Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.08.2022, Az.: 4 LA 67/22
Feststellung eines Abschiebungsverbots wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland (hier: Somalia); Antrag eines Asylsuchenden auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten Rechtszug
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 26.08.2022
- Aktenzeichen
- 4 LA 67/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 30151
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Lüneburg - 21.04.2022
Rechtsgrundlagen
- § 78 Abs. 3 Nr. 1, 2 AsylG
- § 60 Abs. 5 AufenthG
Fundstellen
- AUAS 2022, 212-214
- FA 2022, 273
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Nach Abschluss des Verfahrens im betreffenden Rechtszug kann Prozesskostenhilfe nur ausnahmsweise bewilligt werden, wenn der Bewilligungsantrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht verbeschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat.
- 2.
Zu den Voraussetzungen einer Berufungszulassung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen einer stillschweigenden Abweichung (hier verneint).
Tenor:
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 21. April 2022 wird abgelehnt.
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten Rechtszug wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Der von der Beklagten auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung) und Nr. 2 (Divergenz) AsylG gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15-; GK-AsylG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und ihm Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (Senatsbeschl. v. 9.8.2018 - 4 LA 140/18 - m.w.N.).
Die Beklagte möchte in Bezug auf das vom Verwaltungsgericht bejahte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG folgende Fragen geklärt wissen:
"Liegt für Antragssteller bei einer Rückkehr nach Somalia aufgrund der dortigen humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen ein derart hohes Gefährdungsniveau vor, dass eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK / 4 GrCH anzunehmen ist und daher ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen ist?
und
Sind die derzeitigen humanitären Bedingungen in Mogadishu derart schlecht, dass zu erwarten ist, dass jedem gesunden, arbeitsfähigen, alleinstehenden Mann ohne Unterhaltspflichten und ohne sozialem Netzwerk im Falle einer Rückkehr es nicht gelingen wird sein Existenzminimum zu erwirtschaften?"
Diese Tatsachenfragen sind jedoch deshalb nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie nicht fallübergreifend geklärt, sondern nur anhand der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls beantwortet werden können.
Ausgangspunkt der Beantwortung der Fragen ist der rechtliche Maßstab, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gilt. Er ist in der vorhandenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 15 ff. u. Beschl. v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 6 - jeweils m.w.N.).
Bei Anwendung dieses rechtlichen Prüfungsmaßstabs auf den zu entscheidenden Fall hängt die Antwort auf die oben genannten Tatsachenfragen von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. Senatsbeschl. v. 28.1.2022 - 4 LA 250/20 -, juris Rn. 9; OVG Saarland, Beschl. v. 15.7.2021 -2 A 96/21 -, juris Rn. 10). Daher bedarf es für die Beantwortung der Tatsachenfrage einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass sie sich einer allgemeinen, fallübergreifenden Klärung entzieht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, Rn. 11; Senatsbeschl. v. 28.1.2022, a.a.O., juris Rn. 9; OVG Saarland, a.a.O., juris Rn. 10; Nds. OVG, Beschl. v. 31.8.2021 - 9 LA 169/20 -, V.n.b.). Das gilt auch für den Fall des Klägers. Er kann zwar gemäß der Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts bei einer Rückkehr nach Somalia nicht mit Unterstützung durch Familienmitglieder und andere Angehörige seines Clans rechnen, weil er das Siedlungsgebiet des Clans, das sich auf den dem somalischen Festland südöstlich vorgelagerten Inseln befindet, vom Abschiebungszielort Mogadischu aus praktisch nicht erreichen könne (Urteilsabdruck, S. 7). Nach dem eben Gesagten spielen aber noch andere einzelfallbezogene Faktoren eine Rolle dafür, ob ihm bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine Notlage droht, die zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führt.
Die Berufung ist auch nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen der von der Beklagten gerügten Abweichung des Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
Der Zulassungsgrund der Divergenz liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht seinem Urteil einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit einem in einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechts- oder Tatsachenfrage betreffenden oder einem in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechtsfrage betreffenden und die Entscheidung tragenden Rechtssatz nicht übereinstimmt (vgl. GK-AsylG, § 78 Rn. 161 ff. m.w.N.). Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied deutlich werden, weil die bloße unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, § 78 Rn. 179 ff. m.w.N.). Die Darlegung der Divergenz, die § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt, erfordert daher die Angabe des Rechtssatzes, mit dem das Verwaltungsgericht von dem obergerichtlich oder höchstrichterlich gebildeten Rechtssatz abgewichen sein soll, die konkrete Bezeichnung der Entscheidung, die den obergerichtlich oder höchstrichterlich entwickelten Rechtssatz enthalten soll, die Wiedergabe dieses Rechtssatzes und Erläuterungen dazu, worin die Abweichung konkret bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, § 78 Rn. 615 m.w.N.).
Bei Anwendung dieses Maßstabs weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht von dem vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 21. April 2022 (- 1 C 10.21 -, juris Rn. 25) zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgestellten Rechtssatz ab, wonach dann, wenn der Rückkehrer Hilfeleistungen im Abschiebungszielstaat in Anspruch nehmen kann, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden kann, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Wie die Beklagte selbst einräumt, hat das Verwaltungsgericht einen davon abweichenden Rechtssatz nicht ausdrücklich aufgestellt.
Eine stillschweigende Abweichung von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dazu GK-AsylG, § 78 Rn. 176 ff.) liegt ebenfalls nicht vor. Im Hinblick darauf, dass die unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt, deutet das Übersehen oder die fehlerhafte Anwendung eines von einem divergenzfähigen Gericht aufgestellten Rechtssatzes nämlich im Regelfall nicht darauf hin, dass das Verwaltungsgericht einen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat (Senatsbeschl. v. 25.2.2021 - 4 LA 212/19 -, juris Rn. 5; GK-AsylG, § 78 Rn. 177). Der Senat geht davon aus, dass ein solcher Fall hier gegeben ist. Bereits der Umstand, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erst am 21. April 2022 verkündet worden ist und somit erst am Tag der abschließenden Entscheidungsfindung des Verwaltungsgerichts über dessen ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil, legt es mehr als nahe, dass das Verwaltungsgericht den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz lediglich übersehen hat. Das gilt umso mehr, als am 21. April 2022 lediglich eine Pressemitteilung (Nr. 25/2022) zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts veröffentlicht worden ist und das mit Entscheidungsgründen versehene vollständige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erst deutlich später veröffentlicht worden ist. Das Verwaltungsgericht hat sich in seiner Entscheidung auch weder mit dem Inhalt der Pressemitteilung auseinandergesetzt noch sich in sonstiger Form im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK mit der Gewährung von Unterstützungsleistungen an Rückkehrer nach Somalia beschäftigt.
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten Rechtszug bleibt ohne Erfolg. Das Prozesskostenhilfegesuch ist derzeit an sich noch nicht entscheidungsreif, weil der Kläger seinem Antrag weder eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch entsprechende Belege beigefügt hat (vgl. zu den Voraussetzungen der Entscheidungsreife: Senatsbeschl. v. 4.12.2020 - 4 PA 226/20 -, V.n.b.; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 77 m.w.N.). Der Senat hat mit seiner Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag gleichwohl nicht weiter abzuwarten, um dem Kläger noch Gelegenheit zu geben, die fehlenden Unterlagen nachzureichen. Nach Abschluss des Verfahrens im betreffenden Rechtszug, der hier durch den vorliegenden Beschluss des Senats eintritt, kann Prozesskostenhilfe nur ausnahmsweise bewilligt werden, wenn der Bewilligungsantrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht verbeschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (BVerwG, Beschl. v. 1.7.1991 - 5 B 26.91 -, juris Rn. 3; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 14.4.2010 - 1 BvR 362/10 -, juris Rn. 14 - jeweils m.w.N.). Diese Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen hier nicht vor, da der Kläger seinem Prozesskostenhilfeantrag die Unterlagen gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 ZPO nicht beigefügt und damit gerade nicht alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 5.10.2006 - 18 E 760/06 -, juris Rn. 8 u. 9 m.w.N.). Das gilt umso mehr, als der Berichterstatter des Senats den Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Verfügung vom 23. Juni 2022 noch darauf hingewiesen hat, dass dem Senat bisher keine Unterlagen vorliegen, die eine Prüfung der wirtschaftlichen Bewilligungsvoraussetzungen ermöglichen, und ihn zugleich aufgefordert hat, ein ausgefülltes PKH-Formular und geeignete Belege nachzureichen. Für die Einreichung dieser Unterlagen hatte der Kläger im Zeitraum seit der Übersendung der Verfügung vom 23. Juni 2022 bis zur heutigen Entscheidung des Senats auch ausreichend Gelegenheit.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG und § 166 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).