Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.09.2023, Az.: 1 A 71/21

Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen; Einfache mündliche Deutschkenntnisse; Niederlassungserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Verlängerung der selbständigen Aufenthaltserlaubnis des ausländischen Ehegatten eines verstorbenen Deutschen nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
27.09.2023
Aktenzeichen
1 A 71/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 37861
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0927.1A71.21.00

Amtlicher Leitsatz

Von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) ist bei Verlängerung der selbständigen Aufenthaltserlaubnis des ausländischen Ehegatten eines verstorbenen Deutschen nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG abzusehen, wenn der Ausländer seit Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsgründen die Sicherung des Lebensunterhalts nicht nachweisen musste und von ihm nunmehr als Altersgründen oder wegen Erwerbsunfähigkeit keine Erwerbsarbeit mehr erwartet werden kann.

[Tatbestand]

Die Klägerin begehrt eine Niederlassungserlaubnis, hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis.

Die 67 Jahre alte Klägerin ist kasachische Staatsangehörige. Sie reiste im August 2002 zusammen mit ihrem Ehemann, einem Spätaussiedler mit deutscher Staatsangehörigkeit, und zwei ihrer drei Töchter in die Bundesrepublik Deutschland ein. Erstmals am 30.01.2003 erhielt sie eine von ihrem Ehemann abgeleitete Aufenthaltserlaubnis, die zuletzt bis zum 08.09.2019 gültig war.

Am 16.09.2018 verstarb der Ehemann der Klägerin. Die Klägerin beantragte am 04.07.2019 die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis oder eine Niederlassungserlaubnis. Der Beklagte erteilte daraufhin der Klägerin nach § 31 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis, die bis zum 05.10.2021 gültig war (BA 002, Bl. 138).

Die Klägerin musste seit 2002 weder einen Nachweis der Sicherung ihres Lebensunterhalts noch von deutschen Sprachkenntnissen erbringen. Der Ehemann der Klägerin bezog durchgehend bis zu seinem Tod Leistungen nach SGB II, die Klägerin zunächst Leistungen nach SGB II, ab 2016 nach SGB XII.

Unter dem 15.05.2020 beantragte die Betreuerin der Klägerin für diese eine Niederlassungserlaubnis (BA 003, Bl. 204 ff.) und reichte dabei ärztliche Berichte und Atteste ein, nach denen die Klägerin an chronischer Niereninsuffizienz, Nierensteinen, Diabetes mellitus, Blutarmut, Gicht, Adipositas sowie degenerativen Gelenkserkrankungen und seit April 2019 außerdem an einer psychischen Störung (generalisierte Angststörung, rezidivierende depressive Störung) leide. Sie machte geltend, die Klägerin sei erwerbsunfähig und krankheitsbedingt nicht in der Lage, Sprachnachweise zu erbringen.

Nach Anhörung lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19.02.2021 den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (Ziffer I.) ebenso ab wie den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziffer II.), forderte die Klägerin auf, bis zum 31.03.2021 freiwillig auszureisen und drohte ihr im Fall des Zuwiderhandelns die Abschiebung nach Kasachstan oder in einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet sei (Ziffer III.). Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus: Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis komme nicht in Betracht, weil die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht sichere. Hiervon könne auch unter Berücksichtigung der Grunderkrankungen der Klägerin nicht abgesehen werden. Bei Personen im Rentenalter, zu denen die Klägerin gehöre, erfordere die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG, dass die Rentenansprüche wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht ausreichten. Das setze voraus, dass die Rentenansprüche aus diesen Gründen nicht hätten erworben werden können. Die vorgelegten Unterlagen belegten erst ab April 2013 eine teilweise Erwerbsunfähigkeit der Klägerin. Der Pflegegrad 3 sei erst im Sommer 2020 festgestellt worden. Die Klägerin sei jedenfalls teilweise erwerbsfähig gewesen und auch ihr Ehemann wäre in der Lage gewesen, eine Rentenanwartschaft zu erwirtschaften. Es fehle außerdem am Nachweis, ob die Klägerin sich auf einfache Art mündlich verständigen könne. Das Schreiben des Gesundheitsamts vom 08.01.2019, nach dem die Klägerin aus Krankheitsgründen nicht in der Lage sei, an einem Deutschkurs teilzunehmen, genüge nicht. Die mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts stehe auch der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entgegen. Ein atypischer Fall, der es rechtfertige, von der Regelerteilungsvoraussetzung ausnahmsweise abzusehen, liege nicht vor. Insbesondere sei ihr die Rückkehr ins Heimatland zuzumuten. Ihre beiden in Deutschland lebenden Töchter seien erwachsen, sie lebe auch nicht mit ihnen im gemeinsamen Haushalt. In Kasachstan leben außerdem auch noch eine Tochter, so dass sie dort familiär eingebunden werden könne. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 oder Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor.

Die Klägerin hat am 22.03.2021 Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Sie trägt im Wesentlichen vor, sie sei spätestens seit September 2015 vollständig erwerbsunfähig, seit Mai 2013 pflegebedürftig (Pflegestufe 1). Davon habe die Beklagte seit 2016 Kenntnis. Sie hätte ihr schon damals eine Niederlassungserlaubnis erteilen können bzw. auch müssen. Zu einem Nachweis ihrer Erwerbsfähigkeit sei sie zu keinem Zeitpunkt aufgefordert worden. Sie sei bereits mit gesundheitlichen Einschränkungen 2002 eingereist. Sie habe jedenfalls Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG, weil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland für sie eine besondere Härte darstellen würde. Sie lebe seit 20 Jahren in Deutschland, während sie in Kasachstan ihre Existenz nicht würde sichern können. Jedenfalls sei ein Abschiebungsverbot wegen ihrer Erkrankungen nach § 60 Abs. 7 AufentG festzustellen. Im Fall der Rückkehr nach Kasachstan sei ihre Weiterbehandlung nicht gesichert. Sie werde auch ihre Existenz nicht sichern können. Es bedürfe nicht der Durchführung eines Asylverfahrens, die Beklagte sei vielmehr verpflichtet, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen.

Die Klägerin beantragt,

den Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 19.02.2021, zugegangen am 23.02.2021, aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr nach der Rechtsauffassung des Gerichts die Niederlassungserlaubnis zu erteilen,

hilfsweise die Aufenthaltserlaubnis gem. § 31 AufenthG zu verlängern,

hilfsweise die Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 4 bzw. Abs. 5 AufenthG zu erteilen,

hilfsweise die Abschiebungsverbote bzgl. Kasachstan gem. § 60 Abs. 7 AufenthG

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids. Das Gesundheitsamt habe die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen bewertet (GA Bl. 157 ff.) und sei zum Ergebnis gekommen, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 2002 nicht sicher beurteilt werden könne, jedenfalls aber die nachgewiesene Erkrankung an Hepatitis C zu einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit von höchstens 20 v.H. geführt habe. Erst mit dem Nachweis der insulinpflichtigen Diabetes mellitus ab November 2018 sei von einer vollständigen Erwerbsminderung auszugehen. Eine ungenügende ärztliche Versorgung in Kasachstan stelle ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis dar, das im Asylverfahren geltend zu machen wäre. Im Übrigen sei keine schlechte medizinische Versorgung in Kasachstan ersichtlich.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 11.05.2021 (Az. 1 B 72/21) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 19.02.2021 angeordnet.

Mit Beschluss vom 16.08.2023 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat mit dem Hilfsantrag im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

1.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der streitgegenständliche Bescheid ist zu Ziff. I rechtmäßig und verletzt die Klägerin insoweit nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.

Als Anspruchsgrundlage kommt hier nur § 9 AufenthG i.V.m. § 104 Abs. 2 AufenthG in Betracht. Hingegen scheidet § 28 Abs. 2 AufenthG aus, der Ehegatten von Deutschen einen privilegierten Zugang zu einer Niederlassungserlaubnis nach dreijährigem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gewährt. Die Regelung setzt voraus, dass die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen fortbesteht; das ist hier nicht der Fall, da der deutsche Ehemann der Klägerin bereits im Jahr 2018 und damit noch vor Antragstellung verstorben ist.

Der Beklagte hat die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG zu Recht abgelehnt, weil die Klägerin nicht über den Anforderungen entsprechende deutsche Sprachkenntnisse verfügt. Dabei sind die Anforderungen von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, der ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache (§ 2 Abs. 11 AufenthG: Niveau B1) verlangt, für sie abgesenkt. Auf die Klägerin ist die Altfallregelung des § 104 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anwendbar ist. Nach dieser Regelung ist bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können.

Die Klägerin fällt in zeitlicher Hinsicht in den Anwendungsbereich der Norm. Sie war vor dem Stichtag 01.01.2005 auch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Sie erfüllt aber nicht die (geringen) Anforderungen an die Deutschkenntnisse. Einer Sprachprobe bei der Ausländerbehörde des Beklagten während des gerichtlichen Verfahrens stellte sie sich nicht. In der mündlichen Verhandlung war sie anwesend und konnte auch mit der Einzelrichterin eine Begrüßung auf Deutsch austauschen. Weitere Fragen wie danach, ob sie einkaufen gehe, konnte sie schon nicht verstehen und nach Übersetzung in die russische Sprache auch nicht auf Deutsch beantworten. Vielmehr erklärte sie, ausschließlich in Begleitung einkaufen zu gehen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie einfache Alltagssituationen auf Deutsch bewältigen kann.

Von der Voraussetzung der einfachen mündlichen Sprachkenntnisse ist auch nicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG abzusehen. Danach wird von der Voraussetzung abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Im Fall der Klägerin sind diese Ausschlussgründe nicht offenkundig. Zwar äußerte sich das Gesundheitsamt der Stadt B-Stadt in einer Stellungnahme vom 08.01.2019 in der Betreuungssache der Klägerin gegenüber dem Amtsgericht (BA 002, Bl. 170) dahingehend, dass die Klägerin bereits bei Einreise in das Bundesgebiet aus Krankheitsgründen an dem Besuch eines Deutschkurses gehindert gewesen sei. Abgesehen davon, dass diese ärztliche Meinung nicht weiter begründet ist, verhält sie sich nicht dazu, ob die Klägerin ebenfalls gehindert war, durch das Leben in Deutschland außerhalb eines Kurses über die Jahre Alltagskenntnisse der deutschen Sprache zu erlernen. Dass dies der Fall sein könnte, ist auch nicht durch das ärztliche Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie G. vom 30.06.2023 (GA Bl. 153) belegt. Das von der Klägerin vorgelegte Attest äußert sich nur dazu, dass die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage sei, einen Deutschtest zu absolvieren. Um diese Anforderung geht es aber vorliegend nicht.

Schließlich liegt auch keine besondere Härte vor, die es geböte, von der Anforderung der einfachen mündlichen Sprachkenntnisse im Ermessensweg abzusehen (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Eine Härte kann vorliegen, wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung der Voraussetzungen des Spracherwerbs zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft erschwert, wenn der Ausländer bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war oder wegen der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer unmöglich oder unzumutbar war (vgl. Nr. 9.2.2. AufenthG-Verwaltungsvorschrift). Anhaltspunkte für einen solchen besonderen Fall liegen nicht vor. Insbesondere war die Klägerin trotz Vorerkrankungen, die bereits bei Einreise bestanden, nicht durchgehend so schwer erkrankt, dass sie keinerlei Austausch mit deutsch sprechenden Personen haben konnte. Insbesondere sind keine kognitiven Einschränkungen bekannt. In der mündlichen Verhandlung befand sich eine ihrer Töchter als Begleiterin im Saal, die sich zu Wort meldete und berichtete, sie habe eine Ausbildung gemacht, ihre andere in Deutschland lebende Schwester habe studiert. Beide Töchter haben also einen erfolgreichen Bildungsweg beschritten, der den Kontakt mit Personen außerhalb einer russisch sprechenden Gemeinschaft notwendig machte.

Da es bereits an der Voraussetzung der Sprachkenntnisse fehlt, kann offen bleiben, ob die Klägerin wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung gehindert war, während ihres Aufenthalts in Deutschland durch Erwerbsarbeit zu ihrem Lebensunterhalt im Rentenalter beizutragen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3, 6 AufenthG).

2.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis. Der Bescheid vom 19.02.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Anspruchsgrundlage ist § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, vom Zweck des Familiennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn der Ausländer gestorben ist, während die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet bestand, und der Ausländer bis dahin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU war. Danach kann nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU nicht vorliegen. Die Verlängerung (§ 8 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG vorliegen (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 31 Rn. 97); deutsche Sprachkenntnisse gehören nicht dazu.

Die Klägerin verfügte ab dem 05.09.2019 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, die zunächst bis zum 05.10.2021 gültig war. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lagen zu dem Zeitpunkt nicht vor, wie unter 1. ausgeführt wird.

Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.07.2016 - 1 C 23.15 -, juris Rn. 8) lagen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen mit Ausnahme der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) vor. Die Klägerin verfügt nur über eine Rente von etwas über 50 EUR und bezieht im Übrigen Leistungen nach SGB XII.

Von dieser Voraussetzung, die nur "in der Regel" (§ 5 Abs. 1 AufenthG) vorliegen muss, ist hier aber (auf Tatbestandsebene) abzusehen. Ein vom Regelfall abweichender Ausnahmefall liegt vor, wenn ein atypischer Sachverhalt gegeben ist, der sich von der Menge gleichgelagerter Fälle durch besondere Umstände unterscheidet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht des der Regelerteilungsvoraussetzung zugrunde liegenden öffentlichen Interessen beseitigen. Es muss sich dabei um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalls nach Sinn und Zweck grob unpassend oder untunlich erscheinen lässt. Ob ein Ausnahmefall gegeben ist, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden und stellt eine Rechtsentscheidung dar. Dabei geht es nicht um Ausnahmen im engeren Sinne, die zum Teil nach bestimmten Maßstäben wie einer besonderen oder außergewöhnlichen Härte oder nach pflichtgemäßem Ermessen zugelassen werden können. Gemeint sind vielmehr Fälle, die außerhalb der vom Gesetzgeber bei einer notwendigerweise pauschalen gesetzlichen Regelung ins Auge gefassten typischen Fallkonstellationen liegen (Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 5 Rn. 11).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Die Klägerin war nämlich erstmals nach Auslaufen der Gültigkeit ihrer nach § 31 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis verpflichtet, die Sicherung des Lebensunterhalts nachzuweisen. Davor war das seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2002 durchgehend aus Rechtsgründen nicht der Fall. Im Falle des Familiennachzugs zu einem deutschen Ehegatten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) soll die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden (§ 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Auch die Vorgängerregelung des § 23 AuslG, die bis zum Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes galt, forderte nicht die Sicherung des Lebensunterhalts als Voraussetzung für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu Deutschen. Die Voraussetzung galt nach § 17 Abs. 2 AuslG nur im Fall des Familiennachzugs zu Ausländern.

Es entstünde ein Wertungswiderspruch zum Nachteil der Klägerin, wenn die Klägerin bis zum Tod ihres Ehegatten und dann noch für ein weiteres Jahr (bzw. hier entgegen § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG: zwei Jahre) unter dem Schutz der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG von Gesetzes wegen nicht durch Erwerbsarbeit (oder durch Beibringung einer Verpflichtungserklärung Dritter, zum Beispiel ihrer Töchter) zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beitragen muss, ihr nunmehr aber entgegengehalten werden könnte, sie habe zur Sicherung des Lebensunterhalts in diesen Jahren nichts beigetragen. Abgestellt auf den Zeitpunkt des streitgegenständlichen Bescheids wiederum war die Klägerin bereits fast im Rentenalter und nach der gutachterlichen Stellungnahme der Amtsärztin vom 17.07.2023 auch vollständig erwerbsunfähig.

Über den Anspruch hat der Beklagte nach pflichtgemäßem Ermessen neu zu entscheiden. Bei der Ermessensausübung wird der Beklagte das Bleibeinteresse mit dem öffentlichen Interesse an der Ausreise der Sozialleistung beziehenden Klägerin aus dem Bundesgebiet abzuwägen haben. Das Bleibeinteresse ist zum einen bestimmt durch die Integrationsleistungen der Klägerin, zum anderen durch die familiären Bindungen an ihre in Deutschland lebenden Töchter, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Dabei wird als Integrationsleistung der Klägerin auch ihr Beitrag zur Integration ihrer Töchter in die Lebensverhältnisse in Deutschland zu werten sein, der noch aufzuklären sein wird. Das Bleibeinteresse wird gemindert, wenn die Möglichkeit der sozialen und wirtschaftlichen Integration der Klägerin in ihrem Heimatland Kasachstan besteht. Auch dies wird aufzuklären sein. Das betrifft auch das Ausmaß der zu erwartenden Unterstützungsleistungen insbesondere durch die Töchter der Klägerin. Aus dem Verwaltungsvorgang ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Möglichkeiten der in Kasachstan lebenden Tochter hierzu eingeschränkt sein könnten, weil sie möglicherweise alleinerziehende Mutter ist.

3.

Ein weitergehender Anspruch ergibt sich für die Klägerin nicht aus Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes.

§ 25 Abs. 3 AufenthG scheidet aus, weil die Regelung eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge voraussetzt. Soweit sich die Klägerin auf die ihre behandlungsbedürftigen Erkrankungn und die schlechte Versorgung mit notwendigen Medikamenten in Kasachstan beruft, handelt es sich hier um einen materiellen Asylgrund, der zunächst im Rahmen eines Asylverfahrens geltend zu machen ist. In diesem Asylverfahren obliegt gemäß § 24 Abs. 2 AsylG dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Die Klägerin hat insoweit kein Wahlrecht zwischen asylrechtlichem und aufenthaltsrechtlichem Schutzbegehren, da es weder dem Beklagten noch den Verwaltungsgerichten zusteht, ohne die positive Bindungswirkung des § 42 AsylG von einer zielstaatsbezogenen Gefahr auszugehen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 26.09.2018 - 13 ME 159/18 -, V.n.b. Umdruck S. 8 ff.; Beschl. v. 30.03.2022 - 13 LA 56/22 -, juris Rn. 7).

§ 20 Abs. 4 AufenthG vermittelt nur eine Aufenthaltserlaubnis zum vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland, den die Klägerin aber nicht anstrebt. § 25 Abs. 5 AufenthG scheidet als Anspruchsgrundlage aus, weil hier § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorrangig ist.

4.

Mit der Verpflichtung zur nochmaligen Bescheidung des Antrags der Klägerin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis entfällt auch der Rechtsgrund für die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung unter Ziff. III des streitgegenständlichen Bescheids; die Regelung ist insoweit ebenfalls rechtswidrig (§ 113 Abs. 1 VwGO) und deshalb aufzuheben.

Die Kosten des Verfahrens waren im Verhältnis des Obsiegens zum Unterliegen der Beteiligten zu teilen, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit ihrem Hauptantrag keinen und mit ihrem Hilfsantrag nur teilweise Erfolg hatte, da sie einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt hatte. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung stellt demgegenüber ein Weniger dar, was neben der hälftigen Kostentragungspflicht wegen des Unterliegens mit dem Hauptantrag mit einem weiteren Viertel der Kosten angesetzt wird.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.