Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.03.2022, Az.: 1 LA 128/21
Bauvorbescheid; Befreiung; Bestimmtheit; Drittschutz; Nachbar
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 21.03.2022
- Aktenzeichen
- 1 LA 128/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59848
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 14.07.2021 - AZ: 2 A 240/19
Rechtsgrundlagen
- § 31 Abs 2 BBauG
- § 31 Abs 2 BBauG
- § 73 Abs 1 BauO ND 2012
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Bauvorbescheid ist nicht deshalb unbestimmt, weil er eine Befreiung lediglich in Aussicht stellt.
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 2. Kammer (Einzelrichterin) - vom 14. Juli 2021 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 30.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich gegen einen dem Beigeladenen erteilten Bauvorbescheid zur bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Neubaus eines Zweifamilienhauses sowie eine dem Beigeladenen sodann hierfür erteilte Baugenehmigung.
Der Kläger ist Miteigentümer des mit einer Doppelhaushälfte bebauten Grundstücks A-Straße im Stadtgebiet der Beklagten (Gemarkung E., Flur 3, Flurstück 6/89). Der Beigeladene ist Eigentümer des südlich benachbarten und mit einer an das Wohngebäude des Klägers angrenzenden Doppelhaushälfte bebauten Grundstücks D-Straße (Gemarkung E., Flur 3, Flurstück 6/90; im Folgenden: Vorhabengrundstück). Das Grundstück des Beigeladenen ist ein Eckgrundstück und schließt im Nordwesten an die Straße F. und im Südwesten an die Straße G. an.
Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des am 14. Mai 1969 in Kraft getretenen Bebauungsplans Nr. 294 „Schulstraße/Kreissiedlung“, der unter anderem ein Allgemeines Wohngebiet, zwei zulässige Vollgeschosse, eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine offene Bauweise festsetzt. Ferner werden die überbaubaren Grundstücksflächen durch Festsetzungen von Baulinien zur Straße F. und durch Baugrenzen zur Straße G. und in den rückwärtigen Grundstücksbereichen festgelegt. Die hintere Baugrenze verläuft in einer Tiefe von 28 Metern zur Straße F.. Überdies legt der Bebauungsplan die Firstrichtung der Hauptgebäude parallel zur Straße F. fest. Von den Festsetzungen der überbaubaren Grundstücksflächen können nach Ziffer 7 der textlichen Festsetzungen in begründeten Fällen im Einvernehmen mit der Gemeinde Ausnahmen zugelassen werden, sofern hierdurch die Grundzüge der Planung nicht berührt werden.
Im Dezember 2018 stellte der Beigeladene eine Bauvoranfrage hinsichtlich der planungsrechtlichen Zulässigkeit eines Neubaus eines Zweifamilienhauses im südöstlichen (gartenseitigen) Bereich des Vorhabengrundstücks (zukünftige postalische Anschrift: G. 2b). Unter dem 1. April 2019 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen einen Bauvorbescheid. Darin heißt es unter anderem:
„Die Prüfung ihrer Bauvoranfrage hat ergeben, dass die planungsrechtliche Zulässigkeit unter folgenden Voraussetzungen gegeben ist:
1. Die Zulassung einer Befreiung zur Überschreitung der Baugrenzen wird in Aussicht gestellt.
2. Die Zulassung einer Befreiung zur Änderung der Firstrichtung wird in Aussicht gestellt.“
Am 27. Juni 2019 erteilte die Beklagte eine Baugenehmigung zum Neubau eines Zweifamilienwohnhauses auf dem Vorhabengrundstück. Gleichzeitig erteilte sie gemäß § 31 Abs. 2 BauGB zwei Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 294 und zwar mit dem Inhalt, dass (a.) das Gebäude die südöstliche Baugrenze um 3,13 m und die südwestliche Baugrenze um 2,18 m überschreiten darf und (b.) die Fristrichtung des Gebäudes um 90 Grad gedreht (und in Richtung G. ausgerichtet) werden darf. Das genehmigte Wohnhaus soll auf der (von der Straße F. aus gesehen) rückwärtigen Grundstücksseite in einem Abstand von 3 m zum nördlich benachbarten Grundstück des Klägers errichtet werden.
Nach Zurückweisung seiner hiergegen erhobenen Widersprüche hat der Kläger jeweils Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu dem Aktenzeichen 2 A 240/19 verbunden und die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, das Vorhaben verletze keine nachbarlichen Rechte. Der Bauvorbescheid sei hinreichend bestimmt, denn sein Regelungsgehalt lasse sich - auch in Zusammenschau mit den Antragsunterlagen - hinreichend bestimmen. Insbesondere habe das „In-Aussicht-Stellen“ der Befreiungen einen Regelungsgehalt, da ihm der Charakter einer Zusicherung nahekomme. In jedem Fall sei das „In-Aussicht-Stellen“ bereits an den Voraussetzungen der (später erteilten) Befreiungen selbst zu messen. Auch wenn Ziffer 7 der textlichen Festsetzungen eine Ausnahme vorsehe, sei der Kläger nicht deshalb in seinen Rechten verletzt, weil eine Befreiung erteilt worden sei. Der Prüfungsmaßstab beider Abweichungen sei im Wesentlichen identisch; die Erteilung einer Befreiung statt einer Ausnahme gehe jedenfalls nicht zu seinen Lasten. Die erteilten Befreiungen verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Beide Festsetzungen, von denen befreit worden sei, wiesen keinen drittschützenden Charakter auf; hinsichtlich der Festsetzung der Baugrenzen folge dies insbesondere aus dem Umstand, dass der Bebauungsplan insoweit Ausnahmen zulasse. Die 6. und 7. Änderung des Bebauungsplans änderten an dieser Beurteilung nichts, da sie nicht das streitbefangene Grundstück beträfen und nicht geeignet seien, einen Nachbarschutz des Ausgangsbebauungsplans gleichsam nachträglich zu begründen. Hätte der Plangeber im gesamten Plangebiet eine Nachverdichtung nur unter Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen zulassen wollen, hätte er ohne Weiteres eine einheitliche Änderungsfassung erlassen können; dies sei indes nicht erfolgt. Ebenso wenig komme der Festsetzung der Firstrichtung ein drittschützender Inhalt zu, da diese der äußeren Gestaltung von Ortsbildern diene. Da beide Festsetzungen nicht nachbarschützend seien, könne sich der Kläger allein auf die „Würdigung nachbarlicher Interessen“ und damit auf die Prüfung des Rücksichtnahmegebots berufen, weshalb es auf die von ihm aufgeworfene Frage, ob die Befreiung die Grundzüge der Planung berühre, nicht ankomme. Die Befreiungen seien nicht rücksichtslos. Die Grenzabstandsvorschriften seien eingehalten; dies indiziere regelmäßig, dass das Vorhaben nicht rücksichtslos sei. Besonderheiten, die ausnahmsweise eine abweichende Beurteilung rechtfertigten, lägen nicht vor. Insbesondere werde das Grundstück des Klägers weder nach Lage noch Kubatur des Vorhabens abgeriegelt. Der von dem Vorhaben unmittelbar betroffene Gartenbereich des Klägers verfüge auch nach Verwirklichung des Vorhabens noch über ausreichend umliegende Freiflächen, die eine Sonnen- und Lichtzufuhr gewährleisteten. Unzumutbare Einsichtnahmemöglichkeiten würden ebenfalls nicht geschaffen.
II.
Der allein auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen die Zulassung der Berufung dann, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich am Entscheidungsergebnis etwas ändern könnte. Maßgebend für die Prüfung des Senats sind allein die innerhalb der Begründungsfrist dargelegten Gründe (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Diese rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht.
1.
Der Einwand des Klägers, das „In-Aussicht-Stellen“ von Befreiungen stelle keine rechtsverbindliche Zusage auf Erlass eines Verwaltungsaktes dar, weshalb der Bauvorbescheid im Hinblick auf seine Regelungswirkung nicht hinreichend bestimmt sei, überzeugt nicht.
Im Hinblick auf Nachbarschutz kann eine Verletzung von Nachbarrechten vorliegen, wenn der Vorbescheid zu unbestimmt ist und diese Unbestimmtheit ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft und aufgrund des Mangels nicht beurteilt werden kann, ob das Vorhaben den geprüften nachbarschützenden Vorschriften entspricht (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2021 - 1 ME 104/20 -, juris Rn. 13 m.w.N. zur Senatsrspr.; BayVGH, Beschl. v. 18.9.2008 - 1 ZB 06.2296 -, juris Rn. 29). Dies ist hier nicht der Fall.
Zu Recht betont das Verwaltungsgericht, dass sich der Regelungsgehalt des Bauvorbescheids in Zusammenschau mit den Antragsunterlagen hinreichend deutlich bestimmen lässt. Auch wenn der Bauvorbescheid nach seiner Rechtsnatur keine bloße Zusage oder Ankündigung einer Regelung, sondern ein vorweggenommener Teil der Baugenehmigung ist und die Baugenehmigungsbehörde bindet, soweit sein Gegenstand reicht (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 17.3.1989 - 4 C 14.85 -, BRS 49 Nr. 168 = BauR 1989, 454 = juris Rnrn. 9 und 15), steht dem Eingreifen einer derartigen Bindung vorliegend nicht entgegen, dass die Beklagte in ihrem Bauvorbescheid eine Befreiung von den betreffenden Festsetzungen des Bebauungsplans nicht erteilt, sondern lediglich "in Aussicht gestellt" hat. Die Beklagte wollte einen verbindlichen Bauvorbescheid erlassen und hat objektiv einen solchen erlassen. Der Senat folgt der Auffassung der Vorinstanz, dass das „In-Aussicht-Stellen“ einen selbständigen Regelungsinhalt und den Charakter einer Zusicherung i.S.d. § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 38 VwVfG hat. Aus der gewählten Formulierung ergibt sich, dass die Beklagte die Befreiungslage im Sinne einer Festlegung bzw. Bindung positiv festgestellt hat. Der Formulierung lässt sich entnehmen, dass die Beklagte eine Befreiung in einem späteren Genehmigungsverfahren auf entsprechenden Antrag hin erteilen wird.
Auch wenn hierdurch die Grenzen zwischen rechtsverbindlicher Regelung im Vorbescheid und einer die Bauaufsichtsbehörde bindenden Zusicherung, diese Befreiung im Rahmen des nachfolgenden Baugenehmigungsverfahrens zu erteilen, „verwischt“ werden, wird die Bauvoranfrage zugunsten des Beigeladenen positiv und die Bauaufsichtsbehörde dahingehend bindend beschieden, dass dem Vorhaben im Falle einer Beantragung der Befreiungen keine bauplanungsrechtlichen Vorschriften entgegenstehen (vgl. zu ähnlichen Fallkonstellationen: BayVGH, Beschl. v. 30.11.2009 - 2 CS 09.1979 -, juris Rn. 26; v. 18.8.2016 - 15 B 14.1625 -, juris Rn. 6; OVG RP, Urt. v. 2.9.2009 - 8 A 10291/09 -, juris Rn. 21; OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 30.6.2017 - OVG 10 B 10.15 -, BRS 85 Nr. 141 = BauR 2017, 2136 = juris Rn. 20). Mit anderen Worten ist das „In-Aussicht-Stellen“ als Hinweis auf das Antragserfordernis (§ 66 Abs. 6 und Abs. 2 Satz 1 NBauO) zu verstehen.
2.
Soweit der Kläger gegen die erstinstanzliche Entscheidung einwendet, die Festsetzungen zur Baugrenze und zur Firstrichtung seien nachbarschützend, folgt der Senat dem nicht.
Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass sich ein wechselseitiges Austauschverhältnis maßgeblich aus dem Inhalt der Festsetzungen und nicht aus der Begründung des Bebauungsplans ergebe; die Heranziehung der Bebauungsplanbegründung sei fehlerhaft, da der Bebauungsplan den vorher gültigen Durchführungsplan vom 25. August 1952 unverändert übernommen habe; ein ausdrücklicher Nachbarschutz sei nur deshalb nicht geregelt, da die Umwandlung zu einer Zeit erfolgt sei, als man gemeinhin wenig Gedanken zur Begründung von Festsetzungen dokumentiert habe. Hiermit zeigt er ernstliche Zweifel an der erstinstanzlichen Entscheidung nicht auf.
Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen haben kraft Bundesrechts grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion. Ob und inwieweit derartige Festsetzungen auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab. Wollte der Plangeber die Planbetroffenen mit diesen Festsetzungen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden, sind diese Festsetzungen nachbarschützend. Dies gilt auch, wenn der Plangeber die nachbarschützende Wirkung im Zeitpunkt der Planaufstellung zwar nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, die Planfestsetzungen aber dennoch in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis stehen, sodass ihnen nach ihrem objektiven Gehalt eine Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zukommt (Senatsbeschl. v. 28.6.2021 - 1 ME 50/21 -, juris Rn. 10 u.a. unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 -, BVerwGE 162, 363 = BauR 2019, 70 = juris Rn. 14-16).
Ausgehend von diesem rechtlichen Maßstab hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die südwestliche, längs zum G. verlaufende Baugrenze aufgrund ihrer Lage als (zum G. ausgerichtete) vordere Baugrenze keinen drittschützenden Inhalt aufweise. Der Zweck vorderer Baugrenzen besteht nämlich regelmäßig allein darin, aus Gründen des Orts- und Straßenbildes sowie zur Sicherung der Vorgartenzone, das heißt im Allgemeininteresse bestimmte Abstände zu erreichen; die „Bewehrung“ bestimmter Dritter ist damit in aller Regel nicht verbunden (Senatsbeschl. v. 15.11.2006 - 1 ME 194/06 -, NdsVBl 2007, 136 = juris Rn. 8). Anhaltspunkte dafür, dass dies hier anders sein könnte, ergeben sich aus dem Vorbringen des Klägers nicht. Zudem wird der Kläger durch eine Überschreitung der Baugrenze in diesem, der gemeinsamen Grundstücksgrenze gegenüberliegenden Bereich nicht beeinträchtigt; Drittschutz könnte die Baugrenze - wenn überhaupt - allenfalls zugunsten des südöstlichen Nachbarn entfalten.
Unter Auswertung der Planbegründung und der Planfestsetzungen ist das Verwaltungsgericht ferner zu dem Ergebnis gekommen, dass sich ein Drittschutz in Bezug auf die Festsetzungen zur hinteren Baugrenze ebenfalls nicht ermitteln lässt. Dem schließt sich der Senat an. Entgegen der Rüge des Klägers hat das Verwaltungsgericht nicht allein darauf abgestellt, dass zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Bebauungsplans Nr. 294 im Jahr 1969 der Drittschutz hinlänglich bekannt gewesen sei, sondern darüber hinaus ausgeführt, dass gegen die Annahme eines Drittschutzes die in Ziffer 7 der textlichen Festsetzungen vorgesehene Ausnahmemöglichkeit spreche, deren Einschränkung sich allein auf die „Grundzüge der Planung“ beziehe. Hierzu verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht. Gerade mit Blick darauf, dass dem Nachbarschutz bei einer Festsetzung unter Ausnahmevorbehalt regelmäßig ein geringerer Stellenwert zukommt, als bei der Befreiung, weil mit der Möglichkeit einer plankonformen Ausnahme jedes planunterworfene Grundstück vorbelastet ist und der Nachbar daher nicht darauf vertrauen sollte, dass es nicht zur Erteilung einer Ausnahme kommt (vgl. u.a. OVG NRW, Urt. v. 3.5.2007 - 7 A 2364/06 -, BRS 71 Nr. 139 = BauR 2007, 1560 = juris Rn. 51; Siegmund, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckOK BauGB, 53. Ed. Stand 1.8.2021, § 31 BauGB Rn. 29 m.w.N.; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 31 Rn. 22; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Werkstand: 143. EL August 2021, § 31 Rn. 27), hätte es insoweit einer näheren Auseinandersetzung und vertieften Argumentation bedurft, dass die festgesetzten Baugrenzen dennoch nachbarschützende Intention haben. Hieran fehlt es.
Mit seinen Einwänden, die schlichte Existenz kleinteiliger Änderungsverfahren des Bebauungsplans spreche dafür, dass die Gemeinde an dem Plan festhalten wolle; dies habe den Hintergrund, dass den Nachbarn die Möglichkeit gegeben worden sei, neben bauplanerischen Argumenten nachbarliche Interessen einzubringen, was ihnen im Rahmen der Befreiung verwehrt wäre; der planerische Grundgedanke bestehe darin, für die Schicksalsgemeinschaft aller Anlieger ein homogenes Baugebiet, welches durch große Grundstücke und Freiflächen im hinteren Bereich geprägt sei, zu erhalten, zeigt der Kläger einen drittschützenden Charakter der Festsetzungen ebenfalls nicht auf. Abgesehen davon, dass der hintere Bereich des Straßenzuges F. ausweislich der Bebauungsplanurkunde zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Planaufstellung nicht durchweg durch großzügige Freiflächen gekennzeichnet war, da auf mehreren Nachbargrundstücken bauliche Anlagen im hinteren Bereich vorhanden waren, reicht der Umstand, dass eine bestimmte, aus städtebaulichen Gründen getroffene Festsetzung zugleich Nachbarn zugutekommt, für die Annahme, deren Schutz sei besondere Absicht des Plangebers gewesen, nicht aus. Aus Änderungsverfahren, die nicht die Grundstücke des Klägers und des Beigeladenen, sondern andere Grundstücke innerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans betreffen, kann der Kläger ebenfalls nichts für sich herleiten. Dass in anderen Bereichen Änderungsverfahren durchgeführt wurden, hindert die Beklagte nicht daran, die beantragte Bebauung auf Grundlage einer Befreiung zu ermöglichen. Die Annahme des Klägers, die vergangenen Änderungsverfahren seien mit dem Ziel erfolgt, den Nachbarn weitergehende Einwendungsmöglichkeiten zu geben, ist fernliegend, denn nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB haben Gemeinde Bauleitpläne allein dann aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Darüber hinaus ist sein Einwand, im Rahmen der Befreiung sei den Nachbarn ein Einbringen nachbarlicher Argumente verwehrt, für den Senat nicht nachvollziehbar, denn ein Nachbar kann gegen eine Befreiung von einer - wie hier - nicht drittschützenden Festsetzung einwenden, dass seine Interessen nicht hinreichend gewürdigt wurden. Dass die Gemeinde in Teilbereichen eine Änderung der Urfassung für städtebaulich erforderlich gehalten hat, bedeutet nicht, dass sie auch in anderen Teilbereichen eine von dem Bebauungsplan abweichende Bebauung allein nach einer Änderung des Bebauungsplans ermöglichen kann; hiergegen spricht bereits, dass eine Befreiung erteilt werden kann, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden.
Der Einwand des Klägers, der drittschützender Charakter der Festsetzung folge daraus, dass es sich um eine erhebliche Überschreitung handele, weshalb sich die ursprünglich nicht drittschützende Festsetzung sozusagen „selber“ subjektiv auflade, überzeugt nicht. Eine Festsetzung weist entweder drittschützenden Charakter auf oder eben nicht. Auf den Grad der Abweichung von der Festsetzung kommt es dabei nicht an, denn es gibt keinen Grundsatz, dass desto eher Nachbarschutz zu gewähren ist, je rechtswidriger die angefochtene Genehmigung ist (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 6.5.2008 - 1 LA 70/08 -, n.v. unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 28.10.1993 - 4 C 5.93 - BRS 55 Nr. 168 = BauR 1994, 354 = juris Rn. 19).
Aus dem Vorbringen des Klägers folgt auch nicht, dass der Plangeber - unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektiv-rechtlichen Nachbarschutz zu begründen - die Planbetroffenen mit den konkreten Festsetzungen tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat. Allein der Umstand, dass durch Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zur Firstrichtung ein homogenes Gebiet geschaffen werden kann, rechtfertigt nicht die Annahme, die Nachbarn seien in ein wechselseitiges Austauschverhältnis eingebunden worden. Denn Baugrenzen stellen im Ausgangspunkt nur eine städtebauliche, d.h. eben nicht automatisch der Zuordnung individueller Abwehrbefugnisse dienende Festsetzung dar. Es ist zuvörderst eine städtebauliche Entscheidung der Gemeinde, welche Verdichtung sie wünscht und angesichts der landesrechtlichen Abstandsvorschriften überhaupt erreichen kann (Senatsbeschl. v. 28.6.2021 - 1 ME 50/21 -, juris Rn. 11 m.w.N.). Selbiges gilt für die Festsetzung zur Hauptfirstrichtung, die allein städtebaulichen Belangen dient.
3.
Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, das Vorhaben verstoße nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme, ist nicht zu beanstanden.
Der Kläger wendet ein, die Vorinstanz habe nicht ausreichend gewürdigt, dass das genehmigte Vorhaben die Baugrenze um 49% überschreite; weil das Vorhaben von den Festsetzungen wesentlich abweiche. Da er sich aber auf den Bebauungsplan berufen könne, habe er im Rahmen der Interessenabwägung einen gewissen Vorrang und sei schutzwürdiger als der Beigeladene; sein Gartenbereich werde unzumutbar abgeriegelt, wobei der Eindruck durch den Höhenunterschied der Gebäude verstärkt werde. Hieraus folgen keine ernstlichen Zweifel.
Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass bei der Interessenabwägung i.R.d. § 31 Abs. 2 BauGB grundsätzlich einen gewissen Vorrang hat, wer sich auf den Bebauungsplan berufen kann. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit in dem vom Kläger angeführten Urteil vom 6. Oktober 1989 (- 4 C 14.87 -, BVerwGE 82, 343 = BauR 1989, 710 = NJW 1990, 1192, juris Rn. 15 a.E.) ausgeführt:
„Die Beantwortung der Frage, ob eine angefochtene Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, hängt somit wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Erforderlich ist aber insbesondere eine Würdigung der Interessen des Bauherrn an der Erteilung der Befreiung und - wie es § 31 Abs. 2 BauGB ausdrücklich vorschreibt - der Interessen des betroffenen Nachbarn an der Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen oder Nachteilen durch eine Befreiung. Der Nachbar kann um so mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten Nutzung tretende andersartige Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, um so weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986, a.a.O.). Daraus können sich unterschiedlich hohe Anforderungen für den Drittschutz aus § 15 Abs. 1 BauNVO und den aus § 31 Abs. 2 BauGB ergeben. Die Interessen der Beteiligten haben ein unterschiedliches Gewicht, je nach dem, ob es um ein Vorhaben geht, das den Festsetzungen eines Bebauungsplans entspricht, also nur ausnahmsweise über § 15 Abs. 1 BauNVO unzulässig sein kann, oder ob es um ein Vorhaben geht, das von den Festsetzungen abweicht, also nur ausnahmsweise über eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zulässig sein kann. Wer sich auf den Bebauungsplan berufen kann, hat bei der Interessenabwägung grundsätzlich einen gewissen Vorrang.“
Hieraus folgt aber nicht, dass jedwede Abweichung von Festsetzungen eines Bebauungsplans rücksichtslos ist; dann wäre § 31 BauGB sinnentleert. Für den Fall, dass ein Vorhaben nur ausnahmsweise über eine Befreiung zulässig ist, mag die Schwelle rücksichtsloser Betroffenheit schon bei Nachteilen geringerer Intensität erreicht sein, als wenn das Vorhaben sämtlichen Festsetzungen entspricht. Ohne spürbare Beeinträchtigungen kann sich der Nachbar aber auch im ersten Falle nicht mit Erfolg gegen das Vorhaben zur Wehr setzen.
Ausgehend hiervon ist zu konstatieren, dass das Vorhaben nicht nur geringfügig von den Festsetzungen abweicht. Allein dies indiziert indes nicht die Rücksichtslosigkeit des Vorhabens. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr überzeugend eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots verneint. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Interessen des Klägers an der Einhaltung der Planfestsetzungen Gewicht haben und durch die erteilten Befreiungen in nicht unerheblichem Umfang berührt werden, da hierdurch eine intensivere bauliche Nutzung des Nachbargrundstücks des Beigeladenen ermöglicht wird. Dennoch ist die Bewertung des Verwaltungsgerichts, es lägen keine unzumutbaren Beeinträchtigungen der nachbarlichen Interessen vor, nicht zu beanstanden.
Der Einwand des Klägers, das Rücksichtnahmegebot könne auch dann verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.9.2015 - 4 B 16.15 -, BRS 83 Nr. 116 = RdL 2016, 199 = juris Rn. 10 unter Verweis auf Beschl. v. 11.1.1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102 = BauR 1999, 615 = juris Rn. 3 m.w.N.), ist zwar zutreffend. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung aber nicht allein mit einem Hinweis darauf begnügt, die Abstandsvorschriften seien eingehalten, sondern ausführlich die Lage und Dimensionierung des Vorhabens mit Blick auf die Belichtung, Belüftung, Besonnung und Einsehbarkeit des Grundstücks des Klägers gewürdigt und auf dieser Grundlage auch eine erdrückende Wirkung durch die „Masse“ des zulässigen Vorhabens verneint. Dem schließt sich der Senat an. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, warum hier eine abweichende Bewertung gerechtfertigt ist, zumal es dann, wenn ein Vorhaben - wie hier - die Abstandsvorschriften einhält, besonderer Umstände bedarf, um annehmen zu können, das Vorhaben sei rücksichtslos, denn die Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften indiziert in der Regel Gegenteiliges (vgl. hierzu u.a. BVerwG, Beschl. v. 11.1.1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102 = BauR 1999, 615 = juris Rn. 4 a.E.; Senatsbeschl. v. 28.6.2021 - 1 ME 50/21 -, ZfBR 2021, 773 = BauR 2021, 1580 = juris Rn. 12; Senatsurt. v. 26.7.2017 - 1 KN 171/16 -, BRS 85 Nr. 5 = juris Rn. 79 m.w.N.). Derartige besondere Umstände zeigt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht auf; solche sind auch nicht erkennbar. Dem Einwand des Klägers, sein Gartenbereich werde unzumutbar abgeriegelt, hat das Verwaltungsgericht überzeugend entgegengehalten, der Gartenbereich verfüge auch nach Verwirklichung des Vorhabens in Richtung Osten, Südosten und Süden über genügend umliegende Freiflächen, die eine Sonnen- und Lichtzufuhr gewährleisteten. Eine abriegelnde Wirkung gehe von dem - 9,77 m breiten - Vorhaben nicht aus; weder die Fristhöhe von 8,27 m noch die Traufhöhe von 5,91 m ließen das Gebäude bei einer Grundfläche von rund 88 m² besonders mächtig erscheinen. Dem schließt sich der Senat an. Soweit der Kläger einwendet, der abriegelnde Eindruck werde durch die Höhenunterschiede verstärkt, hat das Verwaltungsgericht hierzu bereits ausgeführt, die Höhenunterschiede zwischen den Grundstücken betrügen nach dem Höhenplan im Vergleich der Nordostseite des Gebäudes bis zur Grundstücksgrenze nur 6 bis 8 cm. Selbst wenn das klägerische Grundstück im weiteren Verlauf etwas tiefer liegen sollte, lägen unzumutbare Zustände fern; der Vergleich mit umliegenden Gebäuden zeige, dass das streitige Vorhaben nicht aus dem Rahmen falle. Das überzeugt. Inwiefern sich das Vorhaben aufgrund dieser geringfügigen Höhenunterschiede als rücksichtslos erweist, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
Schließlich dringt der Kläger mit seinem Einwand, der Hinterliegerbereich werde erstmals bebaubar, was dazu führe, dass die Grundlage der nachbarlichen Gemeinschaft verletzt sei, nicht durch. Sofern der Kläger hiermit eine etwaige Vorbildwirkung für nachfolgende Vorhaben rügen will, ist eine solche für den Senat nicht erkennbar. Das Vorhaben ist keine „klassische“ Hinterliegerbebauung, da es zur Straße G. ausgerichtet ist und insoweit die Lücke zwischen den Gebäuden G. 2 A und D-Straße schließt. Zudem ist bereits heute auch in der Straße F. Hinterliegerbebauung vorhanden.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, da er sich am Verfahren nicht inhaltlich beteiligt und keinen Antrag gestellt hat.
Die Streitwertfestsetzung, die der Festsetzung des Verwaltungsgerichts folgt, beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).