Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.02.2012, Az.: 7 LA 215/11

Ausbleiben der Prüfung des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.R.d. Prüfung der Bedrohungssituation nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bei Nichterreichen eines hinreichend hohen Ausmaßes bezgl. des Grades der dafür zusätzlich festzustellenden willkürlichen Gewalt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.02.2012
Aktenzeichen
7 LA 215/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 11279
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:0213.7LA215.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 15.06.2011 - 3 A 1895/09 - URTEIL

Amtlicher Leitsatz

Es kann für die Prüfung der Bedrohungssituation nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG offenbleiben, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, wenn der Grad der dafür zusätzlich feszustellenden willkürlichen Gewalt jedenfalls kein hinreichend hohes Ausmaß erreicht (entschieden für Afghanistan).

Gründe

1

I.

Mit dem im Tenor bezeichneten Urteil hat das Verwaltungsgericht die auf Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz, gerichtete Klage des Klägers abgewiesen.

2

Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevanten Bedrohungen ausgesetzt wäre. So habe er nicht dartun können, dort verfolgt worden zu sein. Sein diesbezügliches Vorbringen sei widersprüchlich und unglaubhaft. Auch Nachfluchtgründe lägen nicht vor. Das gleiche gelte für die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG. Schutz nach dessen Absätzen 2 und 3 könne der Kläger wegen der Unglaubhaftigkeit seiner Schilderungen ebenfalls nicht beanspruchen. Aber auch die Voraussetzungen des Absatzes 7 Satz 2 - erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes - seien nicht gegeben. Dafür könne unentschieden bleiben, ob in der Herkunftsregion des Klägers, Kapisa, ein derartiger Konflikt bestehe. Denn jedenfalls sei dort das Gefahrenniveau nicht so hoch, dass der Kläger allein durch seine Anwesenheit ernsthaft Gefahr liefe, an Leib und Leben bedroht zu werden. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in der vergleichbaren Provinz Kabul, für die Zahlen vorlägen, Opfer eines Anschlags zu werden, habe im Jahr 2008 bei ca. 0,011% und im Jahr 2010 bei ca. 0,015% gelegen. In der Person des Klägers seien auch keine zu beachtenden gefahrenerhöhenden Umstände gegeben. Ebenso wenig könnten wegen der Unglaubhaftigkeit der Schilderung einer angeblichen Verfolgung in seinem Heimatland die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festgestellt werden. Das sei zwar auch unabhängig von einem Verfolgungsschicksal möglich, wenn nämlich die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan den Kläger in eine derart extreme allgemeine Gefahrenlage bringen würden, dass er gleichsam sehenden Auges sofort dem sicheren Tod ausgeliefert würde oder schwerste Verletzungen zu gewärtigen hätte. Auch eine derartige Situation bestehe für den Kläger bei einer Rückkehr aber nicht. Er sei jung, arbeitsfähig und habe weiterhin Verwandte in der Region, die als Bauern ihren und seinen Lebensunterhalt einigermaßen sichern könnten.

3

Der Kläger begehrt gegen das Urteil die Zulassung der Berufung, weil der Rechtssache wegen der Frage, ob in Afghanistan ein innerstaatlicher Konflikt bestehe, grundsätzliche Bedeutung zukomme. Bei einer - für ihn anzunehmenden - Bedrohung durch willkürliche, also wahllose Gewalt im Sinne der zu beachtenden Qualifikationsrichtlinie könne dies nicht offenbleiben.

4

Die Beklagte tritt dem unter Berufung auf die Rechtsprechung vor allem des Bundesverwaltungsgerichts entgegen.

5

II.

Dem Kläger kann die für das vorliegende Verfahren beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil, wie sich vertiefend aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, seine Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 166 VwGO i.V.m. § 114 S. 1 ZPO.

6

Die dargelegten Gründe rechfertigen es nicht, die Berufung wegen der behaupteten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 78 Abs. 4 S. 4, Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG.

7

Die Zulassung würde voraussetzen, dass eine obergerichtlich klärungsbedürftige Frage aufgeworfen wird, die neben ihrer Bedeutsamkeit über den Einzelfall hinaus auch entscheidungserheblich ist. Das ist bei der Frage, ob in Afghanistan oder zumindest in der Provinz Kapisa ein "innerstaatlicher bewaffneter Konflikt" im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. Art. 15 c QRL besteht, nach den mit zulassungsrelevanten Rügen nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts jedoch zu verneinen.

8

Das Verwaltungsgericht hat es offengelassen, ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Afghanistan nach Intensität und Größenordnung als ein derartiger Konflikt eingeordnet werden können. Denn die für die Herkunftsregion des Klägers ermittelte Gefahrendichte erreiche jedenfalls kein derartiges Ausmaß, dass dort praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer konkreten individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

9

Diesen mit statistischem Material ermittelten Befund entkräftet der Kläger nicht mit der allgemeinen Aussage, dass man "zu jeder Zeit und an jedem Ort in Afghanistan Opfer willkürlicher Gewalt werden kann". Letzteres dürfte sogar zutreffen, entbindet Beklagte wie auch kontrollierende Gerichte aber gerade nicht von der Notwendigkeit, in jedem Fall zusätzlich - auch quantitative - Feststellungen über Niveau und Stärke der "willkürlichen Gewalt" und damit der Ernsthaftigkeit einer Bedrohung in dem jeweiligen Gebiet zu treffen. Diese Notwendigkeit besteht ausdrücklich auch dann, wenn ein bewaffneter Konflikt im Definitionssinn vorliegt (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360, <374>, <375 = Rn. 33>; BayVGH, Urt. v. 03.02.2011 - 13a B 10.30394 -, [...], Rn. 20, 21). Die Annahme des Klägers, ohne vorherige Klassifizierung der bewaffneten Auseinandersetzung als bewaffneter Konflikt - oder "nur" als vereinzelte Gewalttaten - keine Aussage zur möglichen Bedrohungswahrscheinlichkeit im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG machen zu können, trifft deshalb nicht zu.

10

Damit durfte das Verwaltungsgericht die Einordnung der bewaffneten Konflikte in Afghanistan offenlassen und kommt es auf die vom Kläger formulierte Grundsatzfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht an.

11

Da der Kläger weitere Gründe für eine Zulassung der Berufung nicht vorträgt bzw. sich nicht gegen andere Teile der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wendet, ist der Antrag insgesamt als unbegründet abzulehnen. Das Urteil wird damit rechtskräftig, § 78 Abs. 5 S. 2 AsylVfG.