § 146 Rn. 12; differenzierend: Rudisile, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 146 Rn. 10 i.V.m. § 100 Rn. 31 f.; Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 146 Rn. 23). Selbst wenn mit der weitergehenden differenzierenden Auffassung unterschieden würde, ob eine Verfahrenshandlung in Rede steht, die in die Rechtsstellung eines Beteiligten erheblich, insbesondere materiell-rechtlich, eingreift (Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 146 Rn. 21 f., 23; SächsOVG, Beschl. v. 17.12.2003 - 3 BS 399/03 - juris Rn. 3), wäre die Beschwerdefähigkeit der angefochtenen Verfügung vom 1. November 2021 zu verneinen.

Die Verfügung vom 1. November 2021 greift nicht erheblich in die Rechtsstellung der Klägerin ein. Dabei ist vorliegend zu berücksichtigen, dass durch die verfügte Rücksendung der Schriftsätze und Akten an die Beklagte diese nicht endgültig an die Beklagte zurückgesandt worden sind. Vielmehr sind sie nur zum Zwecke der Prüfung zurückgesandt worden, ob diese geheimhaltungsbedürftige Tatsachen enthalten. Zudem sind die Schriftsätze und Akten der Beklagten zu einem Zeitpunkt zurückgesandt worden, bevor sie überhaupt Bestandteil der Gerichtsakte geworden sind, auf die allein sich das Akteneinsichtsrecht der Klägerin nach § 100 Abs. 1 VwGO erstreckt (dazu Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 100 Rn. 7; Bick, Anmerkung zu BVerwG, Beschl. v. 3.8.2021 - 9 B 48/20 - jurisPR-BVerwG 24/2021 unter D.; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 100 Rn. 1).

Diese Umstände haben zur Folge, dass die durch die Berichterstatterin verfügte Rücksendung von vornherein nicht mit einer Verweigerung von Akteneinsicht gleichzustellen ist (vgl. zu einem solchen Fall OVG BB, Beschl. v. 27.2.2003 - 4 E 10/03 - juris Rn. 2; BVerwG, Beschl. v. 3.8.2021 - 9 B 48/20 - juris Rn. 37). Wie erwähnt, sind hier die Unterlagen nicht endgültig, sondern nur zum Zwecke der Prüfung an die Beklagte zurückgesandt worden und diese soll die Klägerin, wie inzwischen auch geschehen ist, nach erneuter Übersendung im Rahmen der Akteneinsicht erhalten. Auch sind die zurückgesandten Akten schon nicht Bestandteil der Gerichtsakten geworden, so dass sich das Akteneinsichtsrecht nach § 100 VwGO noch nicht auf sie erstreckt hat. In der in Rede stehenden Verfahrenskonstellation ist das Anliegen der Klägerin, gleichwohl Akteneinsicht in Verwaltungsakten in einer bestimmten Form zu erhalten, vergleichbar mit derjenigen, in der ein Anspruch auf Beiziehung bestimmter Akten geltend gemacht wird. Ein solcher Anspruch ist indes nicht anerkannt (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschl. v. 11.3.2004 - 6 B 71/03 - juris Rn. 10, m.w.N.; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 100 Rn. 1; Posser in: Posser/Wolff, VwGO Stand: 1.10.2021, § 100 Rn. 14; Rudisile, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 100 Rn. 8). Entsprechend ist das Unterlassen einer Beiziehung von Akten oder eine entsprechende Verweigerung des Gerichts nicht beschwerdefähig (BayVGH, Beschl. v. 3.3.2016 - 4 C 16.307 - juris Rn. 13, m.w.N.; OVG LSA, Beschl. v. 10.1.2012 - 1 O 2/12 - juris Rn. 3). Für den hier vorliegenden Fall, in dem das Verwaltungsgericht die Beiziehung der Akten in einer bestimmten Form abgelehnt hat, kann nichts anderes gelten (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 11.3.2004 - 6 B 71/03 - juris Rn. 10).

Die weiteren Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem bereits zitierten Beschluss vom 3. August 2021 (- 9 B 48/20 - juris Rn. 37) führen zu keiner anderen Betrachtung. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Fall offengelassen, ob ein Gericht bereits vorgelegte Akten im Einzelfall zum Zwecke der nachträglichen Schwärzung oder nachträglichen Antragstellung nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO wieder an die Behörde zurücksenden darf, weil ein solcher Fall dort nicht vorlag. Dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts sind erst recht keine Ausführungen zu der hier in Rede stehenden Konstellation zu entnehmen, dass übersandte Akten schon nicht Bestandteil der Gerichtsakten werden und sich das Akteneinsichtsrecht nach § 100 VwGO nicht auf sie erstreckt (vgl. dazu auch Bick, Anmerkung zu BVerwG, Beschl. v. 3.8.2021 - 9 B 48/20 - jurisPR-BVerwG 24/2021 unter D.).

Dass gegen die gerichtliche Verfügung vom 1. November 2021 keine unmittelbare Beschwerde möglich ist, verstößt nicht gegen die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthaltene Garantie eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Selbst eine aus Sicht eines Verfahrensbeteiligten zu Unrecht unterlassene Aktenbeiziehung kann ebenso wie eine erfolgte Beschränkung der Akteneinsicht ggf. im Rahmen eines Rechtsmittels gegen die Hauptsacheentscheidung geltend gemacht werden (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschl. v. 3.8.2021 - 9 B 48/20 - juris Rn. 37; BayVGH, Beschl. v. 3.3.2016 - 4 C 16.307 - juris Rn. 13, m.w.N.; OVG LSA, Beschl. v. 10.1.2012 - 1 O 2/12 - juris Rn. 3).

Ob die Beschwerde auch mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist, weil die Klägerin nach der Rücksendung der Unterlagen durch die Beklagte inzwischen Akteneinsicht erhalten hat, kann dahingestellt bleiben.

Ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankommt, merkt der Senat im Übrigen an, dass vieles dafür spricht, dass das Vorgehen der Berichterstatterin in der Sache nicht zu beanstanden ist. Ein anderes Vorgehen hätte bedeuten können, dass ein behördlicher Fehler in unzulässiger Weise vertieft worden wäre (vgl. dazu Bick, Anmerkung zu BVerwG, Beschl. v. 3.8.2021 - 9 B 48/20 - jurisPR-BVerwG 24/2021 unter D.; Roth, NVwZ 2003, 544, 546).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil im Beschwerdeverfahren für den Fall der Zurückweisung der Beschwerde lediglich eine pauschale Gebühr i.H.v. 66,00 EUR anfällt (siehe Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).