Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.03.2022, Az.: 13 LA 368/21

Antrag auf Zulassung der Berufung; Arbeitnehmer; Daueraufenthaltsrecht; dauerhaft; Erwerbsminderung; Erwerbstätigkeit; Freizügigkeit; Freizügigkeitsberechtigung; Krankheit; vorübergehend

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.03.2022
Aktenzeichen
13 LA 368/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59822
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 19.07.2021 - AZ: 4 A 161/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU entsteht nicht, wenn die Erwerbstätigkeit zunächst unfreiwillig endet und erst später während der Arbeitslosigkeit die Erwerbsminderung eintritt.

Tenor:

I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 19. Juli 2021 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert des Zulassungsverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

II. Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 18. August 2021 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. 13 LA 368/21

1. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 19. Juli 2021, mit dem dieses ihre Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 4. Februar 2019 über die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (a.) und der ihrem Zulassungsvorbringen bei wohlwollender Auslegung (vgl. zu dieser Möglichkeit: BVerfG, Beschl. v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, juris Rn. 25 m.w.N.) zu entnehmende Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (b.) liegen nicht vor.

a. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Solche Zweifel sind zu bejahen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, BVerfGE 125, 104, 140 - juris Rn. 96). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, 543 - juris Rn. 9). Eine den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügende Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert, dass im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, dass und warum Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des erkennenden Verwaltungsgerichts bestehen sollen. Hierzu bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.8.2017 - 13 LA 188/15 -, juris Rn. 8; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 124a Rn. 80 jeweils m.w.N.).

Die Klägerin wendet gegen die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ein, das Verwaltungsgericht habe die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung im Bescheid des Beklagten vom 4. Februar 2019 unzutreffend für rechtmäßig erachtet. Ihre Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sei nicht entfallen. Das Verwaltungsgericht habe die Annahme, sie - die Klägerin - sei nicht mehr in einem Umfang arbeitsfähig, in dem sie dem Arbeitsmarkt in nicht nur völlig untergeordnetem Umfang zur Verfügung stehe, maßgeblich auf die Feststellung des Gesundheitsamtes des Beklagten vom 20. Dezember 2018 gestützt, wonach eine Restarbeitsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich vorliege. Diese Feststellung sei nicht näher begründet worden. Sie widerspreche den Angaben der Fachärztin für Neurologie D. vom 23. Mai 2019, die eine Restarbeitsfähigkeit von sechs Stunden ohne Schichtdienst bejaht habe. Auch andere von ihr - der Klägerin - beigebrachte ärztliche Atteste stellten eine dauerhafte vollständige Arbeitsunfähigkeit nicht fest. Eine solche ergebe sich auch nicht aus der bei ihr diagnostizierten Epilepsie. Abgesehen davon bestehe eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU selbst bei einer Wochenarbeitszeit von fünfeinhalb Stunden fort, die auch mit der vom Gesundheitsamt des Beklagten angenommenen Restarbeitsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich erreicht werden könne. Im Übrigen sei nicht ausgeschlossen, dass eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 4a Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU bestehe. Denn entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts habe sie - die Klägerin - auch noch nach 2016, und zwar 2017 und 2018, Erwerbstätigkeiten ausgeübt, bevor sie diese krankheitsbedingt aufgegeben habe.

Diese Einwände begründen nach dem dargestellten Maßstab die Zulassung der Berufung gebietende ernstliche Zweifel nicht. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. Senatsbeschl. v. 21.6.2017 - 13 LA 27/17 -, juris Rn. 10 m.w.N.) weder nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU ((1)) noch nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU ((2)) unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt gewesen ist und deshalb der Beklagte mit dem Bescheid vom 4. Februar 2019 (Blatt 128 ff. der Beiakte 1) den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU feststellen durfte.

(1) Nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt auch Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollen.

Wie der Senat bereits entschieden hat, ist der Begriff des "Arbeitnehmers" im Sinne dieser Vorschrift unionsrechtlich auszulegen (vgl. Senatsbeschl. v. 24.2.2021 - 13 LA 24/21 -, juris Rn. 6; v. 21.6.2017 - 13 LA 27/17 -, juris Rn. 13). Er ist weit zu verstehen und nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urt. v. 19.6.2014 - C 507/12 -, Saint Prix, juris Rn. 33 ff.; Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 23 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit nur von kurzer Dauer ist, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 30 und 32 (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Aufenthaltsdauer von zweieinhalb Jahren und einer Beschäftigungszeit von zweieinhalb Monaten)). Als Arbeitnehmer kann jedoch nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010 - C-14/09 -, Genc, Rn. 9 und 23 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 EUR); Urt. v. 3.6.1986 - 139/85 -, Kempf, Rn. 11 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 12 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 984 HFL bzw. 447 EUR)). Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen. Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, sind für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft hingegen ohne Bedeutung, da sie in keiner Beziehung zu den objektiven Kriterien stehen, die das konkrete Arbeitsverhältnis charakterisieren (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 29 und 32).

Hieran gemessen ist die Klägerin seit mehreren Jahren kein "Arbeitnehmer" im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU. Auch nach den Angaben der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren (vgl. die Klagebegründungsschrift v. 16.4.2019, dort S. 2 = Blatt 18 der Gerichtsakte) und im Berufungszulassungsverfahren (vgl. die Zulassungsbegründungsschrift v. 16.9.2021, dort S. 3 und Anlage = Blatt 121 und 125 der Gerichtsakte) hat sie zuletzt im Mai 2018 eine unselbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt.

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf die Fortgeltungswirkung nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EUberufen. Nach dieser Bestimmung bleibt die Freizügigkeitsberechtigung für Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU unberührt bei "vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall". Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Klägerin nicht nur "vorübergehend" erwerbsgemindert ist, sondern seit Dezember 2018 dauerhaft dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht (Urt. v. 19.7.2021, Umdruck S. 5 f.). Auch das gegen diese Feststellung gerichtete Zulassungsvorbringen der Klägerin greift nicht durch.

Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zwar auch dann anzunehmen, wenn erhebliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten so in Frage gestellt werden, dass der Ausgang des Berufungsverfahrens als ungewiss erscheint (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, NdsVBl. 2000, 244, 245 - juris Rn. 15). Bezieht sich, wie hier, das diesbezügliche Vorbringen aber auf die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Sachverhalts- und Beweiswürdigung, kommt eine Zulassung der Berufung nicht schon dann in Betracht, wenn der erkennende Senat die vom Verwaltungsgericht nach zutreffenden Maßstäben gewürdigte Sachlage nach einer eigenen etwaigen Beweisaufnahme möglicherweise anders beurteilen könnte als das Verwaltungsgericht selbst. Denn sonst wäre die Berufung gegen Urteile, die auf einer Sachverhalts- oder Beweiswürdigung beruhen, regelmäßig nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, was mit Sinn und Zweck der Zulassungsbeschränkung nicht vereinbar wäre (vgl. Senatsbeschl. v. 31.8.2017 - 13 LA 188/15 -, juris Rn. 34; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 18.1.2017 - 8 LA 162/16 -, juris Rn. 27; Sächsisches OVG, Beschl. v. 8.1.2010 - 3 B 197/07 -, juris Rn. 2). Eine Sachverhalts- oder Beweiswürdigung kann deshalb nur mit Erfolg angegriffen werden bei einer Verletzung von gesetzlichen Beweisregeln, von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, bei aktenwidrig angenommenem Sachverhalt oder wenn sie offensichtlich sachwidrig und damit willkürlich ist (vgl. Senatsbeschl. v. 2.5.2019 - 13 LA 131/19 -, juris Rn. 6; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 17.5.2016 - 8 LA 40/16 -, juris Rn. 25; Bayerischer VGH, Beschl. v. 11.4.2017 - 10 ZB 16.2594 -, juris Rn. 5; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124 Rn. 26g (Stand: Oktober 2015) jeweils m.w.N.).

Danach relevante Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin nicht.

Das vom Verwaltungsgericht zur Begründung maßgeblich herangezogene Gutachten des Gesundheitsamtes des Beklagten vom 20. Dezember 2018 (Blatt 20 ff. der Gerichtsakte) zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin stellt ausdrücklich fest, dass diese dauerhaft auf weniger als drei Stunden täglich eingeschränkt ist und zwar derart, dass lohnbringende Tätigkeiten überhaupt nicht mehr zu erwarten sind. Diese klare Feststellung ist entgegen den Angriffen der Klägerin auch hinreichend begründet. Das Gutachten stützt sich auf Angaben der Klägerin zur Krankengeschichte, vom Gesundheitsamt selbst erhobene klinische und laborchemische Untersuchungsbefunde sowie herangezogene Befunde und Berichte behandelnder Ärzte. Die danach bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen wurden beschrieben und einer sozialmedizinischen Beurteilung unterzogen und zur Grundlage der geschilderten Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit gemacht. Entgegen der Annahme der Klägerin kann aus der isoliert betrachteten Angabe, dass die Erwerbsfähigkeit dauerhaft auf weniger als drei Stunden täglich eingeschränkt ist, nicht darauf geschlossen werden, dass sie noch Arbeitsleistungen von mehr fünfeinhalb Wochenstunden erbringen kann (vgl. zu dieser Untergrenze für das Entstehen eines Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU: Senatsbeschl. v. 24.2.2021 - 13 LA 24/21 -, juris Rn. 6). Hiergegen spricht, dass die Angabe einer eingeschränkten Erwerbsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich nach dem verwendeten Vordruck die niedrigste für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit zu vergebende Bewertung ist, und dass das Gutachten der Klägerin ausdrücklich attestiert, keine lohnbringenden Tätigkeiten mehr erbringen zu können und auch für die zuvor ausgeübte Tätigkeit als Altenpflegehelferin oder Kosmetikerin nicht mehr geeignet zu sein.

Das von der Klägerin bemühte Schreiben der Fachärztin für Neurologie D. aus A-Stadt vom 23. Mai 2019 (Blatt 46 f. der Gerichtsakte), das nach der aufkommenden Diskussion um die Auswirkungen einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren erstellt worden ist, gebietet keine abweichende Bewertung. Dieses Schreiben schließt zwar mit der Annahme "Eine Restarbeitsfähigkeit besteht bei der Patientin meines Erachtens, nur sollte sie nicht in Schicht- u. Wechseldienst arbeiten. So ist sie sicherlich allein auf Grund der Epilepsie bis zu 6 Std. arbeitsfähig." Es wird aber nicht, geschweige denn nachvollziehbar begründet, warum diese Annahme, die auch im klaren Widerspruch zum tatsächlichen Erwerbsverhalten der Klägerin stand, gerechtfertigt sein soll. Im Übrigen blendet dieses Schreiben die Erkrankungen der Klägerin aus dem psychischen Spektrum (Depression) und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit ausdrücklich aus.

Auch aus den weiteren Berichten und Stellungnahmen des Dr. E. aus B-Stadt vom 20. Januar 2020 (Blatt 70 ff. der Gerichtsakte), des Klinikums F. vom 4. März 2020 (Blatt 60 ff. der Gerichtsakte), des Dr. G. aus A-Stadt vom 3. Juni 2020 (Blatt 66 f. der Gerichtsakte), des Dr. H. aus I-Stadt vom 8. Juli 2020 (Blatt 68 f. der Gerichtsakte) und des J. in K-Stadt vom 17. Oktober 2020 (Blatt 96 f. der Gerichtsakte) ergeben sich keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin anders, insbesondere positiver als in dem Gutachten des Gesundheitsamts des Beklagten vom 20. Dezember 2018 beurteilt werden müsste.

(2) Nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU haben Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU, abweichend von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU, bereits vor Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufgeben, nachdem sie sich zuvor mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben.

Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat zwar hinreichend belegt, noch bis zum Mai 2018 erwerbstätig gewesen zu sein (siehe oben I.1.a.(1)). Es fehlt aber jedweder Anhalt dafür, dass die Aufgabe der Erwerbstätigkeit mit Ablauf des Mai 2018 "infolge" einer krankheitsbedingten Erwerbsminderung erfolgt, also auf diese kausal zurückzuführen ist. Vielmehr war das seinerzeit bestehende Arbeitsverhältnis von vorneherein auf den 31. Mai 2018 befristet (vgl. die Arbeitsverträge v. 25.10.2017 und v. 29.4.2018, Blatt 25 f. der Gerichtsakte). Das Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU entsteht aber nicht, wenn die Erwerbstätigkeit zunächst unfreiwillig endet und erst später während der Arbeitslosigkeit die Erwerbsminderung eintritt (vgl. EuGH, Urt. v. 26.5.1993 - C-171/91 -, Tsiotrias, juris Rn. 19 (zu Art. 7 der Richtlinie 68/260/EWG und Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70); Bayerischer VGH, Urt. v. 18.7.2017 - 10 B 17.339 -, juris Rn. 53; Epe, in GK-AufenthG, FreizügG/EU, § 4a Rn. 36 (Stand: Juli 2013); Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 4a Rn. 68 (Stand: Januar 2021) m.w.N.).

b. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen.

Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe die von ihr behauptete und in verschiedenen ärztlichen Attesten angenommene Restarbeitsfähigkeit und auch die Kausalität zwischen unterbliebener Erwerbstätigkeit und Krankheiten weiter aufklären müssen.

Wird derart ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geltend gemacht, muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren des ersten Rechtszuges, insbesondere in einer mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.8.2017 - 13 LA 188/15 -, juris Rn. 60). Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Prozessbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen von förmlichen Beweisanträgen, zu kompensieren (vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.3.2010 - BVerwG 5 B 7.10 -, Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 94 - juris Rn. 9 m.w.N.).

Hieran gemessen ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz nicht. Sie hat weder dargelegt, dass sie im erstinstanzlichen Verfahren auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben sie nunmehr rügt, ernsthaft hingewirkt hat, noch dass sich dem Verwaltungsgericht die weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

2. Die Kostenentscheidung im Zulassungsverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

3. Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

II. 13 PA 370/21

1. Die Beschwerde der Klägerin gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 18. August 2021 bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt. Denn dem erstinstanzlichen Rechtsschutzbegehren kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 - juris Rn. 11) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.). Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen in diesem Beschluss zu I. und auf die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses, die er sich zu Eigen macht (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Beschwerdebegründung der Klägerin im Schriftsatz vom 25. August 2021 gebietet keine abweichende Bewertung.

2. Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz (vgl. zur Entstehung von Gerichtskosten bei Zurückweisung einer PKH-Beschwerde: Senatsbeschl. v. 28.3.2019 - 13 PA 65/19 -, juris Rn. 3).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).