Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.02.2022, Az.: 13 ME 498/21

Arbeitssuche; Erwerbsminderung; Freizügigkeitsberechtigung; nicht erwerbstätiger Unionsbürger

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.02.2022
Aktenzeichen
13 ME 498/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59515
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.12.2021 - AZ: 5 B 1574/21

Tenor:

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 3. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

II. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 3. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. 13 ME 498/21

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 3. Dezember 2021 bleibt ohne Erfolg.

Die Ablehnung dieses Antrags durch das Verwaltungsgericht ist nicht zu beanstanden. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung hat die Antragsgegnerin zu Recht nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU den Verlust des Rechts des Antragstellers auf Einreise und Aufenthalt festgestellt. Der Senat verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine andere Entscheidung.

1. Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde rügt, das Gericht habe übersehen, dass gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU Unionsbürger auch losgelöst von einer Erwerbstätigeneigenschaft bzw. sonstiger wirtschaftlicher Tätigkeit freizügigkeitsberechtigt seien und dabei allein die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht automatisch und ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls den sofortigen Verlust der materiellen Freizügigkeitsberechtigung zur Folge haben dürfe, führt dies nicht zum Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU zu Recht verneint. Nicht erwerbstätige Unionsbürger, wie der Antragsteller, erlangen die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU bei Aufenthalten von mehr als drei Monaten nur dann, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Der Antragsteller hat weder dargelegt noch glaubhaft gemacht (vgl. zum Glaubhaftmachungserfordernis im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO: Senatsbeschl. v. 4.9.2019
- 13 ME 282/19 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 31.5.1999 - 10 S 2766/98 -, NVwZ 1999, 1243, 1244 - juris Rn. 12; Hessischer VGH, Beschl. v. 1.8.1991 - 4 TG 1244/91 -, NVwZ 1993, 491, 492 [VGH Hessen 01.08.1991 - 4 TH 1244/91] - juris Rn. 34; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 125 m.w.N.), dass er über ausreichende Existenzmittel und einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Etwas Anderes folgt nicht aus der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004. Nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie steht das Aufenthaltsrecht Unionsbürgern nur solange zu, wie sie die in Art. 7 der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie auch, dass der Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen und sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen. Allerdings darf nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer "Ausweisung" führen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist hierfür vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen erforderlich (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015 - BVerwG 1 C 22.14 -, juris Rn. 21 m. zahlr. Nachw. aus der Rspr. des EuGH). Die vom Antragsteller bereits im Antrags- und Klageverfahren dargelegte "Aufenthaltshistorie" (vgl. Bl. 2 f. d. GA), die durch die Ausführungen im angefochtenen Bescheid vom 26. Februar 2020 und die entsprechenden Unterlagen im Verwaltungsvorgang (insb. Bl. 16 ff. d. BA) bestätigt wird, weist mit großer Deutlichkeit darauf hin, dass der Antragsteller während des weit überwiegenden Zeitraums seines Aufenthaltes nicht in der Lage war, seine Existenz aus eigener Kraft - auch nicht teilweise - sicherzustellen, sondern regelmäßig auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen war. Der Bezug dieser Leistung ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.2.2016 - 3 B
267/15 -, juris Rn. 14; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4 FreizügG/EU, Rn. 41). Im Hinblick darauf spricht Vieles dafür, von einer langfristigen und damit unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen auszugehen. Auch unter Berücksichtigung der konkreten persönlichen Umstände des Antragstellers ergibt sich nichts Anderes. Zwar leidet der Antragsteller an einer Erkrankung, die schon bei seiner Einreise bestand und die ihn bei der Arbeitssuche und insbesondere der Auswahl geeigneter Stellen einschränken mag. Es ist jedoch weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass er aufgrund der Erkrankung nicht arbeitsfähig war oder ist. Dies trägt der Antragsteller auch selbst nicht vor. Bei der Erkrankung handelt es sich zudem nicht um einen vorübergehenden Umstand. Der Antragsteller war während seines nunmehr siebenjährigen Aufenthalts lediglich für etwas mehr als zwei Monate erwerbstätig und konnte damit ausreichende Existenzmittel nur für diesen kurzen Zeitraum darlegen. In den Zeiträumen vom 1. Juni 2015 bis 30. Juni 2017, 1. September bis 31. Dezember 2017 sowie seit dem 2. August 2019 - und damit während eines Zeitraumes von rund fünf Jahren - bezog der Antragsteller Leistungen nach dem SGB II. Angesichts dieser bisherigen Erwerbsbiografie ist nicht damit zu rechnen, dass er in Zukunft seinen Bedarf vollständig oder auch nur weitgehend aus einem zu erzielenden Einkommen wird decken können. Unter Berücksichtigung der langjährigen, vollumfänglichen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen würde es eine unangemessene Belastung für das nationale Sozialsystem in seiner Gesamtheit bedeuten, wenn es gleichermaßen für sämtliche Unionsbürger in der Lage des Antragstellers geöffnet und damit faktisch so etwas wie eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ begründet würde (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 16.10.2017 - 19 C 16.1719 -, juris Rn. 21, OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.9.2016 - 7 B 10406/16 -, juris Rn. 46). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs soll Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 - (Dano), juris Rn. 76).

2. Entgegen dem Beschwerdevorbringen besteht auch ein aus seiner Tätigkeit als Arbeitnehmer im Zeitraum 1. Juli 2017 bis zum 12. August 2017 gegebenenfalls früher begründetes Freizügigkeitsrecht wegen vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall nicht fort (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU). Der Antragsteller hat schon eine Erwerbsminderung infolge Krankheit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU nicht dargelegt und hinreichend glaubhaft gemacht.

Die Grunderkrankung (generalisierte Atherosklerose, koronare Herzerkrankung) des Antragstellers bestand, ausweislich der von ihm vorgelegten Arztberichte vom 20. August 2019 und 28. August 2020 (Bl. 6 u. 43 d. GA), schon vor seiner Einreise. Nach den vorgelegten Arztbriefen wurde der Antragsteller bereits 2010 im Libanon behandelt und erlitt 2013 und 2014 Myokardinfarkte. Weitere Behandlungen erfolgten 2015 und 2016. Seit dem 18. Mai 2017 wird der Antragsteller mittels Lipidapharese behandelt. Die vorgelegten Atteste enthalten jedoch keinerlei Angaben dazu, dass der Antragsteller arbeitsunfähig ist oder seine Arbeitsfähigkeit nur in einem eingeschränkten Umfang besteht und gegebenenfalls in welchem konkreten Ausmaß. Unbestritten liegt eine Erkrankung des Antragstellers vor, die auch zu Einschränkungen bei der Auswahl der in Frage kommenden Tätigkeiten führt (vgl. Attest vom 5.3.2020, Bl. 11 d. GA, in Tätigkeit mit leichteren Arbeiten“). Es ist jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang diese krankheitsbedingten Einschränkungen zu einer Arbeitsunfähigkeit führen. Der Antragsteller führt in seiner Antrags- und Klageschrift selbst aus, er sei aufgrund der Erkrankungen und medizinischen Behandlungen zwar eingeschränkt, aber weiterhin arbeitsfähig und in der Lage, leichten Erwerbstätigkeiten nachzugehen (vgl. Bl. 3 d. GA). Für eine jedenfalls nicht wesentlich geminderte Erwerbsfähigkeit spricht zudem, dass der Antragsteller trotz Vorliegens der Erkrankung und insbesondere der Behandlung mittels Lipidapherese bei seiner Tätigkeit als Paketzusteller im Juni, Juli und August 2017 mit einer Arbeitszeit von 35 Wochenstunden beschäftigt war (Bl. 33 ff. d. GA). Auch spricht der Bezug von Leistungen nach dem SGB II dafür (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 8 SGB II), dass der Antragsteller erwerbsfähig war und ist. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der gesundheitliche Zustand des Antragstellers im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit oder unmittelbar nach der Kündigung erheblich verschlechtert hätte. Die vom Antragsteller vorgelegten Krankenhausberichte betreffen stationäre Aufenthalte im Jahr 2019 (18.8. - 20.8.2019 und 20.11. - 28.11.2019, Bl. 8 ff. d. GA).

3. Soweit der Antragsteller weiter rügt, ihm komme entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU zu, da er sich ständig auf Stellenangebote beworben habe und ständig auf der Suche nach einer Erwerbstätigkeit sei, verhilft dies seiner Beschwerde nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung des Vortrags des Antragstellers und der von ihm vorgelegten Bescheinigungen und Bewerbungsschreiben nach dem zutreffenden rechtlichen Maßstab (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 11.2.2014 - 10 C 13.2241 -, juris Rn. 5 f.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 68 ff.) festgestellt, dass der Antragsteller keine ernsthaften und nachhaltigen Bemühungen um eine Arbeitsstelle dargelegt habe. Für den Zeitraum von seiner Einreise im März 2015 bis Juni 2017 habe er gar keine Nachweise vorgelegt. Aus dem bloßen Umstand, dass er im Juni 2017 eine Arbeitsstelle aufgenommen habe, die ihm nur wenige Wochen später gekündigt worden sei, und der Absolvierung einer Aktivierungsmaßnahme im Juni 2020 könne nicht geschlossen werden, dass er zuvor und danach mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit gesucht habe. Die vorgelegten Bewerbungsschreiben aus den Monaten November 2020 und Januar 2021 bis März 2021 seien ebenfalls nicht geeignet, ernsthafte und nachhaltige Bemühungen um eine Arbeitsstelle zu belegen, denn sie datierten aus einem kurzen Zeitraum und ließen keine begründeten Erfolgsaussichten erkennen (vgl. Beschluss v. 3.12.2021, S. 6 f.). Diese zutreffenden Erwägungen hat der Antragsteller mit seinem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt. Soweit er nicht nur sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt (vgl. zu den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO: Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 2.9.2008 - 8 ME 53/08 -, NdsVBl. 2008, 358, 359 -, juris Rn. 9; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 25.1.2007 - 6 S 2964/06 -, juris Rn. 2; Thüringer OVG, Beschl. v. 21.9.2005 - 2 EO 870/05 -, juris Rn. 41; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 28.8.2002 - 4 Bs 241/02 -, juris Rn. 5), sondern darüber hinaus im Beschwerdeverfahren vorträgt, es müsse berücksichtigt werden, dass er Leistungen nach dem SGB II und nicht dem SGB XII beziehe und sich dementsprechend arbeitssuchend gemeldet habe, ist nicht ersichtlich, inwieweit allein die Meldung als Arbeitssuchender und der Bezug von Leistungen nach dem SGB II ein ernsthaftes und nachhaltiges und auch nicht aussichtsloses Bemühen um eine Arbeitsstelle belegen soll. Soweit der Antragsteller weitere Bewerbungsschreiben aus Januar und Februar 2022 vorlegt, sind auch diese überwiegend nicht mit einer vollständigen Adresse der Empfänger versehen und betreffen größtenteils Arbeitsstellen mit körperlich anstrengenden Tätigkeiten (Lagermitarbeiter, Packer, Servicekraft), die der Antragsteller mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen kaum erfolgreich wird wahrnehmen können. Etwaige Reaktionen auf die Bewerbungen und Antwortschreiben hat der Antragsteller weder vorgetragen noch vorgelegt. Hinzu kommt, dass nachdem der Antragsteller wiederum seit Juni 2021 keinerlei Bemühungen um eine Arbeitsstelle dargelegt und nachgewiesen hat, die nunmehr unter dem Eindruck einer drohenden Aufenthaltsbeendigung vorgelegten Bewerbungen von Januar und Februar 2022 jedenfalls nicht geeignet sind, ernsthafte und vor allem nachhaltige Bemühungen - also insbesondere regelmäßige und kontinuierliche Bewerbungen um konkrete Arbeitsplatzangebote - nachzuweisen. Auch die Antragstellung auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist für sich nicht geeignet, eine ernsthafte, nachhaltige und aussichtsreiche Arbeitssuche zu belegen.