Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.02.2012, Az.: 4 LA 75/11
Mangelnde Eignung von Beihilfevorschriften als Beurteilungskriterium für das Vorliegen einer unbilligen Härte nach § 25 Abs. 6 S. 1 BAföG
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.02.2012
- Aktenzeichen
- 4 LA 75/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 11274
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2012:0202.4LA75.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Göttingen - 27.01.2011 - AZ: 2 A 101/09
Rechtsgrundlagen
- § 25 Abs. 6 S. 1 BAföG
- §§ 33 ff. EStG
Fundstellen
- DÖV 2012, 367
- NordÖR 2012, 214
- NordÖR 2012, 212
Amtlicher Leitsatz
Im Falle von nicht gedeckten Krankheitskosten ist bei der Feststellung des Vorliegens einer unbilligen Härte nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG von der Wertung des Gesetzgebers in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG auszugehen, wonach insbesondere außergewöhnliche Belastungen nach den§§ 33 ff. EStG, zu denen diese Kosten in der Regel zählen, unter § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG fallen; die Beihilfevorschriften, aufgrund derer die Krankheitskosten nur teilweise übernommen werden, kommen insoweit als Beurteilungskriterium nicht in Betracht.
Gründe
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die Beklagte verpflichtet hat, der Klägerin für den Bewilligungszeitraum von Oktober 2008 bis September 2009 weitere Ausbildungsförderungsleistungen in Höhe von insgesamt 216 EUR zu bewilligen, und die diesen Zeitraum betreffenden Bescheide der Beklagten aufgehoben hat, soweit sie dem entgegenstehen, hat keinen Erfolg.
Der von der Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor. Denn das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass gemäߧ 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG ein weiterer Teil des Einkommens des Vaters der Klägerin zur Vermeidung einer unbilligen Härte anrechnungsfrei zu bleiben hat mit der Folge, dass die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung einer höheren Ausbildungsförderung hat.
Nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG kann auf besonderen Antrag, der vor dem Ende des Bewilligungszeitraums zu stellen ist, abweichend von den vorstehenden Vorschriften (§ 25 Abs. 1, 3 und 4 BAföG) ein weiterer Teil des Einkommens zur Vermeidung unbilliger Härten anrechnungsfrei bleiben. Hierunter fallen nach§ 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG insbesondere außergewöhnliche Belastungen nach den §§ 33 bis 33b EStG sowie Aufwendungen für behinderte Personen, denen der Einkommensbezieher nach dem bürgerlichen Recht unterhaltspflichtig ist. Nach § 33 Abs. 1 EStG entsteht eine außergewöhnliche Belastung, wenn dem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen die Aufwendungen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
Zu dem Verhältnis zwischen außergewöhnlichen Belastungen im Sinne der §§ 33 ff. EStG und der Annahme einer unbilligen Härte nach § 25 Abs. 6 BAföG hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 1998 (- 5 C 14.97 -, BVerwGE 107, 164 [BVerwG 17.07.1998 - 5 C 14/97]) ausgeführt:
"Außergewöhnliche Belastungen können die Annahme einer unbilligen Härte rechtfertigen ... , sind also nach§ 25 Abs. 6 BAföG geeignet, eine unbillige Härte im Sinne dieser Vorschrift zu begründen ... . Der gesetzlichen Hervorhebung der Beispiele in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG, d.h. der außergewöhnlichen Belastungen nach §§ 33 ff. EStG und der Aufwendungen für behinderte Personen, kann aber nicht nur entnommen werden, dass in diesen Fällen eine Anrechnungsfreiheit möglich ist, wenn damit eine unbillige Härte verbieten werden kann. Vielmehr enthält die gesetzliche Hervorhebung ... eine Wertung dahin, dass es in diesen Beispielsfällen nahe liegt, einen weiteren Teil des Einkommens anrechnungsfrei zu lassen, um eine - sonst (d.h. ohne Härtefreibetrag) eintretende - unbillige Härte zu vermeiden. Von dieser Wertung des Gesetzgebers ist bei der Beurteilung, ob der Eintritt einer unbilligen Härte droht, und bei der Ermessensentscheidung über den Freibetrag nach § 25 Abs. 6 BAföG auszugehen."
Zum Ermessen im Rahmen des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung ferner ausgeführt:
"Da es Sinn und Zweck des § 25 Abs. 6 BAföG ist, unbillige Härten zu vermeiden, prägt der Begriff der unbilligen Härte den Zweck der Ermessensermächtigung ... entscheidend und bestimmt maßgeblich das Steuerungsprogramm für das Ermessen sowie die hierfür beachtlichen Kriterien. Neben diesem Zweck, unbillige Härten zu vermeiden, sind andere für die Einräumung eines Freibetrages nach § 25 Abs. 6 BAföG bedeutsame Ermessensgesichtspunkte nicht ersichtlich. So lassen sich keine Gründe finden, die es rechtfertigen könnten, gegen den Ermächtigungszweck einen weiteren Teil des Einkommens trotz sonst eintretender unbilliger Härte nicht anrechnungsfrei zu lassen."
Hier hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung, dass es sich bei den durch die Leistungen der Beihilfestelle und der privaten Krankenkasse des Vaters der Klägerin nicht gedeckten Kosten für zahnärztliche Behandlungen von Mitgliedern der Familie der Klägerin in Höhe von insgesamt 1.299,57 EUR um außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 EStG handelt, weil die betreffende Implantatversorgung eine medizinisch anerkannte Methode "bei Verlust von Zähnen" ist, der Zahnarzt nach § 1 Abs. 2 der Gebührenordnung für Zahnärzte eine Vergütung grundsätzlich nur für Leistungen berechnen darf, die nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst für eine zahnmedizinisch notwendige zahnärztliche Versorgung erforderlich sind, und keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die Implantatversorgung hier nicht im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG notwendig gewesen ist oder die Aufwendungen hierfür nicht der Höhe nach angemessen gewesen sind, zutreffend festgestellt, dass es sich bei diesen Zahnarztkosten um außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 EStG handelt. Dies wird im Übrigen auch von der Beklagten nicht bestritten.
Handelt es sich demnach bei den zur Begründung des Antrages nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG angeführten Zahnarztkosten um außergewöhnliche Belastungen im Sinne des§ 33 EStG, liegt es nach der oben wieder gegebenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nahe, im Umfange dieser Kosten einen weiteren Teil des maßgeblichen Einkommens des Vaters der Klägerin anrechnungsfrei zu lassen, um eine unbillige Härte zu vermeiden. Konkrete Gründe für ein Abweichen von der Wertung des Gesetzgebers in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG sind hier nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat in diesem Zusammenhang daher auch kein Anlass zur Einholung eines Sachverständigengutachtens "im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes" bestanden.
Auch die von der Beklagten zur Begründung ihrer Auffassung, dass hier keine unbillige Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG vorliege, angeführten Beihilfevorschriften, aufgrund derer die Beihilfestelle die betreffenden Zahnarztkosten nur teilweise übernommen hat, sind nicht geeignet, eine Abweichung von der in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers zu rechtfertigen. Denn würde in allen Fällen, in denen die Beihilfestelle aufgrund der Beihilfevorschriften einen Teil der Kosten der ärztlichen Behandlung nicht übernimmt, hinsichtlich dieser Kosten im Hinblick auf die Beihilfevorschriften eine unbillige Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG verneint, könnten diese Krankheitskosten, die in der Regel auch nicht von der Privatversicherung übernommen werden, grundsätzlich keine unbillige Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG begründen, obwohl sie in der Regel außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 EStG sind. Dies hätte zur Folge, dass bei der Beurteilung der Frage, ob eine unbillige Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG vorliegt, in diesen Fällen an die Stelle der §§ 33 ff. EStG die Beihilfevorschriften als Beurteilungskriterium treten würden. Dies würde der Wertung des Gesetzgebers in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG, wonach insbesondere außergewöhnliche Belastungen nach den§§ 33 ff. EStG unter § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG fallen, aber ersichtlich zuwider laufen. Darüber hinaus sind die Beihilfevorschriften für die Beurteilung der Frage, ob Krankheitskosten eine unbillige Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG begründen, ohnehin kein geeignetes allgemein gültiges Kriterium, weil weder Selbstständige, die zwar privat versichert, aber nicht beihilfeberechtigt sind, noch gesetzlich Versicherte in den Anwendungsbereich der Beihilfevorschriften fallen und zudem noch zwischen den Beihilfevorschriften des Bundes und des Landes unterschieden werden müsste. Es liegt auf der Hand, dass die Frage des Vorliegens einer unbilligen Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG nicht danach unterschiedlich beantwortet werden kann, nach welchen Vorschriften und von wem die betreffende Person die Erstattung ihrer Krankheitskosten verlangen kann.
Aus diesen Gründen ist in den Fällen nicht erstatteter Krankheitskosten bei der Feststellung des Vorliegens einer unbilligen Härte im Sinne des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG nicht von den Beihilfevorschriften, sondern von der Wertung des Gesetzgebers in § 25 Abs. 6 Satz 2 BAföG, wonach insbesondere außergewöhnliche Belastungen nach den §§ 33 ff. EStG unter § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG fallen, auszugehen. Da hier weder konkrete Gründe für ein Abweichen von dieser Wertung des Gesetzgebers noch Gründe dafür ersichtlich sind, dass die vom Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) beschriebene Reduzierung des Ermessens nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG nicht eingetreten ist, hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Recht verpflichtet, im Hinblick auf die nicht gedeckten Zahnarztkosten einen weiteren Teil des Einkommens des Vaters der Klägerin zur Vermeidung einer unbilligen Härte anrechnungsfrei zu stellen und der Klägerin eine entsprechend höhere Ausbildungsförderung zu gewähren.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts ergeben sich schließlich auch nicht daraus, dass dieses nach Meinung der Beklagten im "Entscheidungstext mehrfach den eindeutig falschen Rückschluss, dass das Vorliegen einer außergewöhnlichen Belastung im Sinne des § 33 Abs. 1 EStG und somit des in § 25 Abs. 6 BAföG genannten Regelbeispiels in jedem Fall auch zu einer unbilligen Härte im Sinne dieser Vorschrift führen muss", getroffen haben soll, da diese Behauptung unzutreffend ist. Eine derartige Feststellung findet sich nicht in den Entscheidungsgründen des Urteils des Verwaltungsgerichts.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte auch zu Recht verurteilt, der Klägerin Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz auf den Betrag von 216 EUR ab dem 22. Juni 2009, also ab dem Tag der Klageerhebung bzw. des Eintritts der Rechtshängigkeit, zu zahlen. Denn der von der Beklagten angeführte § 44 SGB I, wonach Ansprüche auf Geldleistungen mit 4% zu verzinsen sind, betrifft nicht die Prozesszinsen, die in analoger Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz ab dem Eintritt der Rechtshängigkeit betragen.
Die Berufung kann auch nicht wegen der von der Beklagten ferner geltend gemachten besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zugelassen werden, da die hier entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen nach dem oben Gesagten ohne besondere, d.h. überdurchschnittliche Schwierigkeiten beantwortet werden können.