Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.02.2021, Az.: 13 ME 41/21

Befreiung; Beschwerde; Ein- und Rückreisende; Quarantäne; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
02.02.2021
Aktenzeichen
13 ME 41/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71223
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.01.2021 - AZ: 4 B 20/21

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 4. Kammer - vom 29. Januar 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 4. Kammer -
vom 29. Januar 2021 bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den dort sinngemäß gestellten und ausweislich der Beschwerdebegründung in den Schriftsätzen vom 30. Januar 2021 (dort S. 1) und vom 31. Januar 2021 (dort S. 2) im Beschwerdeverfahren unverändert weiter verfolgten Antrag,

die Antragsgegnerin durch einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, den Antragsteller gemäß § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Niedersächsische Quarantäne-Verordnung) vom 22. Januar 2021 (Nds. GVBl. S. 16) von den Absonderungspflichten nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung zu befreien,

zutreffend abgelehnt, ohne dass die mit der Beschwerde geltend gemachten und vom Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründe eine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung gebieten würden.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der diesen vorläufigen Rechtsschutz Begehrende muss gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft machen, dass ihm der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dass ein Grund für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht (Anordnungsgrund).

Daran fehlt es hier. Der Antragsteller hat weder einen Anordnungsgrund (1.) noch einen Anordnungsanspruch (2.) glaubhaft gemacht.

1. Ein Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 81 (Stand: März 2014)). Dabei ist einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - BVerwG 1 WDS-VR 2.04 -, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.7.1962 - I B 57/62 -, OVGE MüLü 18, 387, 388 f.) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69, 74 - juris Rn. 27; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - BVerwG 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Beschl. v. 29.4.2010 - BVerwG 1 WDS VR 2.10 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 28 - juris Rn. 18 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 14; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 193 ff. jeweils m.w.N.).

Hier erstrebt der Antragsteller eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Denn das Ziel der von ihm begehrten Regelungsanordnung ist mit dem Ziel eines etwaigen Klageverfahrens identisch. Dem steht nicht entgegen, dass die im einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebte Rechtsstellung unter der auflösenden Bedingung des Ergebnisses eines Klageverfahrens stünde. Denn auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt dem Antragsteller die mit dem Klageverfahren erstrebte Rechtsposition und stellt ihn - ohne dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15 - juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 8.10.2003 - 13 ME 342/03 -, NVwZ-RR 2004, 258 f. - juris Rn. 29; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rn. 180 m.w.N.).

Der nach dem eingangs dargestellten Maßstab nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Denn der Antragsteller hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Er weist lediglich abstrakt auf eine Beeinträchtigung seiner Freiheitsrechte hin (Schriftsatz des Antragstellers v. 30.1.2021, dort S. 6). Konkrete schwere und unzumutbare Nachteile der Befolgung der Absonderungspflicht nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung, die für den Antragsteller allenfalls noch bis zum 6. Februar 2021 gilt (Mitteilung der Antragsgegnerin v. 26.1.2021), hat er für den Senat aber nicht nachvollziehbar dargetan.

2. Im Übrigen hat der Antragsteller auch das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht. Eine hohe, mithin weit überwiegende Erfolgswahrscheinlichkeit in einem Hauptsacheverfahren (vgl. zu diesem strengen Maßstab bei einer vorläufigen Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren: BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.3.2008 - 13 S 418/08 -, juris Rn. 7; Senatsbeschl. v. 2.2.2007 - 13 ME 362/06 -, juris Rn. 9; Hessischer VGH, Beschl. v. 29.8.2000 - 5 TG 2641/00 -, NVwZ-RR 2001, 366 - juris Rn. 6; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rn. 191) besteht auch nach seinem Beschwerdevorbringen nicht.

Nach § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung kann die zuständige Behörde Befreiungen von den Absonderungspflichten nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung (a.) auf Antrag (b.) zulassen, soweit dies in begründeten Einzelfällen unter Abwägung aller betroffenen Belange vertretbar ist (c.).

a. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller aufgrund seines Aufenthalts auf der Insel La Palma und der Rückreise von dort in das Bundesgebiet den Absonderungspflichten nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung unterliegt (Beschl. v. 29.1.2021, Umdruck S. 3 ff.). Diese Feststellung, insbesondere die Einstufung der Insel La Palma als Risikogebiet, hat der Antragsteller mit der Beschwerde nicht (Schriftsatz des Antragstellers v. 30.1.2021, dort S. 3 und 6), jedenfalls nicht in einer den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO genügenden Weise (vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f. - juris Rn. 4 mit zahlreichen weiteren Nachweisen), infrage gestellt.

b. Der Antragsteller hat bei der Antragsgegnerin als nach §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 Satz Nr. 1 des Niedersächsischen Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (NGöGD) zuständiger Behörde im Sinne des § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung auch den erforderlichen Antrag gestellt.

c. Auch nach dem Beschwerdevorbringen hält es der Senat aber nicht für überwiegend wahrscheinlich und damit nicht für glaubhaft gemacht (vgl. zu dieser Herabsetzung des Beweismaßes bei der nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO erforderlichen Glaubhaftmachung: BVerfG, Beschl. v. 29.7.2003 - 2 BvR 311/03 -, NVwZ 2004, 95, 96 - juris Rn. 16; BVerwG, Beschl. v. 26.2.2014- BVerwG 6 C 3.13 -, NVwZ 2014, 1229, 1231 - juris Rn. 27; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 94 f. (Stand: März 2014) m.w.N.), dass ein begründeter Einzelfall im Sinne des § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung vorliegt, in dem die Antragsgegnerin nach Abwägung aller betroffenen Belange aufgrund einer Reduzierung des ihr zukommenden Ermessens verpflichtet ist, den Antragsteller von den Absonderungspflichten zu befreien.

(1) Ein begründeter Einzelfall kann zum einen dann anzunehmen sein, wenn aufgrund individueller Umstände abweichend von den Grundannahmen des § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung keine oder eine signifikant geringere Infektionswahrscheinlichkeit gegeben ist (vgl. die Begründung zur Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung v. 22.1.2021, Nds. GVBl. S. 22).

Diese Voraussetzungen hat der Antragsteller mit seinen Hinweisen auf niedrige Infektionszahlen auf der Insel La Palma (Schriftsatz des Antragstellers v. 30.1.2021, dort S. 4, und v. 31.1.2021, dort S. 3 f.) und die erfolgte negative Testung auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 zuletzt am 26. Januar 2021 (Schriftsatz des Antragstellers v. 30.1.2021, dort S. 2, und Testergebnis v. 26.1.2021) nicht glaubhaft gemacht. Denn diese Betrachtung des Antragstellers blendet die erhöhten Infektionsgefahren auf den Reisewegen, die einen durchaus erheblichen Grund für die Anordnung von Quarantänemaßnahmen für ein Ein- und Rückreisende darstellen (vgl. Senatsbeschl. v. 30.11.2020 - 13 MN 520/20 -, juris Rn. 41), völlig aus. Ob sich diese Gefahren in der Person des Antragstellers realisiert haben, ist anhand des vor Antritt der Rückreise am 27. Januar 2021 erfolgten Tests auf das Vorliegen einer Infektion mit SARS-CoV-2 ersichtlich nicht zu beurteilen.

(2) Ein begründeter Einzelfall kann zum anderen aber auch dann gegeben sein, wenn aufgrund individueller Umstände dem Absonderungsverpflichteten die Befolgung der Absonderungspflicht nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist. Eine Befreiung kann insbesondere aus zwingenden beruflichen, schulischen, medizinischen oder persönlichen Gründen geboten sein, wenn zugleich Schutzmaßnahmen ergriffen werden, die einem Schutz durch Absonderung in ihrer Wirkung gleichkommen (vgl. die Begründung zur Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung v. 22.1.2021, Nds. GVBl. S. 22).

Solche individuellen Umstände, die eine Befolgung der Absonderungspflicht nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung als ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar erscheinen lassen, hat der Antragsteller weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren dargetan. Sie sind für den Senat auch nicht offensichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).