Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.02.2022, Az.: 4 MC 11/22
Abänderungsantrag; Abschiebungsandrohung; Asylantrag; Ausreisefrist; Erledigung; Gnandi; Hauptsacheerledigung; Kosten; offensichtlich unbegründet; Umstände, veränderte
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.02.2022
- Aktenzeichen
- 4 MC 11/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59520
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 34 AsylVfG 1992
- § 36 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 36 Abs 4 S 1 AsylVfG 1992
- § 83b AsylVfG 1992
- § 59 AufenthG
- § 161 Abs 2 S 1 VwGO
- § 80 Abs 4 VwGO
- § 80 Abs 5 VwGO
- § 80 Abs 7 S 1 VwGO
- § 80 Abs 7 S 2 VwGO
- § 92 Abs 3 S 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Verbindung der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet mit einer Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche "nach der Bekanntgabe dieser Entscheidung" führt zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung.
2. Dieser Rechtsfehler kann geheilt werden durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gemäß § 80 Abs. 4 VwGO oder durch die Anordnung der aufschiebunden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO.
3. Veränderte Umstände im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO können auch bei einer nach der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgten Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der erstmaligen höchstrichterlichen Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage vorliegen.
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Außerdem ist über die außergerichtlichen Kosten des nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden.
In der Regel entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des erledigten Verfahrens demjenigen Verfahrensbeteiligten aufzuerlegen, der ohne die Erledigung im Verfahren voraussichtlich unterlegen gewesen wäre. Deshalb sind hier die außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin aufzuerlegen. Denn der auf § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestützte Abänderungsantrag des Antragstellers hätte nach summarischer Prüfung ohne den nachträglichen Eintritt des erledigenden Ereignisses voraussichtlich Erfolg gehabt.
Über den Abänderungsantrag hätte der Senat als das Gericht, bei dem die Hauptsache zwischenzeitlich durch einen von der Antragsgegnerin gegen das erstinstanzliche Urteil gestellten Zulassungsantrag (Az. 4 LA 118/21) anhängig geworden war, zu entscheiden gehabt (vgl. § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO; siehe dazu den Senatsbeschl. v. 28.5.2020 - 4 MC 48/20 -, V.n.b.), Der Abänderungsantrag, an dessen Zulässigkeit keine Zweifel bestehen, wäre nach summarischer Prüfung begründet gewesen.
Vor Eintritt der Erledigung bestanden an der Rechtmäßigkeit der von der Antragsgegnerin unter Ziffer 5. des angefochtenen Bescheides vom 8. November 2018 auf der Grundlage von §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG und § 59 AufenthG verfügten Abschiebungsandrohung ernstliche Zweifel (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Denn die von der Antragsgegnerin mit der Abschiebungsandrohung verbundene Ausreisefrist von einer Woche „nach Bekanntgabe dieser Entscheidung“ steht nicht mit europäischem Recht in Einklang. Dieser Rechtsfehler führt zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 -, juris Rn. 23 ff., - 1 C 21.19 -, juris Rn. 15 ff., - 1 C 22.19 -, juris Rn. 21 ff.).
Anders als in den Fällen, über die das Bundesverwaltungsgericht in den soeben genannten Urteilen vom 20. Februar 2020 entschieden hat, ist dieser Rechtsfehler auch nicht im nachfolgenden Verfahren geheilt worden. Der Gerichtsakte ist nicht zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin nachträglich gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung der Abschiebungsandrohung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt hat (vgl. zur Fehlerheilung in diesem Fall BVerwG, Urt. v. 20.2.2022 - 1 C 19.19 -, juris Rn. 59 ff.). Auch eine zusprechende Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, durch die die rechtswidrige Ausreisefrist kraft Gesetzes durch die mit höherrangigem Recht vereinbare Ausreisefrist nach § 37 Abs. 2 AsylG ersetzt worden wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 21.19 -, juris Rn. 51 f.), ist nicht ergangen. Denn das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Beschluss vom 15. Januar 2019, gegen den sich der Abänderungsantrag des Antragstellers richtet, abgelehnt.
Darüber hinaus waren vor Eintritt der Erledigung auch die in § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO geregelten zusätzlichen Voraussetzungen für die Begründetheit des Abänderungsantrags gegeben.
Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung von Beschlüssen über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Veränderte Umstände im Sinne dieser Regelung können auch bei einer nach der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgten Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der erstmaligen höchstrichterlichen Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage vorliegen (BVerfG, Beschl. v. 26.8.2004 - 1 BvR 1446/04 -, juris Rn. 19; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 134; Bostedt in: Fehling u.a., 5. Aufl. 2021, Verwaltungsrecht, § 80 VwGO Rn. 190; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 197).
Eine derartige Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage ist hier durch die oben zitierten, erst nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Januar 2019 ergangenen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2020 erfolgt. In diesen Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht geklärt, dass die Ablehnung eines Antrags auf Asyl und auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet, wie sie auch im Fall des Antragstellers erfolgt ist, nicht mit einer Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche „nach Bekanntgabe dieser Entscheidung“ verbunden werden darf und dies zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führt (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 -, juris Rn. 23 ff., - 1 C 21.19 -, juris Rn. 15 ff., - 1 C 22.19 -, juris Rn. 21 ff.).
Die Rechtsposition, die das Bundesverwaltungsgericht in den Urteilen vom 20. Februar 2022 vertreten hat, war zwar bereits in Entscheidungen des EuGHs (Urt. v. 19.6.2018 - C-181/16, „Gnandi“ -; Beschl. v. 5.7.2018 - C-269/18 PPU -) angelegt, die schon vor dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Januar 2019 ergangen sind. Vor den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2020 war jedoch noch unklar, welche Folgerungen aus der Rechtsprechung des EuGHs für die Rechtmäßigkeit einer mit der Ablehnung des Asylantrags (als offensichtlich unbegründet) verbundenen Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG von einer Woche „nach Bekanntgabe dieser Entscheidung“ zu ziehen sind. Hierzu war in den Entscheidungen der Vorinstanz jeweils noch eine Auffassung vertreten worden, die von der des Bundesverwaltungsgerichts abweicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 -, juris Rn. 6 ff., - 1 C 21.19 -, juris Rn. 5 ff., - 1 C 22.19 -, juris Rn. 5 ff.).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).