Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.02.2022, Az.: 1 MN 160/21
Abwägungserheblichkeit; Antragsbefugnis; Belang; TA Lärm; Verkehrslärm; Verkehrszunahme; Vermischung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 21.02.2022
- Aktenzeichen
- 1 MN 160/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59817
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs 7 BauGB
- Nr 7.4 TA Lärm
- § 47 Abs 2 S 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Das Interesse des Eigentümers eines Grundstücks außerhalb des Plangebiets, von einer Lärmzunahme aufgrund des Zu- und Abfahrtsverkehrs zum Plangebiet verschont zu bleiben, kann nach den Umständen des Einzelfalls einen abwägungserheblichen Belang darstellen, wenn sich der durch die Planung ausgelöste Verkehr innerhalb eines räumlich überschaubaren Bereichs bewegt und vom übrigen Straßenverkehr unterscheidbar ist (im Anschluss an BVerwG, Beschl. v. 1.7.2020 - 4 BN 49.19 -, BRS 88 Nr. 170 = juris Rn. 8 m.w.N.).
2. Zur Bestimmung des in der Bauleitplanung zu betrachtenden räumlich überschaubaren Bereichs ist eine Orientierung an Nr. 7.4 Abs. 2 TA-Lärm möglich (dort 500 m, vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.2007 - 4 BN 41.07 -, NVwZ 2008, 426 = BRS 71 Nr. 6 = juris Rn. 6).
3. Besondere Umstände des Einzelfalls wie etwa eine besonders ausgeprägte Abgrenzbarkeit des Verkehrs oder besondere Aspekte der Verkehrs- oder Siedlungsstruktur, können einen erweiterten, über 500 m hinausgehenden Betrachtungsradius gebieten.
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird auf 12.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich als Anwohner in einem benachbarten Ortsteil gegen den Bebauungsplan Nr. 355 "Gewerbegebiet Sehnde-Ost", weil er sich unzumutbaren Verkehrslärmimmissionen ausgesetzt sieht.
Der Antragsteller ist Eigentümer des aus dem Aktivrubrum ersichtlichen Grundstücks, das östlich des Hauptortes im Ortsteil F., dort wiederum im östlichen Teil, unmittelbar an der Ortsdurchfahrt der Bundesstraße 65 gelegen ist. Das Grundstück ist mit einem Wohnhaus bebaut.
Am östlichen Rand des Hauptortes plant die Antragsgegnerin eine Erweiterung der dortigen Gewerbegebiete um rund 17 ha bislang landwirtschaftlich genutzte, im Eigentum der Beigeladenen stehende Flächen, die im Osten von der kommunalen Entlastungsstraße und im Süden von der Bundesstraße 65 begrenzt werden. Für deutlich mehr als die Hälfte der als Gewerbegebiet festgesetzten Flächen besteht ein Ansiedlungswunsch eines größeren Logistikunternehmens, das ausweislich des im Planaufstellungsverfahren eingeholten Verkehrsgutachtens rund 700 Fahrbewegungen/24 h, davon rund die Hälfte Lkw, auslösen wird. Einschließlich der weiteren Nutzungen rechnet das Gutachten mit rund 1.190 Fahrbewegungen/24 h, davon rund 440 Fahrbewegungen mit Lkw. Der Verkehr wird über eine neue Zufahrt unmittelbar auf die nordöstlich um den Hauptort herumführende kommunale Entlastungsstraße geleitet. Von dort fließt nach der gutachterlichen Prognose ein Anteil von rund 15 % auf der Bundesstraße 65 nach Osten - und damit durch den Ortsteil F. vorbei am Haus des Antragstellers - ab. Die Entfernung des Plangebiets zum Haus des Antragstellers beträgt rund 1,2 km.
Gegen den vom Rat der Antragsgegnerin in seiner Sitzung vom 24. Juni 2021 beschlossenen und am 26. August 2021 im gemeinsamen Amtsblatt für die Stadt Hannover und die Region Hannover bekannt gemachten Bebauungsplan wendet sich der Antragsteller mit seinem Normenkontrolleilantrag aufgrund der zunehmenden Verkehrsbelastung auf der Bundesstraße 65 in Höhe seines Grundstücks. Er rügt neben formalen Mängeln des Plans, dass es die Antragsgegnerin unterlassen habe, die Auswirkungen des Mehrverkehrs und die auf die Wohnbebauung entlang der Bundesstraße einwirkenden Verkehrslärmimmissionen zu untersuchen und in ihre Abwägung einzustellen. Das gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Lärmbelastung seines Grundstücks zur Nachtzeit - wie sich im Normenkontrolleilverfahren herausgestellt habe - von 59,5 dB(A) auf 60,1 dB(A) steigen und damit erstmals die Gesundheitsgefährdungsschwelle überschreiten werde.
Der Antragsteller beantragt,
den von der Antragsgegnerin am 24. Juni 2021 als Satzung beschlossenen und am 26. August 2021 veröffentlichten Bebauungsplan „Gewerbegebiet Sehnde-Ost Nr. 355“ vorläufig außer Vollzug zu setzen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Eilantrag abzulehnen.
Sie hält den Antrag für unzulässig, weil dem Antragsteller die Antragsbefugnis fehle. Aus einer im gerichtlichen Verfahren eingeholten lärmtechnischen Stellungnahme vom 18. Januar 2022 ergebe sich, dass die Lärmbelastung seines Grundstücks nur geringfügig, nämlich um 0,4 dB(A) tags und 0,6 dB(A) nachts zunehme. Das liege allein im rechnerischen Bereich und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; zudem sei fraglich, ob die Lärmzunahme aufgrund der Entfernung noch zurechenbar sei. Für das Logistikzentrum, das den wesentlichen Teil des Plangebiets nutzen werde, sei zudem bereits ein positiver Bauvorbescheid hinsichtlich der zulässigen Art der baulichen Nutzung erteilt worden; damit stehe das Rechtsschutzbedürfnis in Frage. In der Sache sei der Plan frei von formellen und materiellen Fehlern. Insbesondere werde sie, die Antragsgegnerin, - was sie im Plan aber nicht habe regeln können - die zulässige Höchstgeschwindigkeit in der Ortsdurchfahrt F. von 50 km/h auf 30 km/h absenken und so die Lärmzunahme überkompensieren.
Die Beigeladene hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.
II.
Der Normenkontrolleilantrag hat keinen Erfolg. Er ist unzulässig, weil dem Antragsteller bereits die Antragsbefugnis fehlt.
Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist im Normenkontrollverfahren und ebenso im Normenkontrolleilverfahren eine Person nur antragsbefugt, wenn sie geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Ist ein Antragsteller Eigentümer oder Nutzer von Grundstücken außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines Bebauungsplans, kann die Antragsbefugnis insbesondere aus dem subjektiven Recht auf gerechte Abwägung der eigenen Belange aus § 1 Abs. 7 BauGB folgen. Das dort normierte bauplanungsrechtliche Abwägungsgebot gewährt ein subjektives Recht. Der Betroffene kann verlangen, dass seine eigenen Belange in der Abwägung entsprechend ihrem Gewicht „abgearbeitet“ werden. Ein Antragsteller kann sich daher im Normenkontrollverfahren darauf berufen, dass seine abwägungserheblichen privaten Belange möglicherweise fehlerhaft abgewogen wurden. In diesem Fall obliegt es ihm, einen eigenen Belang als verletzt zu bezeichnen, der für die Abwägung beachtlich war (vgl. zusammenfassend BVerwG, Beschl. v. 28.10.2020 - 4 BN 44.20 -, juris Rn. 7 m.w.N.).
Das Interesse des Eigentümers eines Grundstücks außerhalb des Plangebiets, von einer Lärmzunahme aufgrund des Zu- und Abfahrtsverkehrs zum Plangebiet verschont zu bleiben, kann nach den Umständen des Einzelfalls einen abwägungserheblichen Belang darstellen, wenn sich der durch die Planung ausgelöste Verkehr innerhalb eines räumlich überschaubaren Bereichs bewegt und vom übrigen Straßenverkehr unterscheidbar ist. In diesem Fall gehört eine planbedingte Zunahme des Verkehrslärms auch unterhalb der Grenzwerte zum Abwägungsmaterial. Ist der Lärmzuwachs allerdings nur geringfügig, geht er mithin über die Bagatellgrenze nicht hinaus oder wirkt er sich nur unwesentlich auf das Nachbargrundstück aus, so muss er nicht in die Abwägung eingestellt werden (vgl. zusammenfassend BVerwG, Beschl. v. 1.7.2020 - 4 BN 49.19 -, BRS 88 Nr. 170 = juris Rn. 8 m.w.N.). Gemessen daran hat der Antragsteller einen eigenen abwägungserheblichen Belang nicht geltend gemacht. Der durch die Planung ausgelöste Mehrverkehr auf der Bundesstraße 65 vor seinem Haus ist dieser nicht mehr zurechenbar, weil er sich nicht innerhalb eines räumlich überschaubaren Bereichs bewegt und vom übrigen Straßenverkehr nicht unterscheidbar ist. Darauf, dass nachts die Gesundheitsgefährdungsschwelle (möglicherweise) erstmals überschritten wird (vgl. dazu Senatsurt. v. 24.6.2015 - 1 KN 138/13 -, BauR 2015, 1624 = BRS 83 Nr. 45 = juris Rn. 29), kommt es deshalb nicht an.
Zur Bestimmung des in der Bauleitplanung zu betrachtenden räumlich überschaubaren Bereichs orientiert sich der Senat im Ausgangspunkt an Nr. 7.4 Abs. 2 TA-Lärm (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.2007 - 4 BN 41.07 -, NVwZ 2008, 426 = BRS 71 Nr. 6 = juris Rn. 6). Danach sind Geräusche des An- und Abfahrtsverkehrs auf öffentlichen Verkehrsflächen in einem Abstand von bis zu 500 m von dem Betriebsgrundstück in bestimmten Gebieten durch Maßnahmen organisatorischer Art soweit wie möglich zu vermindern. Dieser Abstand, mit dem die TA-Lärm den möglichen verkehrlichen Einwirkungsbereich einer Anlage bemisst und der bei typisierender Betrachtung die Schwelle markiert, oberhalb derer Verkehr einer Anlage nicht mehr zugerechnet werden kann, ist im Fall des Antragstellers mit rund 1,2 km erheblich überschritten. Besondere Umstände des Einzelfalls wie etwa eine besonders ausgeprägte Abgrenzbarkeit des Verkehrs oder besondere Aspekte der Verkehrs- oder Siedlungsstruktur, die einen erweiterten Betrachtungsradius gebieten könnten, sind weder dargetan noch ersichtlich. Vielmehr unterstreicht die Belegenheit des Immissionsortes in einem eigenen, vom Baugebiet deutlich isolierten Ortsteil das Fehlen eines räumlichen Zusammenhangs.
Zugleich ist im Ortsteil F. eine solche Vermischung der von dem neuen Gewerbegebiet ausgehenden Verkehrsströme mit dem übrigen Verkehr auf der Bundesstraße 65 erfolgt, dass es an der erforderlichen Unterscheidbarkeit fehlt. Aus der von der Antragsgegnerin vorgelegten lärmtechnischen Stellungnahme vom 18. Januar 2022 folgt, dass die Verkehrsbelastung im östlichen Teil von F. ohne das Plangebiet bei rund 7.300 Fahrzeugen/24 h liegt und künftig auf rund 7.500 Fahrzeuge/24 h steigen wird. Schon diese prozentual sehr geringe Steigerung deutet darauf hin, dass es an der Unterscheidbarkeit fehlt und der Mehrverkehr im allgemeinen Verkehrsaufkommen aufgeht. Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die stündlichen Verkehrsbewegungen zur Tages- und Nachtzeit betrachtet. Sie nehmen tags von 438 auf 449 und nachts von 80,3 auf 83,3 Fahrzeuge pro Stunde zu. Damit fährt tagsüber in rund fünf Minuten und nachts in rund 20 Minuten jeweils ein Fahrzeug mehr am Haus des Antragstellers vorbei, während die Grundbelastung bei rund 7,3 bzw. 1,3 Fahrzeugen pro Minute liegt. Der Lkw-Anteil steigt ebenfalls nur geringfügig von 7,7 % auf 8,7 % tags und von 12,6 % auf 14,5 % nachts. Das zeigt anschaulich, dass es an einer Abgrenzbarkeit des Mehrverkehrs fehlt, weil dieser im Verhältnis zum Gesamtverkehr äußerst gering ist und deshalb in dem allgemeinen Verkehrsaufkommen nicht mehr erkennbar in Erscheinung tritt.
Fehlt es damit bereits an der Geltendmachung eines abwägungserheblichen Belangs des Antragstellers, kommt es auf die weitere Frage, ob auch das Rechtsschutzbedürfnis in Frage stehen könnte, nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG und Nr. 7a der Streitwertannahmen des Senats (NdsVBl 2021, 247).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).