Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.03.2022, Az.: 1 LA 95/21
Befreiung; Grundzüge der Planung; Höchstzulässige Zahl der Wohnungen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.03.2022
- Aktenzeichen
- 1 LA 95/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59829
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 30.04.2021 - AZ: 2 A 30/19
Rechtsgrundlagen
- § 31 Abs 2 BauGB
- § 31 Abs 2 BauGB
- § 9 Abs 1 Nr 6 BauGB
- § 9 Abs 1 Nr 6 BauGB
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Festsetzung zur höchstzulässigen Zahl der Wohnungen in Wohngebäuden nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB kann einen Grundzug der Planung darstellen.
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 30. April 2021 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt die Erteilung einer Befreiung von einer Festsetzung des Bebauungsplans Nr. 102 „Sonnenbrink“.
Er ist Eigentümer des mit einem Doppelhaus bebauten Grundstücks (Flurstück E., Flur F., Gemarkung Bohmte) mit der postalischen Anschrift Sonnenbrink 1 in Bohmte (im Folgenden: Vorhabengrundstück). Das Vorhabengrundstück befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 102 „Sonnenbrink“, der ein Allgemeines Wohngebiet mit allein zulässigen Einzel- und Doppelhäusern festsetzt. Nach Ziffer 2 der textlichen Festsetzungen sind in den Allgemeinen Wohngebieten pro Wohngebäude max. 2, pro Doppelhaushälfte max. 1 Wohneinheit zulässig.
Der Rat der Beigeladenen beschloss den Bebauungsplan Nr. 102 „Sonnenbrink“ zweimal als Satzung, nämlich zunächst am 15. Oktober 2015 und nach erneuter Auslegung nochmals am 15. Juni 2017 mit identischem Inhalt.
Der Kläger zeigte der Beigeladenen am 22. Juni 2016 den Neubau eines Doppelhauses mit zwei Wohneinheiten und zwei Carports auf dem Vorhabengrundstück an. In der Folge errichtete der Kläger hiervon abweichend ein Wohngebäude mit vier Wohneinheiten, wovon die Beigeladene den Beklagten im Februar 2017 in Kenntnis setzte.
Unter dem 12. Februar 2018 beantragte der Kläger die Erteilung einer Befreiung von der textlichen Festsetzung in Ziffer 2. des Bebauungsplans. Nachdem die Beigeladene ihr Einvernehmen versagt hatte, lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 15. Mai 2018 ab. Nach Zurückweisung seines hiergegen erhobenen Widerspruchs hat der Kläger Klage erhoben.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 30. April 2021 abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung sei der Bebauungsplan Nr. 102 „Sonnenbrink“ wirksam in Kraft. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung der Befreiung, da dies die Grundzüge der Planung berühre. Die Festsetzung über die Anzahl der Wohneinheiten stelle einen Grundzug der Planung dar, da sie sich wie ein roter Faden durch die Planung ziehe. Auch die Planbegründung mache deutlich, dass diese Festsetzung nicht nur zufällig erfolgt, sondern tragendes Anliegen der Planung gewesen sei. Der von dem Kläger begehrte Eingriff in dieses Grundkonzept sei als tiefgreifend zu bewerten. Die Befreiung hätte eine weitreichende Vorbildwirkung im gesamten Baugebiet. Im Übrigen fehle es an einem Befreiungsgrund gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB und die Befreiung wäre nicht unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung komme es nicht mehr an; das Gericht weise aber ergänzend darauf hin, dass ein Befreiungsanspruch eine Ermessensreduktion voraussetze, wofür nichts ersichtlich sei.
II.
Der allein auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen die Zulassung der Berufung dann, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich am Entscheidungsergebnis etwas ändern könnte. Maßgebend für die Prüfung des Senats sind allein die innerhalb der Begründungsfrist dargelegten Gründe (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Diese rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht.
Es ist schon zweifelhaft, ob es dem Kläger gelungen ist, alle vom Verwaltungsgericht zu § 31 Abs. 2 BauGB kumulativ aufgeführten Gesichtspunkte entsprechend § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO substantiiert anzugreifen. Ungeachtet dessen greift das Zulassungsvorbringen nicht durch.
Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Wohnungen gehöre zu den die Grundzüge der Planung bestimmenden Festsetzungen, denn die größere Wohnungsanzahl löse keine städtebaulichen Spannungen aus, zudem sei nicht erkennbar, dass es Wille der Gemeinde gewesen sei, die bauliche Verdichtung zu reglementieren. Dies überzeugt nicht. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Befreiungsvoraussetzungen nicht vorliegen, da durch das Vorhaben die Grundzüge der Planung berührt werden.
Mit dem Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung setzt § 31 Abs. 2 BauGB eine in jedem Fall zu beachtende Grenze für Befreiungen, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen der einzelnen Befreiungstatbestände der Nrn. 1 bis 3 gegeben sind (vgl. BVerwG Beschl. v. 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62 Nr. 99 = BauR 1999, 1280 = juris Rn. 4). Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab (BVerwG Beschl. v. 19.5.2004 - 4 B 35.04 -, BRS 67 Nr. 83 = juris Orientierungssatz). Die Grundzüge der Planung werden nicht erst dann i.S.d. § 31 Abs. 2 BauGB berührt, wenn das konkrete Vorhaben städtebauliche Spannungen auslöst, auch wenn in diesem Fall umso eher auf eine Änderung der Planungskonzeption geschlossen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.2.2012 - 4 C 14.10 -, BVerwGE 142, 1 = BauR 2012, 900 = juris Rn. 22). Entscheidend ist, ob ein Vorhaben zwar den Festsetzungen des Plans widerspricht, sich „mit den planerischen Vorstellungen aber gleichwohl in Einklang bringen“ lässt oder ob es - im Gegenteil - „dem planerischen Grundkonzept zuwider“ läuft (Senatsbeschl. v. 6.6.2005 - 1 LA 220/04 -, juris Rn. 6 unter Verweis auf die Zusammenfassung in BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62 Nr. 99 = BauR 1999, 1280 = juris Rn. 5 ff.; v. 19.5.2004 - 4 B 35.04 -, BRS 67 Nr. 83 = juris Rn. 3; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 18.11.2010 - 4 C 10.09 -, BVerwGE 138, 166 = BauR 2011, 623 = juris Rn. 37). Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Läuft eine Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider, kann eine Befreiung nicht als "Vehikel" dafür herhalten, die von der Gemeinde seinerzeit getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Eine Befreiung darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG Beschl. v. 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62 Nr. 99 = BauR 1999, 1280 = juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 1 LA 115/18 -, juris Rn. 7 und 17 m.w.N.; v. 18.2.2009 - 1 ME 282/08 -, BRS 74 Nr. 182 = BauR 2009, 954 = juris Rn. 38). Befreiungen können daher nur in Betracht kommen, wenn durch sie von Festsetzungen abgewichen werden soll, die das jeweilige Planungskonzept nicht tragen, oder wenn die Abweichung von Festsetzungen, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sind, nicht ins Gewicht fällt (vgl. Söfker, Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Werkstand: 143. EL August 2021, § 31 Rn. 37).
Vorliegend gehört die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Wohnungen in Ziffer 2 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 102 „Sonnenbrink“ zu den Grundzügen der Planung. Zu Recht betont das Verwaltungsgericht, dass für nahezu den gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 102 ein Allgemeines Wohngebiet mit der entsprechenden Regelung über die Anzahl der Wohneinheiten festgesetzt wurde. Es handelt sich mithin nicht um einen nur nebensächlichen Bestandteil der Festsetzungen. Die Regelung zieht sich vielmehr wie ein „roter Faden“ durch die gesamte Planung der Beigeladenen. Dass die festgesetzte höchstzulässige Zahl der Wohnungen zu den Grundzügen des Plans gehört und nicht nur beiläufig erfolgt ist, zeigt zudem die Planbegründung. Hieraus ergibt sich, dass die Beigeladene mit der Planung beabsichtigt hat, die in den umliegenden Baugebieten bereits realisierten Strukturen der Einfamilienhausbauweise homogen weiterzuentwickeln. In der Planbegründung heißt es weiter, für den gesamten Planbereich werde eine offene Bauweise festgesetzt; zusätzlich erfolge eine Beschränkung auf Einzel- und Doppelhäuser, was dem ortstypischen Siedlungsbild entspreche. Um die bauliche Verdichtung zu reglementieren und einen einheitlichen Charakter zu erhalten, werde die Anzahl der Wohneinheiten begrenzt.
Zur Erreichung dieser planerischen Ziele kann auch die Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB einen Beitrag leisten, da mit ihr einer allzu hohen Verdichtung entgegengewirkt werden kann (vgl. nur Senatsurt. v. 18.9.2014 - 1 KN 123/12 -, BRS 82 Nr. 21 = BauR 2015, 452; Spannowsky, in: BeckOK, BauGB, 53. Ed. Stand: 1.8.2021, § 9 Rn. 25). Zudem ist diese Festsetzung gerade - wie auch hier von der Beigeladenen angestrebt - ein Instrument zur Erreichung des städtebaulichen Ziels einer einheitlichen Struktur des Gebiets in Bezug auf die Wohnformen (vgl. u.a. BVerwG, Urt. v. 8.10.1998 - 4 C 1.97 -, BVerwGE 107, 256 = BauR 1999, 148 = juris Rn. 18). Mit der Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB kann besonders der städtebauliche Charakter eines aus Einfamilien- und Doppelhäusern bestehenden Gebiets, der durch das Hinzukommen von Mehrfamilienhäusern verändert würde, erhalten werden.
Soweit der Kläger vorträgt, die Gebäudekubatur bleibe auch bei größerer Wohnungsanzahl unverändert, führt dies zu keiner abweichenden Beurteilung, da es hierauf nicht entscheidend ankommt. Die Begrenzung der Zahl der Wohneinheiten ist kein Kriterium des Maßes der baulichen Nutzung, sondern Ausdruck der Art der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 9.3.1993 - 4 B 38.93 -, BRS 55 Nr. 170 = BauR 1993, 581 = juris Rn. 3). Es besteht ein struktureller Unterschied zwischen Einfamilien- und Doppelhäusern und (kleineren) Mehrfamilienhäusern, denn bei ersteren tritt die funktionale Selbständigkeit der einzelnen Gebäude allein schon durch die separaten Hauseingänge zu Tage. Sie stellen sich solchermaßen auch nach außen hin - unabhängig von ihrer Kubatur - als eine Erscheinungsform der spezifischen Wohnform des Familienheims dar (vgl. auch HambOVG, Beschl. v. 5.6.2009 - 2 Bs 26/09 -, BRS 74 Nr. 90 = BauR 2009, 1556 = juris Rn. 8).
Da die Beschränkung der Wohneinheiten einen Grundzug der Planung betrifft, steht der beantragten Befreiung entgegen, dass diese einen tiefgreifenden Eingriff in das planerische Grundkonzept darstellen würde. Es handelt sich nicht lediglich um eine untergeordnete Abweichung, sondern der Kläger begehrt eine Verdoppelung der zulässigen Wohneinheiten. Die begehrte Abweichung berührt die Grundzüge der Planung, denn der mit der Befreiung verbundene Eingriff in das Plangefüge könnte nicht eingegrenzt, nicht isoliert werden. Mit ähnlicher Argumentation könnte auf sämtlichen benachbarten Grundstücken eine Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten verlangt werden. Auch wenn die Grundstücke zum Teil einen anderen Zuschnitt haben und teilweise mit Einfamilienhäusern bebaut sind, könnte innerhalb der festgesetzten Baufenster mehr als die festgesetzte Zahl an Wohnungen errichtet werden. Dann aber wäre das der Planung zugrundeliegende Konzept beeinträchtigt und die städtebauliche Konzeption der Beigeladenen ausgehebelt.
Ist das Verwaltungsgericht damit zu Recht und mit zutreffender Begründung davon ausgegangen, dass die beantragte Befreiung die Grundzüge der Planung i.S.d. § 31 Abs. 2 BauGB berührt, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem weiteren Zulassungsvorbringen.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen. Diese hat zwar keinen eigenen Antrag gestellt, ist dem Zulassungsvorbringen aber entgegengetreten.
Die Streitwertfestsetzung, die der Festsetzung des Verwaltungsgerichts folgt, beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.