Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.02.2021, Az.: 4 LA 212/19

Streit um die Gewährung subsidiären Schutzes wegen der schlechten humanitären Lage in Somalia; Keine Zielgerichtetheit der schlechten humanitären Bedingungen; Akteur im Sinne des § 3c AsylG

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.02.2021
Aktenzeichen
4 LA 212/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 13319
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 09.08.2019

Fundstelle

  • AUAS 2021, 80-83

Amtlicher Leitsatz

Die schlechte humanitäre Lage in Mogadischu und ganz Somalia wird nicht zielgerichtet von einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c AsylG verursacht.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 9. August 2019 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Denn die von ihr geltend gemachten Berufungszulassungsgründe der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegen nicht vor.

Die Berufung ist nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen.

Der Zulassungsgrund der Divergenz liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht seinem Urteil einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit einem in einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechts- oder Tatsachenfrage betreffenden oder einem in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechtsfrage betreffenden und die Entscheidung tragenden Rechtssatz nicht übereinstimmt (vgl. GK-AsylG, § 78 Rn. 156 ff., m. w. N.). Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied deutlich werden, weil die bloße unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 179 ff., m. w. N.). Die Darlegung der Divergenz, die § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt, erfordert daher die Angabe des Rechtssatzes, mit dem das Verwaltungsgericht von dem obergerichtlich oder höchstrichterlich gebildeten Rechtssatz abgewichen sein soll, die konkrete Bezeichnung der Entscheidung, die den obergerichtlich oder höchstrichterlich entwickelten Rechtssatz enthalten soll, die Wiedergabe dieses Rechtssatzes und Erläuterungen dazu, worin die Abweichung konkret bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 614 ff., m. w. N.).

Bei Anwendung dieses Maßstabs weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht von dem vom Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 13. Februar 2019 (- 1 B 2.19 - Rn. 12) aufgestellten Rechtssatz ab, wonach die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen der schlechten humanitären Verhältnisse im Abschiebungszielstaat voraussetzt, dass diese Lage durch ein zielgerichtetes Handeln oder Unterlassen eines Akteurs (im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c AsylG) hervorgerufen oder erheblich verstärkt worden ist. Wie die Beklagte selbst einräumt, hat das Verwaltungsgericht einen davon abweichenden Rechtssatz nicht ausdrücklich aufgestellt.

Eine stillschweigende Abweichung von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dazu GK-AsylG, § 78 Rn. 176 ff.) liegt ebenfalls nicht vor. Im Hinblick darauf, dass die unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt, deutet das Übersehen oder die fehlerhafte Anwendung eines von einem divergenzfähigen Gericht aufgestellten Rechtssatzes nämlich im Regelfall nicht darauf hin, dass das Verwaltungsgericht einen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat (GK-AsylG, § 78 Rn. 177). Der Senat geht davon aus, dass ein solcher Fall hier gegeben ist. Denn das Verwaltungsgericht hat sich in dem Urteil weder mit dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Februar 2019 auseinandergesetzt, noch in sonstiger Form mit der Frage beschäftigt, ob die Gewährung des subsidiären Schutzes voraussetzt, dass die schlechte humanitäre Lage im Abschiebungszielstaat von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure zielgerichtet verursacht worden ist.

Eine Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG scheidet ebenfalls aus.

Nach allgemeiner Auffassung ist eine für den Rechtsstreit entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht klärungsbedürftig und daher nicht von grundsätzlicher Bedeutung, wenn sie unschwer anhand des Gesetzes oder der bereits vorhandenen Rechtsprechung beantwortet werden kann. Ein gewichtiger Anhaltspunkt dafür kann sein, dass die Rechtsfrage (so gut wie) unbestritten ist (zu § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO: Senatsbeschl. v. 11.8.2020 - 4 LA 163/20 -; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 143). Entsprechendes gilt auch für Tatsachenfragen.

So verhält es sich hier. Denn die von der Beklagten zur Gewährung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aufgeworfene Frage, "ob die schlechten humanitären Verhältnisse/Bedingungen in Mogadischu als Zielort einer Rückführung zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG hervorgerufen werden", wird in der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte sowie der Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe konkret für Mogadischu bzw. für ganz Somalia so gut wie einhellig verneint (sämtlich veröffentlicht in juris: Bay. VGH, Urt. v. 12.2.2020 - 23 B 18.30809 -; Hess. VGH, Urt. v. 14.10.2019 - 4 A 1575/19.A - u. v. 1.8.2019 - 4 2334/18.A -; VG Cottbus, Urt. v. 8.12.2020 - 5 K 2093/15.A -; VG Gießen, Urt. v. 29.6.2020 - 8 K 9875/17.GI.A -; VG Würzburg, Urt. v. 18.5.2020 - W 9 K 19.31503 -; VG Frankfurt (Oder), Urt. v. 3.3.2020 - 2 K 1198/13.A -; VG Kassel, Urt. v. 2.10.2019 - 4 K 1122/17.KS.A -; VG Halle, Urt. v. 26.4.2019 - 6 A 1/19 -; VG Wiesbaden, Urt. v. 14.3.2019 - 7 K 1139/17.WI.A -; VG Karlsruhe, Urt. v. 25.2.2019 - A 14 K 102/18 -). Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hat hierzu in dem Urteil vom 14. März 2019 ausgeführt:

"Angesichts dieser Ausführungen drohte der Klägerin bei einer Rückkehr nach Somalia keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG infolge der schlechten humanitären Bedingungen, weil diese nicht zielgerichtet von einem Akteur ausgehen.

Somalia ist zwar geprägt von einem jahrelangen bewaffneten Konflikt zwischen der Al Shabaab einerseits und den somalischen Regierungstruppen und deren Verbündeten andererseits (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018, insbesondere S. 4 f.). In tatsächlicher Hinsicht ist festzuhalten, dass die schlechten humanitären Bedingungen wesentlich auf dieser schlechten Sicherheitslage beruhen bzw. überwiegend auf direkte oder indirekte Aktionen der am Konflikt in Somalia beteiligten Akteure zurückgehen (mit diesem Ergebnis auch Niedersächsisches OVG, Urt. v. 05.12.2017 - 4 LB 50/16, juris, Rn. 70; VG Halle, Urt. v. 21.02.2019 - 4 A 58/17, juris; VG Berlin, Urt. v. 07.11.2018 - 28 K 141.17 A, juris; VG Karlsruhe, Urt. v. 28.08.2018 - A 14 K 2779/15, juris; Urt. v. 22.10.2018 - A 14 K 5512/15, juris).

Dieser kausale Konnex ist allein aber - wie dargelegt - nicht geeignet, einen Anspruch auf subsidiären Schutz zu begründen, vielmehr wäre es weiterhin erforderlich, dass die Konfliktparteien des somalischen Bürgerkrieges als Akteure i.S.d. § 3c AsylG die Verschlechterung der humanitären Bedingungen zielgerichtet hervorrufen oder zumindest erheblich verstärken. Dem somalischen Staat und den mit ihm verbündeten Truppen geht es indes darum, die Kontrolle über das gesamte Land wiederherzustellen bzw. zu erhalten, wohingegen die Al Shabaab versucht, mit militärischen Offensiven Teile Somalias zu erobern bzw. die bereits von ihr beherrschten Gebiete zu verteidigen (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2018, insbesondere S. 4 f.). Die von der Al Shabaab verübten Anschläge dienen ebenfalls primär dazu, das ohnehin fragile politische System Somalias und die gegnerischen Truppen weiter zu schwächen (vgl. den Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia vom 12.01.2018, S. 18). Die Verschlechterung der Lebensbedingungen für die somalische Zivilbevölkerung ist vor diesem Hintergrund "nur" als Kollateralschaden des intensiven Bürgerkrieges zu bewerten.

Zwar ergeben die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse, dass die Al Shabaab humanitäre Hilfe von außen behindert oder blockiert, die Erhebung von Steuern verstärkt, humanitäre Bedienstete entführt und Hilfslieferungen an Straßensperren besteuert (vgl. den Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia vom 12.01.2018, S. 123). Auch Behörden haben die Arbeit humanitärer Kräfte auf unterschiedliche Art behindert (vgl. den Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia vom 12.01.2018, S. 123). Diese Maßnahmen zielen aber nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der somalischen Zivilbevölkerung ab, sondern sind vielmehr Mittel zum Zweck im Kampf um die Vorherrschaft in Somalia, indem einerseits finanzielle Mittel für den Bürgerkrieg generiert werden und andererseits ausländische Hilfsorganisationen als Feinde der Al Shabaab aus dem Land ferngehalten werden sollen.

Selbst wenn man in diesen Handlungen eine zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage sehen würde, wäre dieser Einfluss relativ gering, weil der bewaffnete Konflikt der maßgebliche Grund für die schlechten Lebensbedingungen ist und die benannte zielgerichtete Verschlechterung nur einen Teilgrund bilden würde (vgl. VG Halle, Urt. v. 21.02.2019 - 4 A 58/17, juris, Rn. 36: "Die prekären humanitären Verhältnisse sind mithin nicht nur auf Dürreperioden zurückzuführen, sondern werden maßgeblich kausal und zum Teil auch zielgerichtet von den Konfliktparteien verursacht und ausgenutzt"; vgl. fast wortgleich VG Karlsruhe, Urt. v. 22.10.2018 - A 14 K 5512/15, juris, Rn. 47)."

Diese Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse in Somalia hat auch das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Entscheidung über die gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden gerichtete Sprungrevision nicht beanstandet (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 -, InfAuslR 2020, 363). Der Senat schließt sich dieser aus seiner Sicht überzeugenden Tatsachenbewertung ebenfalls an und sieht auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung auch keinen verbleibendenden Klärungsbedarf hinsichtlich der von der Beklagten aufgeworfenen Tatsachenfrage, zumal ihm keine Erkenntnismittel aus jüngster Zeit bekannt sind, die für eine abweichende Tatsacheneinschätzung sprechen.

Ein fortbestehender Klärungsbedarf ergibt sich auch nicht aus der abweichenden Auffassung, die das Verwaltungsgericht Berlin in einem von der Beklagten angeführten, offenbar unveröffentlichten Urteil (vom 20.8.2019 - 28 K 306.17 A -) zu der von der Beklagten formulierten Tatsachenfrage geäußert haben soll. Denn es handelt sich dabei um eine Einzelmeinung, die in dem von der Beklagten angeführten Zitat aus der Entscheidung auch nicht näher begründet wird.

Ein nach wie vor bestehender Klärungsbedarf ergibt sich ferner nicht aus dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht in der mit dem Zulassungsantrag angegriffenen Entscheidung dem Kläger den subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen der schlechten humanitären Verhältnisse in Mogadischu zugesprochen hat. Denn das Verwaltungsgericht hat sich in seinem Urteil mit der Frage, ob die schlechten humanitären Verhältnisse in Mogadischu zielgerichtet von einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c AsylG hervorgerufen werden, nicht befasst. Entsprechend lassen sich der Entscheidung auch keine Gesichtspunkte entnehmen, die die ganz herrschende Auffassung in der Verwaltungsrechtsprechung infrage stellen und daher für einen nach wie vor bestehenden Klärungsbedarf sprechen.

Schließlich liegt auch kein Fall einer nachträglichen Divergenz vor.

Ein Antrag auf Zulassung der Berufung, der auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) gestützt wird, ist zwar nach allgemeiner Auffassung in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) umzudeuten, wenn eine ursprünglich grundsätzlich klärungsbedürftige Frage zwischenzeitlich durch eine obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidung geklärt worden ist und damit nachträglich eine Divergenz eintritt, die innerhalb der Antragsbegründungsfrist nicht mehr geltend gemacht werden konnte, weil die Klärung erst später erfolgt oder bekannt geworden ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 21.1.2000 - 2 BvR 2125/97 -, DVBl. 2000, 407 m. w. N.; Senatsbeschl. v. 23.2.2016 - 4 LA 318/15 -; Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 78 AsylG Rn. 22; GK-AsylG, § 78 Rn. 186 ff.).

Ein derartiger Fall liegt hier aber nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob die von der Beklagten als grundsätzlich bedeutsam formulierte Tatsachenfrage, "ob die schlechten humanitären Verhältnisse/Bedingungen in Mogadischu als Zielort einer Rückführung zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG hervorgerufen werden", zum Zeitpunkt der Einlegung und Begründung des Zulassungsantrags (noch) von grundsätzlicher Bedeutung gewesen ist oder aufgrund der seinerzeit schon vorhandenen erst- und zweitinstanzlichen Verwaltungsrechtsprechung bereits als hinreichend geklärt anzusehen war. Denn jedenfalls hat das Verwaltungsgericht keinen Tatsachensatz aufgestellt, der von der in der vorhandenen Rechtsprechung ganz vorherrschenden Einschätzung abweicht, dass die schlechte humanitäre Situation im Mogadischu nicht von einem der in § 3c AsylG aufgezählten Akteure zielgerichtet hervorgerufen worden ist. Da das Verwaltungsgericht die Frage nicht problematisiert hat, ob die Gewährung von subsidiärem Schutz voraussetzt, dass die schlechte humanitäre Lage am Abschiebungszielort von einem Akteur zielgerichtet verursacht worden ist, liegt diesbezüglich auch auf der Ebene der Subsumtion eine unterbliebene Rechtsanwendung auf den Einzelfall vor, die keine Divergenz zu begründen vermag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).