Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.03.2022, Az.: 13 ME 507/21

Auslegung und Anwendung des Tatbestandsmerkmals der "ausreichenden Existenzmittel" eines nicht erwerbstätigen Freizügigkeitsberechtigten; Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines Unionsbürgers

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.03.2022
Aktenzeichen
13 ME 507/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 14338
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 12.11.2021

Fundstellen

  • DÖV 2022, 515
  • InfAuslR 2022, 222-227
  • NordÖR 2022, 321-322

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Das Tatbestandsmerkmal der "ausreichenden Existenzmittel" in § 4 Satz 1 FreizügG/EU (i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG - Freizügigkeitsrichtlinie bzw. Unionsbürgerrichtlinie -) kann nicht mit dem Merkmal des "gesicherten Lebensunterhalts" im Sinne der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG gleichgesetzt werden, sondern bedarf unionsrechtskonformer Auslegung und Anwendung.

  2. 2.

    Auch wenn Art. 8 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG es den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbietet, feste Beträge für diejenigen Existenzmittel festzulegen, die sie im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie als ausreichend betrachten, ist bei § 4 Satz 1 FreizügG/EU in besonderen Anlassfällen (§ 5 Abs. 3 FreizügG/EU) - etwa beim aufgetretenen Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder Sozialhilfe - in einem ersten Schritt zu prüfen, ob und wie die Regelbedarfe des SGB II bzw. SGB XII auf inländischem Sozialhilfeniveau auch ohne aktuellen tatsächlichen Bezug derartiger Leistungen gedeckt sind. Verneinendenfalls ist dem Unionsbürger in einem zweiten Schritt Gelegenheit zu geben nachzuweisen, dass er einen individuell geringeren Bedarf hat und dass und wie dieser gedeckt wird. Gelingt mindestens einer dieser beiden Nachweise nicht, ist wegen Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG in einem dritten Schritt das Ausmaß der (absehbaren) Inanspruchnahme von Grundsicherungs- oder Sozialhilfeleistungen im Bundesgebiet zu beziffern und abstrahierend auf seine (Un-)Angemessenheit im Verhältnis zum Sozialhilfesystem des Aufnahmemitgliedstaats Deutschland hin zu bewerten.

  3. 3.

    Nehmen der nicht erwerbstätige Unionsbürger und seine Familienangehörigen aktuell tatsächlich keine Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII in Anspruch, scheidet eine Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) einer Verlustfeststellung (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) bezüglich ihres Freizügigkeitsrechts aus § 4 Satz 1 FreizügG/EU aus, wenn die in Leitsatz 2. beschriebene Prüfung noch nicht durchgeführt wurde.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagende Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 5. Kammer - vom 12. November 2021 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage 5 A 4168/21 der Antragstellerin vom 15. Juni 2021 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2021 wird hinsichtlich der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 12. November 2021 hat Erfolg.

Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht mit diesem Beschluss das Begehren der Antragstellerin, gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung deren Klage 5 A 4168/21 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2021 (für sofort vollziehbar erklärte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU sowie auf Polen bezogene kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung, Bl. 5 ff. der GA) wiederherzustellen bzw. anzuordnen, abgelehnt. Die von der Antragstellerin mit Beschwerdebegründung vom 14. Dezember 2021 (Bl. 142 ff. der GA) hiergegen dargelegten Gründe greifen durch und gebieten eine Änderung des angefochtenen Beschlusses im Sinne der Antragstellerin.

1. Das gilt zunächst, soweit es die im Bescheid vom 27. Mai 2021 getroffene Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU angeht; insoweit ist die aufschiebende Wirkung der Klage 5 A 4168/21 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGOwiederherzustellen.

Ob die von der Antragsgegnerin erlassene Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügt, kann dahinstehen. Denn jedenfalls geht die in materieller Hinsicht vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin zugunsten der Antragstellerin aus, weil bei der im Eilrechtsstreit lediglich gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage offene Erfolgsaussichten der Klage 5 A 4168/21 in der Hauptsache bestehen. Derzeit ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung des Senats als Tatsachengericht (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015 - BVerwG 1 C 22.14 -, NVwZ-RR 2015, 910, juris Rn. 11) nicht verlässlich abzuschätzen, ob die auf § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU gestützte Feststellung, die Antragstellerin habe ihr Freizügigkeitsrecht im Bundesgebiet verloren, im Hauptsacheverfahren sich als rechtswidrig und rechtsverletzend erweisen und ex tunc aufgehoben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder aber als rechtmäßig bestätigt werden wird. Einiges spricht dafür, dass der Antragstellerin, die derzeit tatsächlich keine Sozialhilfe in Anspruch nimmt, jedenfalls noch ein Recht zur Einreise und zum Aufenthalt für nicht erwerbstätige Unionsbürger aus § 4 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU zusteht; wäre dies so, käme es auf die weitere Rüge im Beschwerdeverfahren, ob die Verlustfeststellung auch an Ermessensfehlern leidet, nicht mehr an. In diesem Zusammenhang stellt sich eine Reihe an ungeklärten tatsächlichen Fragen, denen im Hauptsacheverfahren nachgegangen werden muss (in diesem Sinne für einen vergleichbaren Fall OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.8.2018 - OVG 2 S 7.18, OVG 2 M 5.18 -, juris Rn. 8; Bayerischer VGH, Beschl. v. 16.1.2009 - 19 C 08.3271 -, NVwZ-RR 2009, 697, juris Rn. 18). Vor dem Hintergrund offener Erfolgsaussichten und wegen der erheblichen Folgen der Verlustfeststellung für die Position der Antragstellerin im Bundesgebiet besteht derzeit jedenfalls kein überwiegendes besonderes Vollzugsinteresse, das ein (weiteres) Entfallen der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO rechtfertigte.

a) Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bei Aufenthalten im Bundesgebiet von mehr als drei Monaten (arg. e § 2 Abs. 5 Freizüg/G/EU) nur dann, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Aufgrund der Darlegungen der Antragstellerin spricht derzeit Einiges dafür, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.

aa) Sie ist eine polnische Staatsangehörige und damit eine Unionsbürgerin, die sich im Bundesgebiet nicht erwerbstätig aufhält. Ihr ausreichender Krankenversicherungsschutz ist durch die Bescheinigung der D. vom 31. August 2021 über eine dortige freiwillige Mitgliedschaft seit dem 30. Mai 2021 mit der Versicherungsnummer E. (vgl. Bl. 149 der GA) belegt.

bb) Zweifelhaft ist jedoch, ob im Hauptsacheverfahren die Annahme des Verwaltungsgerichts (vgl. S. 6 des angefochtenen Beschlusses) und der Antragsgegnerin (vgl. S. 4 des Bescheides v. 27.5.2021, Bl. 7 der GA) trägt, die Antragstellerin verfüge nicht über "ausreichende Existenzmittel".

(1) Das Tatbestandsmerkmal der "ausreichenden Existenzmittel" in § 4 Satz 1 FreizügG/EU kann nicht mit dem Merkmal des "gesicherten Lebensunterhalts" aus dem allgemeinen Aufenthaltsrecht (vgl. diese allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 AufenthG) gleichgesetzt werden (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.2.2016 - 3 B 267/15 -, InfAuslR 2016, 173, juris Rn. 13; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 4 Rn. 25), welches die Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln in der Weise meint, dass auch rechnerisch ein zumindest ergänzender Anspruch auf als "schädlich" anzusehende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und Sozialhilfe (SGB XII) nicht bestehen darf.

(2) Vielmehr bedarf das Merkmal "ausreichende Existenzmittel" aufgrund vielfältiger Vorgaben des primären und sekundären Rechts der Europäischen Union insbesondere aus Art. 21 Abs. 1 AEUV (Unionsbürgerfreizügigkeit) und aus der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (Freizügigkeitsrichtlinie bzw. Unionsbürgerrichtlinie) einer unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung.

Maßgeblichen Einfluss nehmen hierbei neben Art. 21 Abs. 1 AEUV, der wegen der Grenzen ("Beschränkungen und Bedingungen") des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger im Wesentlichen auf die Verträge und das einschlägige Sekundärrecht - wie die Freizügigkeitsrichtlinie - Bezug nimmt, insbesondere die Artt. 7 Abs. 1 lit. b), 8 Abs. 4 sowie 14 Abs. 2 und Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie. Hieraus ergeben sich folgende Anforderungen an das mitgliedstaatliche Recht wie den § 4 Satz 1 FreizügG/EU:

(a) Nach Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie steht das Aufenthaltsrecht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen nur solange zu, wie sie die in Artt. 7, 12 und 13 der Freizügigkeitsrichtlinie genannten Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie auch, dass der nicht erwerbstätige Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts "keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen", und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen, wobei an die Herkunft der Mittel keine Anforderungen gestellt werden (vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.2004 - Rs. C-200/02 - [Zhu und Chen], DVBl. 2005, 100, juris Rn. 30; bekräftigt durch EuGH, Urt. v. 16.7.2015 - Rs. C-218/14 - [Singh u.a.], NVwZ 2015, 1431, juris Rn. 74). Eine systematische Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, findet gemäß Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie nicht statt; allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 der Freizügigkeitsrichtlinie in bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel an der (weiteren) Erfüllung der Voraussetzungen bestehen ("besonderen Anlassfällen", vgl. § 5 Abs. 3 FreizügG/EU), eine Prüfung durchführen. Einen besonderen Anlass stellt insbesondere der (aufgetretene) Bezug von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII dar (vgl. Kurzidem, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, FreizügG/EU § 5 Rn. 12 (Stand: 1. Januar 2021)).

Nach dem durch Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie vorgegebenen Maßstab ("keine ... in Anspruch nehmen müssen"), dem ein sicherstellendes und prognostisches Element innewohnt, reicht es einerseits für die Annahme der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel nicht aus, dass der Unionsbürger Sozialhilfeleistungen tatsächlich nicht in Anspruch nimmt, weil die bloße Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen allein noch nicht positiv belegt, dass ausreichende Existenzmittel vorhanden sind, wenn unklar bleibt, aus welchen Mittel die Existenz tatsächlich gesichert gewesen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015, a.a.O., Rn. 22; Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU § 4 Rn. 9 (Stand: 118. Akt. Januar 2021); a.A. Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, FreizügG/EU § 4 Rn. 11 (Stand: 1. Oktober 2021): Abhängigkeit von Sozialhilfe setze deren tatsächliche Inanspruchnahme voraus; abgeschwächter Sächsisches OVG, Beschl. v. 7.8.2014 - 3 B 507/13 -, NVwZ-RR 2015, 275 [BVerwG 06.11.2014 - BVerwG 1 C 12.14], juris Rn. 13: bei tatsächlicher Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen bestehe eine Vermutung zugunsten ausreichender Existenzmittel).

(b) Andererseits kann umgekehrt (anders als bei der "Sicherung des Lebensunterhalts" in §§ 2 Abs. 3, 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 29.11.2012 - BVerwG 10 C 4.12 -, BVerwGE 145, 153, juris Rn. 25 m.w.N.) allein aus dem rechnerischen Bestehen eines (ergänzenden) Sozialhilfeanspruchs nach den Regelbedarfen des deutschen Sozialrechts - der gerade nicht durch tatsächlichen Bezug dieser Sozialleistung geltend gemacht wird - nicht schon endgültig darauf geschlossen werden, dass die Existenzmittel nicht ausreichen (a.A. offenbar VG Gelsenkirchen, Urt. v. 7.3.2019 - 8 K 3298/17 -, juris Rn. 39).

Die (bloße) Berechtigung eines wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgers zum (ergänzenden) Bezug von Sozialhilfe kann zwar einen Anhaltspunkt für das Fehlen ausreichender Existenzmittel darstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.9.2013 - Rs. C-140/12 - [Brey], InfAuslR 2013, 448, juris Rn. 63, unter Bezugnahme auf sein Urt. v. 7.9.2004 - Rs. C-456/02 - [Trojani], InfAuslR 2004, 417, juris Rn. 35 f. (noch zu Art. 18 EGV und Richtlinien 90/364/EWG); Bayerischer VGH, Beschl. v. 16.10.2017 - 19 C 16.1719 -, juris Rn. 20).

Dessen Ausräumung im Einzelfall muss jedoch zulässig bleiben. Dies folgt daraus, dass Art. 8 Abs. 4 Satz 1 der Freizügigkeitsrichtlinie es den Mitgliedstaaten ausdrücklich verbietet, einen festen Betrag für diejenigen Existenzmittel festzulegen, die sie als ausreichend betrachten (wie dies etwa durch § 8 Abs. 3 der bis zum 31.12.2004 geltenden deutschen Freizügkeitsverordnung/EG (FreizügV/EG) mit den dort geregelten pauschalierten "Bedarfseckwerten" etwa in der Größenordnung der sozialhilferechtlichen Regelbedarfe erfolgt war, die nicht in das FreizügG/EU übernommen wurden; vgl. hierzu Epe, in: Berlit [Hrsg.], GK-AufenthG, FreizügG/EU § 4 Rn. 22). Genau dies geschähe aber, wenn man bei der Frage, ob ausreichende Existenzmittel im Sinne des § 4 Satz 1 FreizügG/EU vorliegen, strikt eine errechenbare Anspruchsberechtigung auf deutschem Sozialhilfeniveau als Maßstab anlegte.

Vielmehr zwingt die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 8 Abs. 4 Satz 1 der Freizügigkeitsrichtlinie zur Ermittlung eines individuellen Bedarfsbetrags, mit welchem der Betroffene unter Berücksichtigung seiner persönlichen wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Lage sein muss, seine Grundbedürfnisse mit den ihm zur Verfügung stehenden Existenzmitteln zu decken (vgl. Tewocht, a.a.O., FreizügG/EU § 4 Rn. 9, unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 9.1.2007 - Rs. C-1/05 - [Jia], NVwZ 2007, 432, juris Rn. 37). Dieser individuelle Betrag darf nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie lediglich die "Schwellenwerte" (= das Niveau) der inländischen Sozialhilfe oder ersatzweise der Mindestrente in der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaats nicht überschreiten, ist insoweit also nach oben "gedeckelt". Maßgeblich ist dabei der allgemeine Lebensbedarf - Unterkunft, Kleidung, Lebensmittel, Kommunikation - zugrunde zu legen, nicht der volle Betrag sozialer Leistungen, die ggf. zur Deckung besonderer Bedarfe in Anspruch genommen werden können (vgl. Hailbronner, a.a.O., FreizügG/EU § 4 Rn. 14 f.).

(c) Hingegen bildet eine tatsächliche Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger (zumal wenn sie dauerhaft oder gar vollständig erfolgt) ein Indiz dafür, dass ausreichende Existenzmittel diesem nicht verfügbar sind (vgl. Tewocht, a.a.O., FreizügG/EU § 4 Rn. 10). Allerdings ist wiederum zu beachten, dass nach Art. 14 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer "Ausweisung" führen darf, die im deutschen FreizügG/EU ihre Entsprechung in der "Feststellung des Verlusts oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts" findet. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist hierfür vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen erforderlich (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015, a.a.O., Rn. 21 m. zahlr. Nachw. aus der Rspr. des EuGH, namentlich der grundlegenden Urt. v. 19.9.2013 - Rs. C-140/12 - [Brey], InfAuslR 2013, 448, juris Rn. 63, v. 7.9.2004 - Rs. C-456/02 - [Trojani], InfAuslR 2004, 417, juris Rn. 45, v. 17.9.2002 - Rs. C- 413/99 - [Baumbast], NJW 2002, 3610, juris Rn. 91 ff., sowie v. 20.9.2001 - Rs. C-184/99 - [Grzelczyk], InfAuslR 2001, 481, juris Rn. 43 f.; vgl. auch Sätze 1 und 2 des 16. Erwägungsgrundes der Freizügigkeitsrichtlinie: "Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen."), welche die in Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie aufgestellte Voraussetzung der "ausreichenden Existenzmittel" vor allem verhindern soll (vgl. EuGH, Urt. v. 19.9.2013, a.a.O., Rn. 54 - mit Bezug auf den 10. Erwägungsgrund der Freizügigkeitsrichtlinie, der jedoch unmittelbar nur die ersten drei Monate des Aufenthalts betrifft, vgl. hierzu Art. 14 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie - und v. 21.12.2011 - Rs. C-424/10 und C-425/10 - [Ziolkowski und Szeja], NVwZ-RR 2012, 121 [VGH Bayern 17.08.2011 - 4 BV 11.785], juris Rn. 40). Eingedenk dieser unionsrechtlichen Vorgaben und zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in die durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freizügigkeit der Unionsbürger erscheint vor dem Hintergrund der mit der Verlustfeststellung einhergehenden Ausreisepflicht (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU) nach alledem eine unionsrechtskonforme Auslegung des Merkmals "ausreichende Existenzmittel" in § 4 Satz 1 FreizügG/EU dahingehend geboten, dass nur eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfe schädlich erscheint, das heißt zur Nichterfüllung des Merkmals "ausreichende Existenzmittel" führt.

Zur Beurteilung der Frage, ob ein Ausländer Sozialhilfeleistungen in unangemessener Weise in Anspruch nimmt, ist, wie aus Satz 3 des 16. Erwägungsgrundes der Freizügigkeitsrichtlinie hervorgeht, zu prüfen, ob der Betreffende vorübergehende Schwierigkeiten hat, und sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betreffenden und der ihm gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann zudem nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015, a.a.O., Rn. 21 m.w.N.). Das Erfordernis einer derartigen "Vertypung" der Lage des Betroffenen schließt es aus, nur die dem Betroffenen in persona gewährten Sozialleistungen in den Blick zu nehmen und ins Verhältnis zur Gesamtheit der Sozialleistungen in Deutschland zu setzen. Vielmehr ist die für den Betroffenen kennzeichnende Lage zu abstrahieren und die Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit zu bewerten, die entstünde, wenn jeder Unionsbürger in einer so gekennzeichneten Lage eine ausreichende Existenzsicherung und damit (mittelbar) weiterhin den Bezug der zu untersuchenden Sozialleistungen für sich beanspruchen könnte (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.9.2016 - 7 B 10406/16 -, juris Rn. 46).

Insbesondere ein langandauernder und/oder vollumfänglicher Sozialhilfebezug ist indes ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Inanspruchnahme unangemessen ist und der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (vgl. Senatsbeschl. v. 14.2.2022 - 13 ME 498/21 -, juris Rn. 5; Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.2.2016, a.a.O., Rn. 14; Dienelt, a.a.O., FreizügG/EU § 4 Rn. 41; Tewocht, a.a.O., FreizügG/EU § 4 Rn. 10). Denn unter Berücksichtigung einer langjährigen, vollumfänglichen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen würde es eine unangemessene Belastung für das nationale Sozialsystem in seiner Gesamtheit bedeuten, wenn es gleichermaßen für sämtliche Unionsbürger in der abstrahierten (vertypten) Lage des Beziehers geöffnet und damit faktisch so etwas wie eine "Sozialleistungsfreizügigkeit" begründet würde (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 16.10.2017, a.a.O., Rn. 21, OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.9.2016, a.a.O., Rn. 46). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs soll Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - Rs. C-333/13 - [Dano], NVwZ 2014, 1648, juris Rn. 76).

(d) Der unter (c) dargestellte, für eine tatsächliche Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen geltende Maßstab muss nach Ansicht des Senats auch für den Fall angelegt werden, dass tatsächlich keine derartigen Leistungen bezogen werden ((a)), den pauschalierten Bedarf deckende Einnahmen jedoch nicht nachgewiesen sind und ein individuell geringerer Bedarf als die Pauschalsätze nicht erkennbar geworden ist ((b)). Denn dann ist - allerdings nur mangels anderer Erkenntnisse - ein nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen errechenbarer Bedarfsumfang (Regelbedarf) zugrunde zu legen. Ähnliches gilt, wenn ein individuell geringerer Bedarf zwar besteht, aber ebenfalls nicht gedeckt wird. Die sonach in beiden Fällen klaffende "Lücke" zwischen (vollem oder geringerem) Bedarf und Bedarfsdeckung muss dann schon wegen der sicherstellenden Zielrichtung und prognostischen Dimension des Merkmals "ausreichende Existenzmittel" anhand einer "hypothetischen Betrachtungsweise" (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 7.3.2019, a.a.O., Rn. 41) darauf hin bewertet werden, ob durch sie bei einem Verbleib des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat eine "unangemessene Inanspruchnahme" von Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaates zu erwarten ist.

(3) Aus dem Vorstehenden folgt nach Auffassung des Senats folgendes abstraktes "Prüfprogramm" für das Hauptsacheverfahren zu § 4 Satz 1 FreizügG/EU in einem Fall der aktuellen tatsächlichen Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen wie dem vorliegenden, der jedoch wegen der vorgängigen Inanspruchnahme derartiger Leistungen einen "besonderen Anlassfall" im Sinne des Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 der Freizügkeitsrichtlinie in Verbindung mit § 5 Abs. 3 FreizügG/EU darstellt:

(a) Den Ausgangspunkt (und nicht mehr!) bildet in einem ersten Schritt der nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen errechnete Regelbedarf einschließlich der von dem Unionsbürger selbst aufzubringenden Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung. Sodann ist aufzuklären, inwieweit dieser hinreichend dauerhaft und verlässlich gedeckt wird, namentlich aus eigenem Vermögen oder durch eigene Einkünfte oder beitragsbezogene Sozialleistungen, Renten und ergänzende Leistungen auch ausländischer Rententräger, Zuwendungen von Familienangehörigen oder Dritten, auch von karitativen Vereinigungen. Insoweit trifft den Unionsbürger eine Nachweisobliegenheit. Ergibt sich hieraus bereits eine Bedarfsdeckung, sind ausreichende Existenzmittel zu bejahen.

(b) Verneinendenfalls liegt ein errechenbarer ergänzender Sozialhilfeanspruch vor. In einem sich dann anschließenden zweiten Schritt ist dem Unionsbürger der Nachweis zu ermöglichen, dass erstens sein individueller Bedarf an Existenzmitteln einen geringeren Umfang hat, als er sich bei Anlegung der pauschalierten Regelbedarfe nach deutschem Sozialhilferecht ergibt, z.B. weil er sich hinsichtlich bestimmter Teile des Regelsatzes, auch wenn dieser an sich bereits das Existenzminimum wiedergibt, freiwillig in besonderem Maße einschränkt und ein äußerst bescheidenes Leben führt, und dass zweitens er diesen geringeren Bedarf zu decken vermag. Es liegt auf der Hand, dass dieser Nachweis umso schwerer zu führen sein wird, je größer die zwischen errechnetem Bedarf und bedarfsdeckenden Mitteln "klaffende Lücke" ist, wenngleich er nicht ausgeschlossen ist. Individuelle Einschränkungen bei den Kosten für Unterkunft und Heizung sowie bei der Kranken- und Pflegeversicherung sind ebenfalls denkbar, dürften jedoch schnell auf tatsächliche Grenzen nach unten stoßen; in Bezug auf letztere Kostenposition schon deshalb, weil das nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU zusätzlich geforderte Niveau eines "ausreichenden" Krankenversicherungsschutzes nicht gegen besonders günstige Beiträge oder ähnliche Lösungen unterschritten werden darf. Gelingt nach alledem der Nachweis eines geringeren individuellen Bedarfs, der durch belegte Mittel gedeckt werden kann, können diese als "ausreichende Existenzmittel" des Unionsbürgers im Sinne des § 4 Satz 1 FreizügG/EU angesehen werden.

(c) Verneinendenfalls verbleibt es jedenfalls bei einem rechnerischen ergänzenden Sozialhilfeanspruch (ausgehend vom Regelbedarf oder dem nachgewiesenen geringeren Bedarf), der früher oder später in einer tatsächlichen Inanspruchnahme (Geltendmachung) im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie wird münden "müssen". Allerdings ist diese "klaffende Lücke" zu beziffern und in einem dritten Schritt darauf hin zu bewerten, ob sie in der vertypten Lage des Unionsbürgers wegen ihres ggf. nur vorübergehenden Bestehens oder ihres geringen Umfangs unter Berücksichtigung der persönlichen Situation und der weiteren o.g. Kriterien noch als angemessen eingestuft werden kann. Bejahendenfalls liegen gleichwohl "ausreichende Existenzmittel" des nicht erwerbstätigen Unionsbürgers im Sinne des § 4 Satz 1 FreizügG/EU vor; verneinendenfalls ist von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats auszugehen, und die Voraussetzungen eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt aus dieser Norm sind nicht erfüllt.

(4) Im konkreten Fall bedeutet all dies Folgendes:

(a) Es handelt sich um einen Fall der im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zu konstatierenden Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen.

Zwar weist die Aufenthaltshistorie der Antragstellerin darauf hin, dass diese während des weit überwiegenden Zeitraums ihres seit 2012 zu verzeichnenden Aufenthalts im Bundesgebiet allenfalls teilweise in der Lage war, ihre Existenz aus eigener Kraft sicherzustellen, und regelmäßig auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende - und später nach dem SGB XII - Sozialhilfe - angewiesen war. Jedoch bezieht sie nunmehr bereits seit dem 29. Mai 2021 und damit in einem vergleichsweise längeren Zeitraum keine derartigen Leistungen mehr, nachdem der Fachbereich Soziales der Antragsgegnerin unter dem 8. Juni 2021 die Gewährung von Sozialhilfe nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach wegen der hier streitgegenständlichen Verlustfeststellung aufgehoben hat (Anlage K 8, Bl. 147 der GA).

(b) Gleichwohl liegt wegen des bis einschließlich 28. Mai 2021 vorausgegangenen Sozialhilfebezugs ein besonderer Anlassfall im Sinne des § 5 Abs. 3 FreizügG/EU vor, welcher eine Überprüfung des (weiteren) Vorliegens des Merkmals "ausreichende Existenzmittel" rechtfertigt.

(c) Dagegen, dass die Antragstellerin den im Ausgangspunkt nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen errechenbaren Bedarf deckt, ergeben sich für den Senat Bedenken, denen im Hauptsacheverfahren 5 A 4168/21 nachgegangen werden muss.

Bereits nach der diesem Ansatz folgenden als Anlage K 7 eingereichten Bedarfsberechnung vom 4. Mai 2021 (Bl. 145 f. der GA), die als Einkommen eine polnische Rente in Höhe von umgerechnet 361,89 EUR und einkommensmindernde Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 221,49 EUR monatlich berücksichtigt, hätte die Antragstellerin einen Sozialhilfeanspruch von 491,91 EUR monatlich. Selbst wenn ihre Kinder (Frau F. und Herr G.) sie dauerhaft mit jeweils 150 EUR monatlich unterstützten (vgl. deren Erklärungen v. 14.12.2021 als Anlage K 9 auf Bl. 148 der GA), reichten diese Zuwendungen nicht aus, um einen ergänzenden Sozialhilfeanspruch (in Höhe von noch 191,91 EUR monatlich) auszuschließen. Dies gilt auch, wenn man von einem ab dem 1. August 2021 auf insgesamt 184,36 EUR verringerten Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag (vgl. AOK-Bestätigung v. 31.8.2021, Bl. 150 der GA) ausgeht. Dann nämlich wäre der der Antragstellerin nach Bedarfsberechnung grundsätzlich zustehende Sozialhilfeanspruch um den Unterschiedsbetrag in Höhe von 37,13 EUR monatlich geringer und betrüge somit 454,78 EUR monatlich. Auch dann wären Zuwendungen der Kinder der Antragstellerin in Höhe von insgesamt 300 EUR monatlich allenfalls geeignet, diesen auf einen ergänzenden Anspruch in Höhe von 154,78 EUR monatlich zu reduzieren; nicht jedoch, ihn gänzlich auszuschließen. Dieser Umfang entspricht ungefähr dem aktuell monatlich für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge aufzuwendenden Betrag. Wie eingangs ausgeführt, ist diese rein rechnerische Betrachtungsweise bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 4 Satz 1 FreizügG/EU allerdings nicht maßgeblich.

(aa) Jedoch wirft sie zumindest die Frage auf, wie die Antragstellerin tatsächlich derzeit ihre Beiträge zum Erhalt ihres Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes (184,36 EUR monatlich) aufbringt und in Zukunft aufzubringen gedenkt. Diesen Punkt wird das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren aufzuklären haben. Dazu wird auch gehören, inwieweit die von der Antragstellerin auf Seite 3 der Beschwerdebegründung vom 14. Dezember 2021 (Bl. 143 der GA) beschriebene Situation, dass nicht sie, sondern der Staatliche Gesundheitsfonds der Republik Polen für diese Beiträge nach unionsrechtlichem Sozialrecht (nach den Darlegungen der Antragstellerin: gemäß der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009, weil sie als polnische Rentenbezieherin dauerhaft im Ausland lebe) aufkommt, eingetreten ist, das heißt ob der nach ihrem Vorbringen bereits gestellte Antrag auf Erteilung einer Bescheinigung über den Anspruch auf derartige Gesundheitsleistungen an den polnischen Staatlichen Gesundheitsfonds erfolgreich gewesen und die Antragstellerin sodann dauerhaft von der Zahlung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge entlastet ist.

(bb) Überdies wird das Verwaltungsgericht zu prüfen haben, ob von einer dauerhaften und verlässlichen Unterstützung der Antragstellerin durch deren Kinder in Höhe von insgesamt 300 EUR monatlich ausgegangen werden kann.

(cc) Kann beides bejaht werden, ist die Voraussetzung ausreichender Existenzmittel im Sinne des § 4 Satz 1 FreizügG/EU erfüllt.

(d) Fehlt hingegen eines oder beides, wird das Verwaltungsgericht der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren Gelegenheit zu geben haben, einen individuell geringeren Bedarf als den sozialhilferechtlichen Regelbedarf und dessen tatsächliche Deckung nachzuweisen.

Der Senat hält das Gelingen eines derartigen Nachweises bei derzeitiger summarischer Prüfung im Eilbeschwerdeverfahren nicht für ausgeschlossen. Denn die Antragsgegnerin ist dem Vortrag der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren, sie könne ungeachtet des Bestehens eines errechenbaren ergänzenden Sozialhilfeanspruchs ihren Lebensunterhalt einschließlich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus eigenen Mitteln (polnische Rente) und privat fremdgewährten Mitteln (Zuwendungen ihrer Kinder) ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen tatsächlich bestreiten, nicht entgegengetreten. Nicht erkennbar geworden ist ferner, dass die Antragstellerin z.B. mit der Zahlung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge oder anderen notwendigen Zahlungsverpflichtungen in Rückstand geraten wäre. Sollte ein solcher Fall jedoch eintreten, spräche das deutlich gegen einen geringeren Bedarf im Übrigen und dessen Deckung. Die Klärung all dieser Fragen muss jedoch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

(e) Scheitert das Unterfangen, einen individuell geringeren Bedarf und dessen Deckung nachzuweisen, und ergibt sich deshalb eine zugrunde zu legende Lücke eines bestimmten, zu beziffernden Ausmaßes, wird das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren auch ohne aktuelle tatsächliche Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch die Antragstellerin in die umfassende Bewertung einzutreten haben, inwieweit es sich unter Berücksichtigung der o.g. einzustellenden Belange als unangemessene (absehbare) Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen darstellt, wenn Rentner/innen in der vertypten Situation der Antragstellerin ihren Lebensabend teilweise - z.B. etwa im Umfang der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge - zu Lasten des Sozialhilfesystems Deutschlands im Bundesgebiet verbringen.

(f) Für den Fall, dass sich im Hauptsacheverfahren nach alledem ein Verlust des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin ergibt, wird die im Bescheid vom 27. Mai 2021 getroffene Entscheidung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügigG/EU noch auf ihre Ermessensfehlerfreiheit (§ 114 Satz 1 VwGO, § 40 VwVfG, § 1 Abs. 1 NVwVfG) hin zu untersuchen sein.

2. Die auf Polen bezogene kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 70 Abs. 1 NVwVG, § 64 Abs. 4 NPOG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung (§ 7 Abs. 1 Sätze 2 und 3 FreizügG/EU, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU) ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO - hier durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 5 A 4168/21 - ebenfalls zu suspendieren. Denn derzeit ist für den Prognosehorizont des Abschlusses des Hauptsacheverfahrens nicht verlässlich zu klären, ob die auf § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU gestützte Verlustfeststellung Bestand haben wird und ob infolgedessen die gesetzliche Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU als tatbestandliche Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung eintreten oder ext tunc gänzlich entfallen wird (vgl. Senatsbeschl. v. 28.1.2021 - 13 ME 355/20 -, juris Rn. 36, für das rechtsähnliche Verhältnis zwischen assoziationsrechtsbeseitigender Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG, Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsandrohung (unmittelbar) nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).