Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.09.2023, Az.: 10 LA 96/22

Verzugszinsen; Auslegung eines Zinsausspruchs

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.09.2023
Aktenzeichen
10 LA 96/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 43798
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0915.10LA96.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 20.07.2022 - AZ: 6 A 660/21

Fundstellen

  • DÖV 2024, 248
  • NordÖR 2024, 96

Amtlicher Leitsatz

Eine Tenorierung, wonach 6 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz ab Klageerhebung auf einen bestimmten Betrag zu zahlen sind, kann grundsätzlich auch dahingehend ausgelegt werden, dass Zinsen in Höhe von 6 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ausgeurteilt wurden.

Tenor:

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer - vom 20. Juli 2022 zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Zinszahlung auf eine ihm in einem anderem gerichtlichen Verfahren durch Urteil zugesprochene Billigkeitsleistung.

Das Verwaltungsgericht Stade hat die Beklagte mit Urteil vom 19. Februar 2020 ( 6 A 980/19) verpflichtet, dem - mit dem in diesem Verfahren identischen - Kläger "28 339,84 Euro als Billigkeitsleistung im Rahmen des Dürrebeihilfeprogramms 2018 zu bewilligen und auf diesen Betrag 6 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz ab Klageerhebung zu zahlen." Zu dem Zinsausspruch hat es ausgeführt, dass sich der Zinsanspruch aus der entsprechenden Anwendung von § 291 und § 288 Absatz 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ergebe. Dass § 288 Absatz 1 Satz 2 BGB einen Zinssatz von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz festlege, sei ohne Bedeutung, da der Kläger nur Zinsen von 6 % über dem Basiszinssatz beantragt habe und dies weniger sei. Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil wies der Senat am 3. Februar 2021 zurück (10 LC 88/20, juris).

Die Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin mit "Abhilfebescheid" vom 26. April 2021 eine Billigkeitsleistung in Höhe von 28.339,84 EUR. Eine Zinszahlung lehnte sie mit der Begründung ab, dass der Basiszinssatz mit derzeit -0,88 % negativ sei und damit auch der ausgeurteilte Zins negativ sei, so dass kein Zinsanspruch des Klägers bestehe.

Am 20. Mai 2021 beantragte der Kläger gegenüber dem Gericht, das Urteil dahingehend zu berichtigen, dass auf die Billigkeitsleistung Jahreszinsen in Höhe von 6 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen sind, hilfsweise, auf die Billigkeitsleistung Jahreszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen sind. In der mündlichen Verhandlung habe er 6 % Zinsen seit Klageerhebung beantragt. Das Gericht habe den Klageantrag missverstanden.

Am gleichen Tag hat der Kläger zudem Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. April 2021 erhoben. Die Auslegung des Tenors des Urteils durch die Beklagte ergebe keinen Sinn, weil das Verwaltungsgericht Zinsen habe zusprechen wollen. Er habe vielmehr 6 % Zinsen jährlich ab Rechtshängigkeit verlangen wollen. Der Tenor sei daher so zu verstehen, dass Zinsen in Höhe von 6 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, mindestens aber in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, wie das die in der Urteilsbegründung zitierten Zinsvorschriften vorsähen, geschuldet würden. In letzterem Fall betrage der Zinsanspruch 2.082,48 EUR.

Am 24. Juni 2021 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Urteilsberichtigung abgelehnt, weil es entsprechend den Ausführungen in seinem Urteil fälschlicherweise von einem Antrag auf 6 % Zinsen über dem Basiszinssatz ausgegangen sei. Ein solcher Fehler bei der Willensbildung sei nur im Wege des Rechtsmittels zu korrigieren.

Auf die Klage des Klägers hin hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 20. Juli 2022 die Beklagte, unter Klageabweisung im Übrigen, verurteilt, an den Kläger 134,40 EUR zu zahlen. Zwar habe er einen Anspruch auf die von ihm begehrten Prozesszinsen weder aus dem Urteil vom 19. Februar 2020 noch aus § 291 BGB. Denn das Urteil spreche ihm, wenngleich fehlehrhaft gegenüber seinem Antrag, Prozesszinsen in der von ihm nunmehr geltend gemachten Höhe nicht zu und die Entscheidung habe mittlerweile Rechtskraft erlangt. Jedoch habe er einen Anspruch auf Zinsen in der tenorierten Höhe entsprechend § 288 Abs. 1 BGB. Die Beklagte habe nach § 286 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die Klageerhebung hin nicht geleistet. Die Leistung sei allerdings erst später fällig geworden, denn die Verpflichtung zur Leistung folge erst aus der Bewilligung und die Pflicht zur Bewilligung aus dem Urteil vom 19. Februar 2020. Zudem habe sich die Beklagte bis zur Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. Februar 2021 in einem unverschuldeten Rechtsirrtum über ihre Leistungspflicht befunden. Die Pflicht zur Bewilligung der Leistung sei nach alledem erst mit der Rechtskraft der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts am 19. März 2021 fällig geworden. Die Leistung habe der Kläger am 30. April 2021 erhalten. Der zu verzinsende Verzugszeitraum betrage daher 42 Tage, vom 20. März 2021 bis zum 30. April 2021, woraus sich ein Zinsanspruch in Höhe von 134,40 EUR ergebe.

Gegen dieses Urteil richtet sich der Zulassungsantrag der Beklagten.

II.

Die Beklagte hat mit der Begründung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hinreichend dargelegt im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats dann zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten (Senatsbeschlüsse vom 28.6.2022 - 10 LA 234/20 -, juris Rn. 2 m.w.N.). Das ist grundsätzlich dann der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschlüsse vom 8.7.2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris Rn. 230, und vom 6.6.2018 - 2 BvR 350/18 -, juris Rn. 16; Senatsbeschluss vom 28.6.2022 - 10 LA 234/20 -, juris Rn. 2; vgl. auch Gaier, NVwZ 2011, 385, 388 ff.). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen. Es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt (Senatsbeschluss vom 28.6.2022 - 10 LA 234/20 -, juris Rn. 2; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 4.7.2018 - 13 LA 247/17 -, juris Rn. 4 m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, juris Leitsatz und Rn. 9; vgl. dazu auch BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 -, juris Rn. 17). Zur Darlegung der ernstlichen Zweifel bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffs auseinandersetzen (Senatsbeschluss vom 28.6.2022 - 10 LA 234/20 -, juris Rn. 2 m.w.N.; Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 28.6.2022 - 14 LA 1/22 -, juris Rn. 7, und vom 30.3.2022 - 13 LA 56/22 -, juris Rn. 3).

Diesen Anforderungen wird die Begründung des Berufungszulassungsantrags durch die Beklagte gerecht. Sie bringt gegen die hier angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 20. Juli 2022 unter Bezugnahme auf zahlreiche Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vor, die Anwendbarkeit der §§ 286 ff. BGB sei im vorliegenden Fall nicht gegeben, weil nach ständiger Rechtsprechung Verzugszinsen im öffentlichen Recht nur bei vertraglichen Ansprüchen verlangt werden könnten, sofern es - wie hier - keine spezialgesetzliche Regelung im jeweiligen Fachrecht gebe. Bei der Dürrehilfe handele es sich aber um eine Billigkeitsleistung aufgrund ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften im Rahmen eines Über- oder Unterordnungsverhältnisses.

Mit diesen zutreffenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2014 - 5 C 1.13 D -, juris Rn. 44 f., Urteil vom 26.7.2012 - 2 C 29.11 -, juris Rn. 46, und Urteil vom 30.6.2011 - 3 C 30.10 -, juris Rn. 19 f.; Senatsbeschluss vom 15.12.2015 - 10 LC 4/15 -, juris Rn. 44) Ausführungen hat sie die Auffassung des Verwaltungsgerichts, nach der sich ein Anspruch des Klägers entsprechend § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB wegen Verzugs ergebe, hinreichend in Frage gestellt, zumal sich die Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts nicht zu der Frage der Anwendbarkeit der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über Verzugszinsen im öffentlichen Recht (vgl. dazu auch Ernst in MüKo BGB, 9. Auflage 2022, § 286 Rn. 21, 20) verhalten.

Die dargelegten Richtigkeitszweifel sind auch entscheidungserheblich. Denn unabhängig davon, ob der Kläger den ihm durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 19. Februar 2020 (Az. 6 A 980/19) zugesprochenen Zinsanspruch überhaupt, wie vorliegend erfolgt, im Wege der Klage geltend machen kann und nicht vielmehr eine gerichtliche Vollstreckungsverfügung (§ 170 VwGO) beantragen müsste, hat er auch nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 19. Februar 2020 keinen Anspruch auf Zahlung von Zinsen. Dies folgt zwar noch nicht alleine aus der vom Verwaltungsgericht formulierten Tenorierung, es seien "6 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz ab Klageerhebung zu zahlen" auf den Betrag der Billigkeitsleistung. Denn insoweit wäre, insbesondere in Hinblick auf die Formulierungen in § 288 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 BGB, grundsätzlich auch eine Auslegung dahingehend möglich, dass Zinsen in Höhe von 6 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ausgeurteilt wurden (BGH, Beschluss vom 7.2.2013 - VII ZB 2/12 -, juris Rn. 12 m.w.N.; Ulrici, BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, Stand: 1.7.2023, § 704 Rn. 8.2; vgl. auch VG Münster, Urteil vom 22.2.2022 - 6 K 3396/18 -, juris Tenor und Rn. 12, 41). Einer solchen, grundsätzlich ohne weiteres möglichen Auslegung stehen im vorliegenden Fall jedoch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts in den Entscheidungsgründen (vgl. zur Möglichkeit der Berücksichtigung: Lackmann in Musielak/Voit, ZPO, 20. Auflage 2023, § 704 Rn. 6) zu der tenorierten Zinszahlungsverpflichtung entgegen. Denn diesen ist unzweifelhaft zu entnehmen, dass die Kammer dem Kläger nicht Zinsen in Höhe von 6 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, sondern tatsächlich in Höhe von 6 % über dem Basiszinssatz zusprechen wollte, wenn es dort heißt: "Dass § 288 Absatz 1 Satz 2 BGB einen Zinssatz von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz festlegt, ist ohne Bedeutung. Denn der Kläger hat nur Zinsen von 6 Prozent über dem Basiszinssatz beantragt. Dies ist weniger." Damit hat der Kläger nach dem Urteil einen Anspruch auf (Prozess-)Zinsen gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB in Höhe von 6 % über dem Basiszinssatz bzw. 106 % des Basiszinssatzes. Der Basiszinssatz betrug, soweit hier hinsichtlich Rechtshängigkeit und Zahlung relevant, zwischen dem 1. Juli 2019 und dem 1. Juli 2021 durchgehend - 0,88 %, so dass sich bei einer Erhöhung um 6 % ein Zinssatz von (gerundet) - 0,93 % ergibt. Ein Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Zahlung von Zinsen aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts besteht demnach zwar dem Grunde nach, nicht jedoch in einer positiven, eine Zahlungspflicht der Beklagten begründenden Höhe.

Hätte der Kläger diese gerichtliche, seinem Antrag in der mündlichen Verhandlung nicht entsprechende Entscheidung korrigieren wollen, wäre es ihm möglich gewesen, Berufung einzulegen oder sich der Berufung der Beklagten anzuschließen, was er jedoch nicht getan hat.

Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt. Der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. Die Berufung ist innerhalb eines Monats zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einzureichen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).