Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.02.2021, Az.: 13 LA 24/21

Streit um das Vorliegen der Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung; Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU; Unionsrechtliche Auslegung des Begriffs des "Arbeitnehmers"; Missbrauch des Unionsrechts

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.02.2021
Aktenzeichen
13 LA 24/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 12716
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • AUAS 2021, 70
  • DÖV 2021, 555
  • InfAuslR 2021, 177-180

Amtlicher Leitsatz

Eine Beschäftigung in Höhe von 5,5 Wochenstunden kennzeichnet die Untergrenze, unterhalb derer eine Beschäftigung als völlig untergeordnet und unwesentlich anzusehen ist und damit kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU mehr vermittelt.

Zu den Voraussetzungen einer missbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Die Berufung auf das aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 hergeleitete Aufenthaltsrecht der Kinder eines (Wander)arbeitnehmers setzt voraus, dass der Stammberechtigte selbst Freizügigkeit als (Wander)arbeitnehmer genießt bzw. genossen hat und die Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht rechtsmissbräuchlich erfolgt.

Tenor:

Der Antrag der Klägerinnen auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 19. Kammer - vom 25. November 2020 wird abgelehnt.

Die Klägerinnen tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens zu je einem Drittel.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Der Antrag der Klägerinnen auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 19. Kammer - vom 25. November 2020, mit dem dieses ihre Klage gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU durch Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2019 abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

Der von den Klägerinnen allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung sind zu bejahen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, BVerfGE 125, 104, 140 - juris Rn. 96). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, 543 - juris Rn. 9). Eine den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügende Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert, dass im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, dass und warum Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des erkennenden Verwaltungsgerichts bestehen sollen. Hierzu bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.8.2017 - 13 LA 188/15 -, juris Rn. 8; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/ Stuhlfauth u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 124a Rn. 80 jeweils m.w.N.).

1. Die zweitinstanzlich wiederholte Behauptung der Klägerinnen, sie verfügten über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU wird durch die Darlegungen in der Zulassungsbegründung nicht belegt. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat (S. 10 des Urteilsabdrucks), haben sie sich nicht - wie von § 4a FreizügG vorausgesetzt - fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Insbesondere hat die Klägerin zu 1. nach Beendigung ihres am 5. November 2013 geschlossenen Arbeitsverhältnisses mit der H. GmbH aus A-Stadt bereits am 4. November 2014 nicht die zur Wahrung ihrer Freizügigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU erforderliche Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über ihre unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorgelegt. Wie aus den von den Klägerinnen nicht angezweifelten Feststellungen im Tatbestand des angefochtenen Urteils hervorgeht, bemühte die Klägerin zu 1. sich erst nach Auslaufen der Arbeitslosengeld II-Leistungen im Mai des Jahres 2015 erneut um eine Arbeitsstelle. Es ist dem Zulassungsvorbringen auch nicht zu entnehmen, dass der Aufenthalt der Klägerin zu 1. in der Folgezeit über fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig war, sie also entweder beschäftigt oder unfreiwillig arbeitslos war. Lediglich im Hinblick auf die Vorlage einer undatierten Kündigung der I. GmbH zum 30. Mai 2016 hat die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 1. am 5. Oktober 2017 eine Bescheinigung über eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ausgestellt. Auch musste mit der Klägerin zu 1. noch am 30. Mai 2017 offenbar eine Eingliederungsvereinbarung getroffen werden, um sie zu regelmäßigen Bewerbungsbemühungen zu veranlassen. Dies steht der Behauptung entgegen, die Klägerin zu 1. habe sich nach Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse regelmäßig unverzüglich um eine neue Beschäftigung bemüht. Der im Tatbestand des angefochtenen Urteils geschilderte Verlauf der Arbeitnehmertätigkeit der Klägerin zu 1. ist durch häufige Unterbrechungen, die Beschäftigung bei nicht (mehr) existenten Unternehmen, die Vorlage nicht unterschriebener Quittungen sowie extrem niedrige Stundenzahlen gekennzeichnet. Konkrete abweichende Schilderungen des Beschäftigungsverlaufs, die die Annahme des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts rechtfertigen könnten, enthält die Zulassungsbegründung nicht. Der Umstand, dass die Klägerin zu 1. sich mit der Firma J. möglicherweise auf eine unseriöse Arbeitgeberin eingelassen hat, ändert daran nichts. Es wäre Aufgabe der Klägerin zu 1. gewesen, sich rechtzeitig, jedenfalls nach Ausbleiben der Lohnzahlungen, von dieser Arbeitgeberin zu lösen und einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Auch bei fehlenden Deutschkenntnissen waren und sind Reinigungskräfte weiterhin gefragt. Keinesfalls durfte die Klägerin zu 1. nach Erkennen der Praktiken der Firma J. fingierte Quittungen oder Arbeitsverträge vorlegen. Auch die Angaben der Klägerin zu 1. zu ihrer angeblichen Beschäftigung bei der I. GmbH noch im Dezember 2016 fügt sich in dieses Verhaltensmuster ein und stellt erkennbar kein bloßes "Missverständnis" dar. Insgesamt versucht die Klägerin zu 1. offensichtlich, eine geschlossene Erwerbsbiografie vorzuspiegeln, die den Tatschen nicht entspricht.

2. Auch zur Zeit erfüllt die Klägerin zu 1. die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU nicht.

Wie der Senat bereits entschieden hat, ist der Begriff des "Arbeitnehmers" im Sinne dieser Vorschrift unionsrechtlich auszulegen (vgl. Senatsbeschl. v. 21.6.2017 - 13 LA 27/17 -, juris Rn. 13). Er ist weit zu verstehen und nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urt. v. 19.6.2014 - C 507/12 -, Saint Prix, juris Rn. 33 ff.; Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 23 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit nur von kurzer Dauer ist, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 30 und 32 (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Aufenthaltsdauer von zweieinhalb Jahren und einer Beschäftigungszeit von zweieinhalb Monaten)). Als Arbeitnehmer kann jedoch nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010 - C-14/09 -, Genc, Rn. 9 und 23 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 EUR); Urt. v. 3.6.1986 - 139/85 -, Kempf, Rn. 11 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 12 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 984 HFL bzw. 447 EUR). Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen. Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, sind für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft hingegen ohne Bedeutung, da sie in keiner Beziehung zu den objektiven Kriterien stehen, die das konkrete Arbeitsverhältnis charakterisieren (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 29 und 32).

Nach der danach gebotenen Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeit und das fragliche Arbeitsverhältnis betreffen, kann die Klägerin zu 1. nicht als Arbeitnehmerin angesehen werden. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist sie seit dem 2. September 2020 auf der Basis eines bis zum 31. August 2021 laufenden Arbeitsvertrages mit einer Regelarbeitszeit von 4,5 Wochenstunden zum untersten Tariflohn in Höhe von 10,80 EUR beschäftigt. In der Zulassungsbegründung ist nicht vorgetragen worden, dass sie ihre Wochenstundenzahl aufgestockt hätte oder ein weiteres Arbeitsverhältnis eingegangen wäre. Entgegen der ausführlich begründeten Auffassung des Verwaltungsgerichts (S. 11 ff. des Urteilsabdrucks) hält der Senat ein derartiges Arbeitsverhältnis nicht für ausreichend, um den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff zu erfüllen. Die vom EuGH noch akzeptierte Beschäftigung in Höhe von 5,5 Wochenstunden dürfte die Untergrenze kennzeichnen, unterhalb derer eine Beschäftigung als völlig untergeordnet und unwesentlich anzusehen ist. Dies wird auch durch die längere Laufzeit des Arbeitsvertrages von immerhin einem Jahr nicht kompensiert. Es ist auch nicht vorgetragen, dass sich die zeitweilige Mehrarbeit der Klägerin zu 1. in den ersten beiden Monaten des Arbeitsverhältnisses verstetigt hätte. Die im vorliegenden Fall vereinbarte Tätigkeit beträgt, umgerechnet auf die Werktage einer Woche, nicht einmal eine Stunde am Werktag und sichert der Klägerin zu 1. ein Monatseinkommen in Höhe von 194,40 EUR bis 243,00 EUR. Auch wenn es nicht darauf ankommt, dass die Klägerin zu 1. nicht in der Lage ist, mit dem erzielten Erwerbseinkommen den Lebensunterhalt vollständig oder auch nur weit überwiegend zu sichern (vgl. Senatsbeschl. v. 21.6.2017, a.a.O., Rn. 16), so steht nach Erwägungsgrund 16 (vgl. auch die Erwägungsgründe 10 und 21) der Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG) doch die unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen dem (Fort-) Bestand eines Freizügigkeitsrechts entgegen. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen, da die Klägerin zu 1. seit Ankunft im Bundesgebiet über viele Jahre nicht in der Lage war, den Lebensunterhalt ihrer Familie auch nur ansatzweise zu decken, und eine Besserung dieser Situation im Hinblick auf das aktuelle Arbeitsverhältnis nicht in Sicht ist. Letztlich entspricht der durch das Eingehen völlig untergeordneter und unwesentlicher Arbeitsverhältnisse hervorgerufene dauerhafte Bezug erheblicher, nicht mehr angemessener Sozialleistungen dem Grundgedanken der Arbeitnehmerfreizügigkeit als unionsrechtlich gewährleisteter Grundfreiheit.

Auch die Berufung der Klägerin zu 1. auf das Erfordernis der Betreuung ihrer Kinder führt im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis. Das Verwaltungsgericht hat auf S. 15 seines Urteils die zeitlichen Spielräume von täglich bis zu 6 Stunden aufgezeigt, die der Klägerin zu 1. für die Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit zur Verfügung standen. Die Angabe, sie habe ihre kleine Tochter oft zwischen 9 und 13 Uhr vom "Kids Club" abholen müssen, weil sie dort nicht habe bleiben wollen, rechtfertigt als vorübergehendes Problem die heutige Beschränkung auf weniger als eine Stunde Arbeitszeit pro Werktag nicht. Wie bereits angeführt, stehen auch die im Übrigen weitgehend selbstverschuldeten mangelhaften Deutschkenntnisse einer Tätigkeit als Reinigungskraft nicht entgegen. Da diese Sprachkenntnisse offenkundig für eine Tätigkeit von 4,5 Wochenstunden ausreichen, ist nicht nachvollziehbar, wieso sie einer weitergehenden Beschäftigung entgegenstehen sollten. Auch bestand und besteht, unabhängig von der Corona-Pandemie, ein erheblicher Bedarf an Reinigungskräften. Sofern die Klägerin zu 1. keine Aufstockung der Wochenstundenzahl in ihrem aktuellen Arbeitsverhältnis erreichen konnte, wäre sie gehalten gewesen, den Arbeitgeber zu wechseln oder ein weiteres Arbeitsverhältnis einzugehen.

3. Selbst wenn man der Ablehnung der Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin zu 1. nicht folgen wollte, so wäre die Berufung auf das Recht der Arbeitnehmerfreizügigkeit im vorliegenden Fall jedenfalls rechtsmissbräuchlich. Das Unionsrecht findet bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung. Der Nachweis eines Missbrauchs setzt dabei zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. EuGH, Urt. v. 12.3.2014 - C-456/12 -, juris Rn. 58 m. w. N.). Bei dem Ausschluss der Anwendbarkeit europäischen Rechts im Falle rechtsmissbräuchlicher Praktiken handelt es sich um ein allgemeines Prinzip, das auch im Bereich der Freizügigkeitsberechtigung Anwendung findet (vgl. Hessischer VGH, Beschl. v. 5.3.2019 - 9 B 56/19 -, juris Rn. 7; Bayerischer VGH, Beschl. v. 27.11.2018 - 10 CS 18.2180, 10 C 18.2181 -, juris Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 28.3.2017 - 18 B 274/17 -, juris Rn. 2 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.9.2016 - 7 B 10406/16, 7 D 10407/16 -, juris Rn. 36).

Rechtsmissbräuchliche Praktiken im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setzen nicht voraus, dass die Klägerin zu 1. aktiv über das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft täuscht oder falsche Angaben macht. In derartigen Fällen sieht § 2 Abs. 7 FreizügG/EU einen eigenen Nichtbestehensfeststellungstatbestand vor. Es reicht aus, dass der Betreffende zwar formal die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit erfüllt, aber von vornherein nicht die Absicht hat, für die Dauer des Aufenthalts eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ausreichende Existenzmittel sichert. Denn die Gewährleistung des Freizügigkeitsrechts steht nach Unionsrecht unter dem Vorbehalt, dass Sozialhilfeleistungen nicht unangemessen in Anspruch genommen werden (Erwägungsgrund 16 der Freizügigkeitsrichtlinie). Um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt, sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände sowie der gewährte Sozialhilfebezug zu berücksichtigen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 9.7.2019 - 10 CS 19.1165 -, juris Rn. 19).

Diese Voraussetzungen, die nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall bereits der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin zu 1. entgegenstehen, liegen hier vor. Insoweit kann ergänzend auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf den Seiten 13 ff. des angefochtenen Urteils verwiesen werden. Die dagegen von den Klägerinnen in der Zulassungsbegründung vorgebrachten Argumente greifen nicht durch. Der Senat geht nach der vom Verwaltungsgericht anschaulich geschilderten Erwerbsbiografie der Klägerin zu 1. davon aus, dass diese von Beginn an nicht die Absicht hatte, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ihr und ihrer Familie ausreichende Existenzmittel sicherte. Dabei wollte und will sie die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit allenfalls formal erfüllen. Entscheidend dabei ist weniger die häufige Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, sondern die ständige Aufnahme von Tätigkeiten mit geringstmöglichen Wochenarbeitszeiten. Erkennbares Ziel der Klägerin zu 1. war und ist es, mit möglichst geringem Arbeitseinsatz möglichst umfassende staatliche Hilfsleistungen zu generieren.

Soweit sich die Klägerinnen gegen die Annahme wenden, die Klägerin zu 1. sei aus familiären Gründen und nicht zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland gekommen, ist zu berücksichtigen, dass das Verwaltungsgericht dies lediglich als untergeordneten Anhaltspunkt für die Annahme eines Missbrauchs bezeichnet hat (S. 13 des Urteilsabdrucks). Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die unionsrechtlichen Grundfreiheiten den Aufenthalt an bestimmte Zwecke binden. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht dabei nicht zum Zweck des Zusammenlebens mit einem Familienangehörigen oder Lebensgefährten, sondern zum Zweck der Arbeitsaufnahme. Wird dieser Zweck allenfalls formal erfüllt, so liegt ein Missbrauch zu einem offenkundig verfolgten anderen Zweck nahe. Der zugleich gegebene familiäre Zweck wäre hingegen unschädlich, wenn die Klägerin zu 1. den freizügigkeitsbegründenden Zweck der Arbeitsaufnahme ernsthaft verfolgte. Das ist indes nach dem Vorstehenden nicht der Fall.

4. Eine Freizügigkeitsberechtigung ergibt sich auch nicht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011. Zum Charakter dieser Vorschrift hat das Bundesverwaltungsgericht die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH referiert und ausgeführt (Urt. v. 11.9.2019 - BVerwG 1 C 48.18 -, juris Rn. 19):

"Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet zuvörderst ein Recht auf Gleichbehandlung (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-42/87 [ECLI:EU:C:1988:454], Kommission/Königreich Belgien - Rn. 10). Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein eigenständiges (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2013 - C-45/12 [ECLI:EU:C:2013:390], Hadj Ahmed - Rn. 46), originäres (Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV Rn. 143) und autonomes (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-310/08 [ECLI:EU:C:2010:80], Ibrahim - Rn. 41 f.) Recht der Kinder des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 [ECLI:EU:C:2010:83], Teixeira - Rn. 61). Dieser Elternteil kann auch der vormalige Wanderarbeitnehmer selbst sein. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt und besteht auch nach dem Ende der Erwerbstätigkeit des Wanderarbeitnehmers fort (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-413/99 [E-CLI:EU:C:2002:493], Baumbast und R - Rn. 73 ff.). Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 - Rn. 86 f.). Adressat des den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und deren die tatsächliche Sorge ausübenden Elternteile aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 erwachsenen Aufenthaltsrechts ist allein der Aufnahmestaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, nicht hingegen auch jeder andere Mitgliedstaat der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-263/86 [ECLI:EU:C:1988:451], Humbel und Edel - Rn. 24 f.)"

Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermittelt den Kindern eines (vormaligen) Wanderarbeitnehmers und deren die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteilen nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern auch auf Freizügigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.9.2019, a.a.O., Rn. 26).

Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalt der Union knüpft dabei allerdings eindeutig an die Freizügigkeitsberechtigung des Stammberechtigten und damit an dessen Arbeitnehmereigenschaft an. Nur den Kindern eines selbst (ehemals) Freizügigkeitsberechtigten soll die Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung ermöglicht werden. Die Klägerin zu 1. als Mutter der Klägerinnen zu 2. und zu 3. war und ist jedoch aufgrund der Aufnahme lediglich völlig untergeordneter und unwesentlicher Beschäftigungen nicht in der Lage, ihren Kindern einen Anspruch auf Aufenthalt zwecks Schulbesuchs (zu den Anforderungen an den Schulbesuch vgl. Senatsbeschl. v. 22.2.2021 - 13 ME 572/20 -, juris Rn. 6 ff.) zu vermitteln, da sie selbst nicht freizügigkeitsberechtigt war und ist. Damit scheidet ein Bleiberecht der Klägerin zu 1. zur Betreuung ihrer Kinder ebenfalls aus. Gleiches hätte auch bei Annahme einer missbräuchlichen Berufung der Klägerin zu 1. auf ihre Freizügigkeitsberechtigung zu gelten. Einer Vorlage an den EuGH bedarf es angesichts der Eindeutigkeit der Regelung sowie der Rechtsprechung des EuGH sowohl zur Arbeitnehmereigenschaft als auch zu den Voraussetzungen eines Missbrauchs des Unionsrechts nicht.

5. Soweit die Klägerinnen die fehlende Berücksichtigung der für eine Sozialisierung der Klägerinnen zu 2. und zu 3. in Deutschland und damit für ein auf Art. 8 EMRK gestütztes Bleiberecht sprechenden Gesichtspunkte in der nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung rügen, kann dem nicht gefolgt werden. Bereits auf S. 5 des angefochtenen Bescheids vom 5. Februar 2019 (GA, Bl. 10) wird in diesem Zusammenhang festgehalten, dass die Kinder erst 8 bzw. 6 Jahre alt seien und eine Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht nachgewiesen worden sei. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Hannover vom 25. November 2020 hat die Beklagte diese Erwägungen sodann ergänzt und u.a. darauf hingewiesen, dass die Kinder das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern teilten und der serbische Vater der Kinder vollziehbar ausreisepflichtig sei (Seite 10 der Verhandlungsniederschrift, GA, Bl. 229 R). Dies ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 99) nicht zu beanstanden.

Die Klägerinnen zu 2. und zu 3., die minderjährigen Kinder der Klägerin zu 1., teilen aufenthaltsrechtlich grundsätzlich das Schicksal ihrer Eltern (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung, vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, BT-Drs. 16/5065, S. 202: "Grundsatz, dass das minderjährige Kind das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilt"; BVerwG, Urt. v. 26.10.2010,- BVerwG 1 C 19.09 -, juris, Rn. 15; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 9.11.2010 - 8 PA 265/10 -, juris Rn. 6; v. 12.7.2010 - 8 LA 154/10 -, juris Rn. 16; v. 18.5.2010 - 8 PA 86/10 -, juris Rn. 10; Urt. v. 29.1.2009 - 11 LB 136/07 -, juris Rn. 75; Bayerischer VGH, Beschl. v. 13.7.2010 - 19 ZB 10.1129 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 22.7.2009 - 11 S 1622/07 -, juris Rn. 81 jeweils m.w.N.). Steht den Eltern ein Aufenthaltsrecht nicht zu, so ist davon auszugehen, dass ein Minderjähriger, selbst wenn er im Bundesgebiet geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt hat, grundsätzlich auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann. Diese Rechtsprechung ist mit den Vorgaben des Art. 24 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Europäische Grundrechtecharta - GR-Charta - (ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 1) und der Art. 2 und 3 Abs. 1 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 - UN-Kinderrechtskonvention - (BGBl. II 1992, S. 121) vereinbar (vgl. mit eingehender Begründung: Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 9.11.2010, a.a.O., Rn. 7 f.; v. 18.1.2011 - 8 PA 317/10 -, juris Rn. 17; v. 12.7.2010, a.a.O., Rn. 14 ff.).

Da weder die Mutter, die Kägerin zu 1. noch der Vater der Klägerinnen zu 2. und zu 3. über ein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verfügen und ein solches auch nicht beanspruchen können, steht auch ihren Kindern ein Aufenthaltsrecht nicht zu. Anlass, von diesem Grundsatz der familienbezogenen Gesamtbetrachtung hier ausnahmsweise abzuweichen, besteht für den Senat nicht.

Die Klägerinnen zu 2. und zu 3. sind fraglos in die hiesigen Lebensverhältnisse eingebunden. Sie reisten zusammen mit ihrer Mutter als kleine Kinder ein, leben seitdem hier, haben hier einen Teil ihrer Sozialisation erfahren, besuchen hier die Schule, und es ist davon auszugehen, dass sie hier ihre Freunde und ihr soziales Umfeld haben. Besondere Integrationsleistungen, die es ihnen entgegen dem dargestellten Grundsatz unzumutbar oder unmöglich machen würden, gemeinsam mit ihrer Mutter nach Ungarn auszureisen und dort ein Privatleben zu führen, sind indes nicht erkennbar. Zudem sind die Klägerinnen zu 2. und zu 3. mit Ungarisch als Muttersprache aufgewachsen. Ein Einleben in die ungarischen Lebensverhältnisse wird auf dieser Grundlage ohne weiteres möglich sein. Von einer Unverhältnismäßigkeit der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt kann vor diesem Hintergrund nicht ausgegangen werden.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO.