Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.03.2011, Az.: 8 LB 153/09

Ermessensentscheidung als verhältnismäßiger und damit gerechtfertigter Eingriff in das durch Art. 6 GG geschützte Recht eines Klägers auf Achtung seines Ehelebens und Familienlebens; Ausweisung eines Ausländers bei rechtskräftiger Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zu einer Freiheitsstrafe; Ausweisung eines Ausländers mit bestehenden besonderen Ausweisungsschutzgründen bei schwerwiegender Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.03.2011
Aktenzeichen
8 LB 153/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 12376
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0310.8LB153.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 20.04.2009 - AZ: 5 A 199/08

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die positive persönliche Entwicklung eines zu Freiheitsstrafe verurteilten Ausländers sowie die nach Art. 6 GG schutzwürdigen Belange der deutschen Ehefrau und der minderjährigen Kinder des Ausländers begründen eine Ausnahme von der Regel-Ausweisung nach § 53 AufenthG und gestatten nur noch eine Ausweisung im Ermessenswege gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG.

  2. 2.

    Bei der allein spezialpräventiven Ausweisung eines besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG genießenden Ausländers ist erforderlich, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht.

Tatbestand

1

Aus dem Entscheidungstext

2

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.

3

Der 1974 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben ethnischer Albaner und stammt aus dem Kosovo, wo seine Eltern und Geschwister leben. Er reiste am 16. Februar 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein.

4

Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 1. März 1996 ab. Im Rahmen des Klageverfahrens gegen die Ablehnung seines Asylfolgeantrags im Bescheid vom 24. Juni 1997 verpflichtete das Verwaltungsgericht Lüneburg das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch Urteil vom 24. März 1999 festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz vorliegen. Dem kam das Bundesamt mit Bescheid vom 26. Mai 1999 nach. In der Folge widerrief das Bundesamt die Feststellungen nach § 51 Abs. 1 Ausländergesetz mit Bescheid vom 24. März 2004. Die hiergegen erhobene Klage wurde durch Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 17. Januar 2006 rechtskräftig abgewiesen.

5

Aufgrund der Feststellungen im Bescheid des Bundesamtes vom 26. Mai 1999 erhielt der Kläger am 7. Juli 1999 zunächst eine Aufenthaltsbefugnis, die zuletzt als Aufenthaltserlaubnis bis zum 4. April 2005 verlängert worden ist. Über den Antrag des Klägers vom 11. März 2005 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis hat die Beklagte bisher nicht entschieden.

6

Der Kläger ist seit 2003 mit der deutschen Staatsangehörigen Frau F. G. verheiratet. Mit ihr hat er drei Kinder, den am 27. November 2001 geborenen Sohn H., die am 19. Juli 2004 geborene Tochter I. und den am 18. Dezember 2008 geborenen Sohn J.. Alle drei Kinder sind deutsche Staatsangehörige.

7

Laut einem Auszug vom 22. Dezember 2005 enthält das Bundeszentralregister folgende Eintragungen über den Kläger:

  • Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 21. Januar 1998 - 49 Cs 2 Js 42109/97 (31 VRS) - wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen

  • Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 22. März 1999 - 49 Cs 24 Js 7178/99 (VRS) - wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen

  • Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 - 3 Ls 52/02 609 Js 22691/02 VRS - wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde; die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wurde jedoch später widerrufen

  • Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. September 2005 - 226 Ls 720 Js 9963/05 (68/05) - wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten

8

Ab dem 31. Oktober 2005 verbüßte der Kläger die gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt Lingen. Diese gab unter anderem am 8. März 2007, 2. Juli 2007 und 25. Oktober 2007 Stellungnahmen ab, wonach sich der Kläger vorbildlich geführt habe, weshalb Vollzugslockerungen eingeleitet worden seien. Dem Kläger seien zunächst Ausgänge zu seiner in Osnabrück lebenden Familie und später auch Hafturlaube gewährt worden. Darüber hinaus arbeite der Kläger mit sehr guten Leistungen bei der Firma K. in L.. Bei weiterer guter Führung werde eine vorzeitige Haftentlassung zur Bewährung befürwortet.

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Mit Bescheid vom 4. September 2007 wies die Beklagte den Kläger für drei Jahre und sechs Monate aus dem Bundesgebiet aus, ordnete die sofortige Vollziehung an und drohte ihm die Abschiebung nach Serbien an. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde durch Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 26. November 2007 abgewiesen. Hiergegen beantragte der Kläger am 28. Dezember 2007 die Zulassung der Berufung. Während des Berufungszulassungsverfahrens hob die Beklagte am 14. April 2008 ihren Bescheid unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf, wies aber darauf hin, dass der Kläger erneut ausgewiesen werden solle. Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt hatten, erklärte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 22. April 2008 - 10 LA 15/08 - das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 26. November 2007 für unwirksam.

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Nach Anhörung mit Schreiben vom 15. April 2008 wies die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 4. Juli 2008, zugestellt am 7. Juli 2008, für die Dauer von drei Jahren aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an, kündigte die Abschiebung nach Serbien an und forderte ihn für den Fall, dass die Abschiebung bis zum Haftende nicht möglich sein sollte, auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Haftentlassung zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung nach Serbien angedroht. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Ausweisung des Klägers sei aus generalpräventiven und auch aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Es liege eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung durch den Kläger vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Er habe durch sein Verhalten Anlass zur Ausweisung gegeben und sei als Wiederholungstäter anzusehen. Obwohl der Kläger einschlägig verurteilt worden sei und noch unter laufender Bewährung gestanden habe, habe er erneut Betäubungsmittelstraftaten geplant und begangen. Dabei handele es sich um schwerwiegende Straftaten. Kokain, womit der Kläger gehandelt habe, gehöre zu den harten Drogen. Er habe die schwerwiegenden Folgen von Betäubungsmittelstraftaten billigend in Kauf genommen, um daraus einen persönlichen finanziellen Vorteil zu erzielen. Es bestünde die ernsthafte Besorgnis, dass bei einem Verbleiben im Bundesgebiet in ähnlichen Situationen erneut schwere Straftaten begangen würden. Hinzu komme, dass der Kläger bereits eine Familie gehabt und auch dies ihn nicht davon abgehalten habe, weitere Straftaten zu begehen.

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Am 29. Juli 2008 hat der Kläger gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Zur Begründung hat er auf ein vom Amtsgericht Lingen (Ems) - Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück - eingeholtes psychiatrisches Prognosegutachten des Herrn Dr. med. M. vom 13. September 2008 - Prognosegutachten - verwiesen, das positiv ausgefallen sei. Er sei deshalb durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 9. Oktober 2008 nach Verbüßung von 2/3 der noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. September 2005 und nach Verbüßung von 1/2 der noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 aus der Haft entlassen worden. Die Reststrafe sei zur Bewährung ausgesetzt worden. Auch sein Bewährungshelfer habe mitgeteilt, dass der Kläger intensiv auf Arbeitssuche sei und regelmäßig die mit ihm abgesprochenen Termine wahrgenommen habe. Er habe im Übrigen eine Arbeitsstelle in Aussicht. Zudem sei bei ihm ein Schilddrüsenkarzinom festgestellt worden. Dieses sei zwar operativ entfernt worden. Er müsse sich aber weiterhin einer Radio-Jod-Therapie unterziehen.

12

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2008 aufzuheben.

13

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Sie hat ihren Bescheid verteidigt und sich durch Schriftsatz vom 10. März 2009 bereit erklärt, den Kläger für die Dauer der Durchführung der Radio-Jod-Therapie im Bundesgebiet zu dulden. Die Erkrankung stehe der Ausweisung des Klägers aber nicht entgegen, da nach wie vor das Interesse an einer Fernhaltung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Schwere der von ihm begangenen Straftaten überwiege. Das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau und den Kindern sei zudem fraglich, da letztere seit Mai 2006 einen Nebenwohnsitz in N. hätten und damit mehr als 500 km entfernt vom Kläger lebten. Der Sohn J. sei auch in N. geboren und der Sohn H. sei dort eingeschult worden.

15

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 20. April 2009 abgewiesen. Der Kläger erfülle im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aufgrund der strafrechtlichen Verurteilungen die Ist-Ausweisungstatbestände des§ 53 Nr. 1 und 2 Aufenthaltsgesetz. Er genieße zwar gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 4 Aufenthaltsgesetz erhöhten Ausweisungsschutz und dürfe daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche Gründe lägen hier aber vor. Dabei könne offen bleiben, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländers auf den Kläger, der als Erwachsener in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und dessen erhöhter Ausweisungsschutz allein aus seiner Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen und den familiären Bindungen zu seinen deutschen Kindern resultiere, überhaupt auf den vorliegenden Fall anzuwenden sei. Denn der angefochtene Bescheid genüge diesen Anforderungen; die Beklagte habe den Kläger im Ermessenswege ermessensfehlerfrei ausgewiesen. Unerheblich sei die Begründung mit unzulässigen generalpräventiven Erwägungen. Denn die Beklagte habe selbständig tragend auch auf spezialpräventive Erwägungen abgestellt. Dabei seien die familiären Bindungen des Klägers, insbesondere die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen und das Familienleben mit drei minderjährigen Kindern deutscher Staatsangehörigkeit, ebenso hinreichend berücksichtigt worden wie die dem Kläger von der Justizvollzugsanstalt Lingen ausgestellten und durch das Prognosegutachten bestätigten günstigen Sozialprognosen. Dies würde durch die strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers, der insgesamt zu Haftstrafen von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden sei, aber überwogen. Das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln - insbesondere mit harten Drogen, wie Kokain - begründe ein erhebliches Gefährdungspotential für die Allgemeinheit. Dabei habe der Kläger nicht nur einmal, sondern in insgesamt elf Fällen über einen längeren Zeitraum mit Kokain gehandelt und dieses zusammen mit einem Mittäter in das Bundesgebiet eingeführt. Die Beklagte habe auch zutreffend eingestellt, dass weder die einschlägigen Verurteilungen noch die Geburt seiner Kinder eine Zäsur für den Kläger gewesen sei, die ihn hätte veranlassen können, von weiterem strafrechtlichem Tun abzulassen. Auch der Umstand, dass der Kläger nunmehr an Schilddrüsenkrebs erkrankt sei, rechtfertige nicht, ihm eine günstigere Prognose zu erstellen. Vielmehr müsse aufgrund dieser Erkrankung davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch weiterhin nicht berufstätig sein könne und deshalb nicht in der Lage sei, den Lebensunterhalt seiner Familie sicherzustellen. Aus dem Prognosegutachten ergebe sich aber, dass der Kläger selbst eingeräumt habe, die Straftaten zu begehen, um seiner Familie einen angemessenen Lebensstandard bieten zu können, so dass hier eine Rückfallwahrscheinlichkeit bestehe. Die Beklagte habe zudem der Erkrankung des Klägers dadurch Rechnung getragen, dass sie sich bereit erklärt habe, dem Kläger für die Dauer der erforderlichen Behandlung eine Duldung zu erteilen.

16

Gegen dieses Urteil hat der Senat auf den Antrag des Klägers mit Beschluss vom 17. August 2009 - 8 LA 104/09 - die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zugelassen.

17

Der Kläger vertieft mit der Berufung sein bisheriges Vorbringen. Die Beklagte habe zwar formal ein Ermessen betätigt, tatsächlich aber keine Ermessensentscheidung getroffen. Jedenfalls leide die Entscheidung an schwerwiegenden Ermessensfehlern. So habe die Beklagte verkannt, dass sie nach der Herabstufung der Ist- zur Regel-Ausweisung und der hier nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zu treffenden Ermessensentscheidung eine eigenständige Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange vorzunehmen habe. Stattdessen stelle die Beklagte allein auf pauschale spezialpräventive - und unzulässigerweise auch generalpräventive - Erwägungen hinsichtlich der Gefährlichkeit von Tätern aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelikte ab, nehme aber weder eine aktuelle Gefahrenprognose noch eine Gewichtung mit den privaten Interessen des Klägers, seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Kinder vor. Unter Berücksichtigung dieser Belange und zutreffender Gewichtung sei die Ausweisung ermessensfehlerhaft. Die vom Kläger verbüßte Strafhaft stelle eine deutliche Zäsur in seinem Leben dar. Ausweislich der Annahmen der JVA, der Strafvollstreckungskammer und des Bewährungshelfers werde dem Kläger eine sehr positive Sozialprognose gestellt, die durch das nachfolgende Verhalten des Klägers bestätigt werde. Die Unterstellung des Klägers unter die Bewährungsaufsicht habe die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 30. September 2010 aufgehoben. Hinzu komme die enge familiäre Verbundenheit mit seiner Ehefrau und seinen Kindern. Diese hätten zwar zeitweise, insbesondere während der Strafhaft des Klägers, bei den Eltern der Ehefrau in N. gelebt. Dies aber allein deshalb, weil die Ehefrau des Klägers bei der Betreuung und Erziehung der Kinder auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen gewesen sei. In der Folge hätten der Kläger und seine Ehefrau beschlossen, wieder gemeinsam in O. zu leben, und diesen Beschluss auch umgesetzt. Demgemäß besuche der Sohn H. seit Januar 2010 eine Grundschule in O.. Schließlich sei die schwere Krebserkankung des Klägers zu berücksichtigen, aufgrund derer er dringend auf familiäre Hilfe angewiesen sei und die ebenfalls eine Zäsur in seinem Leben darstelle.

18

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 20. April 2009 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2008 aufzuheben.

19

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

20

Sie hat ihre die Ausweisungsverfügung 4. Juli 2008 tragenden Ermessenserwägungen mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2009 zusammengefasst und wie folgt aktualisiert: Der Kläger werde allein aus spezialpräventiven Gründen im Ermessenswege ausgewiesen. Es bestehe ein öffentliches Interesse daran, dass der Kläger das Bundesgebiet zumindest zeitweise verlasse, und dieses öffentliche Interesse werde auch von schützenswerten privaten Belangen des Klägers und seiner Familie nicht überwogen Das öffentliche Interesse ergebe sich daraus, dass der Kläger mehrfach wegen Betäubungsmitteldelikten ganz erheblich bestraft und er im Prognosegutachten als "bewusst krimineller Täter" klassifiziert worden sei. Es bestehe ein hohes öffentliches Interesse an der Bekämpfung von Betäubungsmitteldelikten, gerade wenn es, wie hier, um den Handel mit dem gefährlichen Kokain gehe. An dieser sich auch aus § 53 Aufenthaltsgesetz ergebenden grundsätzlichen Bewertung ändere auch die Herabstufung zu einer Ermessensausweisung im vorliegenden Fall nichts. Aufgrund des Werdeganges und der Einstellung des Klägers gehe von diesem nach wie vor eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit aus. So habe er seine früheren Taten ohne Rücksicht auf die Gesundheit seiner Mitmenschen allein aus Gewinnstreben verübt. Diese Motivationslage bestehe angesichts der derzeitigen Einkommenssituation des Klägers fort und begründe wegen der nachgewiesenen materiellen Fixierung des Klägers ein erhebliches Rückfallrisiko. Der Kläger habe sich auch früher durch tatsächliche Veränderungen in seinem Leben wie die Geburt eines Kindes, die Heirat oder die strafgerichtliche Verurteilung mit Aussetzung der Strafe zur Bewährung in seinem Tun nicht beeinflussen lassen. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass auch die Haftstrafe und die schwere Krebserkankung den Kläger nicht dauerhaft von der Begehung von Straftaten abhielten. Der gelegentliche Handel mit Drogen sei mit der Erkrankung des Klägers auch eher vereinbar als die Ausübung einer durch Regelmäßigkeit geprägten Beschäftigung. Dem gegenüber stünden keine überwiegenden schutzwürdigen privaten Belange des Klägers. Solche ergäben sich zum einen nicht aus dem durch Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention vermittelten Schutz des Privatlebens. Denn der Kläger sei im Bundesgebiet nicht faktisch verwurzelt. Dem Kläger sei es auch zumutbar, für die Dauer der Ausweisung im Kosovo zu leben, da er auf die Unterstützung seiner dort lebenden Eltern und Geschwister zurückgreifen könne. Überwiegende schutzwürdige Belange ergäben sich zum anderen auch nicht aus dem nach Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention und Art. 6 Grundgesetz geschützten Familienleben. Es fehle bereits an einer tatsächlich gelebten familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger, seiner Ehefrau und den gemeinsamen minderjährigen Kindern. Letztere hätten bereits im Mai 2006 ihren Wohnsitz nach N. verlegt, wo der Sohn H. zur Schule gehe und der Sohn J. geboren worden sei. Ein regelmäßiger Kontakt zu dem seinerzeit inhaftierten Kläger habe nicht bestehen können. Die Einlassungen der Ehefrau des Klägers im verwaltungsgerichtlichen Verfahren seien allein geprägt von Wünschen und Willenbekundungen, belegten aber, dass die Eheleute eine familiäre Lebensgemeinschaft nicht wirklich anstreben. Auch nach der Haftentlassung habe der Kläger weiter in Osnabrück gelebt und weder die Aufhebung seiner Wohnsitzauflage noch regelmäßig Reiseerlaubnisse beantragt. Angesichts der beschränkten finanziellen Mittel der Eheleute sei ein regelmäßiger Besuchskontakt auch nicht möglich gewesen. Eine Nachfrage bei Nachbarn des Klägers habe ergeben, dass dieser mit seiner Ehefrau und den Kindern nicht zusammenlebe, vielmehr der Eindruck bestehe, dass der Kläger eine neue Freundin habe. Er feiere häufig lautstarke Parties und pflege einen Lebensstil, der nahelege, dass er über andere Einkünfte verfüge als öffentliche Sozialleistungen. Die daher offenbar allenfalls per Post, Telefon oder Internet geführten Kontakte zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau sowie seinen Kindern könnten auch bei seiner Ausreise in den Kosovo aufrechterhalten werden. Schließlich sei der Erkrankung des Klägers durch die avisierte Duldung für die Dauer der erforderlichen, im Kosovo nicht möglichen Behandlung hinreichend Rechnung getragen. Die damit von vorneherein nur in geringem Umfang schutzwürdigen Belange des Familienlebens könnten das öffentliche Interesse nicht überwiegen. Denn die familiäre Lebensgemeinschaft bestehe allenfalls in einem losen Kontakt, der durch die Ausreise des Klägers nicht beeinträchtigt würde. Demgegenüber sei die Ausreise des Klägers für einen Zeitraum von drei Jahren erforderlich, um ihn von den Kontakten im Drogenhandel fernzuhalten und dem Kläger Zeit zu geben, sich von seinem durch materielle Bedürfnisse geprägten Lebensstil abzuwenden. Erst danach könne erwartet werden, dass der Kläger sich straffrei in die hiesigen Verhältnisse einfinden werde. Aus seinem seit der Haftentlassung straffreien Verhalten ergebe sich nichts anderes. Denn dieses Verhalten sei maßgeblich durch die Erkrankung und Behandlung geprägt und die kriminelle Energie des Klägers allein deshalb bisher nicht zum Durchbruch gelangt.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakten A bis E) und die beigezogenen Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Osnabrück (Beiakte F) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts ist begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2008 in der Gestalt der durch die Beklagte mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2009 im Berufungsverfahren ergänzten Ermessenserwägungen ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist deshalb aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).

23

Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung einer Ausweisungsverfügung ist dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20, 22). Dieser ursprünglich für die Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen entwickelte Grundsatz (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297, 308 f.; BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315, 321) gilt nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) auch für alle Drittstaatsangehörigen, weil bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Ausweisung und der Gegenwärtigkeit der von ihnen ausgehenden Gefahr auf eine möglichst aktuelle Tatsachengrundlage abzustellen ist (vgl. BVerwG, a.a.O., S. 23 ff.).

24

Nach der danach maßgebenden Sach- und Rechtslage hat die Beklagte zwar zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen des§ 53 Nrn. 1 und 2 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) - AufenthG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2437), vorliegen (1.), der Kläger besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG genießt (2.) und es einer Ermessensentscheidung bedarf (3.). Die getroffene Ermessensentscheidung greift aber unverhältnismäßig in das Recht des Klägers auf Achtung seines Familienlebens nach Art. 6 GG ein (4.).

25

1.

Nach § 53 AufenthG wird ein Ausländer unter anderem zwingend ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (Nr. 1), oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist (Nr. 2).

26

Diese beiden Ausweisungstatbestände sind aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen des Klägers durch die Urteile des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 - 3 Ls 52/02 609 Js 22691/02 VRS - wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt, diese Aussetzung aber später widerrufen wurde, und vom 27. September 2005 - 226 Ls 720 Js 9963/05 (68/05) - wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten erfüllt.

27

Ein Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) - BZRG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1984 (BGBl. I S. 1229), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1864), kommt nicht in Betracht. Danach dürfen Eintragungen von Verurteilungen, die getilgt worden oder tilgungsreif sind, dem Betroffenen im Rechtsverkehr, wozu auch das Ausländer- bzw. Aufenthaltsrecht gehört (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.4.1984 - 1 C 57.81 -, NVwZ 1984, 653; Nr. 5.1.2.3.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26. Oktober 2009, GMBl. S. 877), nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. Maßgeblich für die Tilgung oder Tilgungsreife ist dabei grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Die Tilgungsfrist der genannten Eintragungen beträgt aufgrund des Strafmaßes gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG in beiden Fällen 15 Jahre. Diese Frist läuft ausgehend von dem Fristbeginn des§ 36 Abs. 1 Satz 1 BZRG frühestens am 27. September 2020 ab.

28

2.

Hier genießt der Kläger aber den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG.

29

Dieser erfordert, dass der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt. Im Hinblick auf einen Ehepartner setzt eine solche Gemeinschaft regelmäßig ein häusliches Zusammenleben voraus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.6.1993 - 2 BvR 900/93 -, InfAuslR 1994, 311 [BVerwG 25.03.1994 - BVerwG 1 B 30/94]). Im Hinblick auf minderjährige Kinder können dagegen schon regelmäßige Umgangskontakte genügen, die zeigen, dass der Ausländer im Rahmen des ihm Möglichen am Leben und Aufwachsen seiner Kinder tatsächlich Anteil nimmt und so eine "Elternfunktion" und Elternverantwortung übernimmt (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 14.10.2010 - 8 PA 234/10 -, [...] Rn. 18; v. 24.3.2010 - 8 PA 38/10 -).

30

Hieran gemessen ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, die alle deutsche Staatsangehörige sind, derzeit in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt.

31

Der Kläger und seine Ehefrau haben zwar eingeräumt, dass die Ehefrau mit den Kindern nach dem Haftantritt jedenfalls zeitweise bei ihren Eltern in N. gelebt hat und dort der Sohn H. zur Schule gegangen und der Sohn J. geboren worden sei. Auch während dieser Zeit sei der Kläger aber in der Haft besucht worden und habe nach den Hafterleichterungen (Freigang) die Wochenenden mit seiner Familie verbracht. Nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers war die Ursache für diese allenfalls zeitweise Trennung die Überforderung seiner Ehefrau mit der alleinigen Betreuung und Erziehung der Kinder. Nach der Haftentlassung haben die Eheleute, da ein Zuzug des Klägers nach N. von der Beklagten nicht gestattet worden ist, beschlossen, gemeinsam in O. zu leben, und sie haben diesen Beschluss Ende 2009/Anfang 2010 auch umgesetzt. So besucht der Sohn H. seit Januar 2010 eine Grundschule in O. (vgl. die Bestätigung der Grundschule v. 11.12.2009, Bl. 199 Gerichtsakte) und die gesamte Familie ist in O., P., melderechtlich erfasst und bezieht dort als Bedarfsgemeinschaft öffentliche Sozialleistungen.

32

Von der Beklagten geäußerte Zweifel am tatsächlichen Bestehen dieser familiären Lebensgemeinschaft sind ausgeräumt. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 7. März 2011 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 10. März 2011 eingeräumt, keine Erkenntnisse für das Nichtbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner Ehefrau und seinen Kindern (mehr) zu haben.

33

Aufgrund des damit bestehenden besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG darf der Kläger gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Liegen, wie hier, die Voraussetzungen des § 53 AufenthG vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen; die zwingende Ausweisung nach§ 53 AufenthG wird mithin in den Fällen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Regelausweisung herabgestuft.

34

Die danach erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen zwar gemäߧ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den hier gegebenen Fällen des § 53 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beinhaltet allerdings keine Automatik, sondern erfordert in den Fällen der Herabstufung zur Regel-Ausweisung eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.8.2004 - 1 C 25.03 -, BVerwGE 121, 356, 362). Aufgrund dieser Prüfung kann ein Ausnahmefall von der Regel-Ausweisung insbesondere dann anzunehmen sein, wenn ein atypischer Geschehensablauf oder andere besondere Umstände den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen, keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine zukünftige schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers bestehen oder wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, BVerwGE 129, 367, 372 f.; BVerwG, Urt. v. 31.8.2004, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 11.6.1996 - 1 C 24.96, BVerwGE 101, 247, 252 f.; GK-AufenthG, Stand: Dezember 2010, § 54 Rn. 71 ff.).

35

Hier liegt ein solcher Ausnahmefall vor, der es erfordert, von der Regel-Ausweisung abzusehen, und daher nur noch eine Ausweisung im Ermessenswege gestattet. Die hierfür maßgeblichen besonderen Umstände sind zum einen die Entwicklung des Klägers seit der strafrechtlichen Verurteilung und der Verbüßung der Strafhaft und zum anderen die nach Art. 6 GG schutzwürdigen Belange der Ehefrau und der minderjährigen Kinder des Klägers.

36

Die Entwicklung des Klägers seit der strafrechtlichen Verurteilung und der Verbüßung der Strafhaft lassen im vorliegenden Einzelfall darauf schließen, dass von diesem zukünftig keine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mehr droht.

37

Zutreffend ist zwar, dass der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen und wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden ist, die Taten als "bewusst krimineller Täter" (vgl. Prognosegutachten, S. 23) begangen hat und sich auch von der ersten Verurteilung mit der Strafaussetzung zur Bewährung nicht von weiteren Taten hat abbringen lassen.

38

Der Senat ist jedoch davon überzeugt, dass die erstmalige tatsächliche Verbüßung der Strafhaft eine Zäsur im Leben und in der Lebensführung des Klägers bewirkt hat. Hierfür spricht bereits, dass der Kläger sich zum Strafantritt freiwillig gestellt und auch während der Strafhaft sehr gut geführt hat. Nach den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt vom 8. März 2007, 2. Juli 2007 und 25. Oktober 2007 hat sich der Kläger im Vollzug "vorbildlich geführt", mit "außerordentlich guten Leistungen" gearbeitet und auch bei den Vollzugslockerungen "keinerlei Auffälligkeiten" gezeigt. Die erstmalige Trennung von seiner Familie hat ihn enorm belastet. Auch aufgrund der guten Führung während der Strafhaft ist der Kläger durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 9. Oktober 2008 nach Verbüßung von 2/3 der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. September 2005 - 226 Ls 720 Js 9963/05 (68/05) - und von nur 1/2 der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 - 3 Ls 52/02 609 Js 22691/02 VRS - bereits am 22. Oktober 2008 aus der Strafhaft entlassen worden. Das von der Strafvollstreckungskammer eingeholte Prognosegutachten verneint zudem eine kriminelle Verfestigung (vgl. Prognosegutachten, S. 24), schätzt die Rückfallgefahr des Klägers als "im Vergleich zur Basisrate noch als unterdurchschnittlich" ein (vgl. Prognosegutachten, S. 27) und nimmt an, dass gerade bei bewusst kriminellen Tätern, wie dem Kläger, die erstmalige Verbüßung einer Freiheitsstrafe zur Zäsur führen kann (vgl. Prognosegutachten, S. 25). Diese Annahmen werden durch die tatsächliche Entwicklung des Klägers nach der Entlassung aus der Strafhaft bestätigt. So sind die Einschätzungen in den Schreiben des Bewährungshelfers vom 14. Januar 2009 und vom 16. September 2009 positiv und bescheinigen dem Kläger eine hervorragende, offene und aktive Zusammenarbeit. Bereits mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 30. September 2010 ist die Unterstellung des Klägers unter die Bewährungsaufsicht aufgehoben worden. Seit der Entlassung aus der Strafhaft am 22. Oktober 2008 ist der Kläger auch nicht erneut strafrechtlich verurteilt worden.

39

Neben dieser positiven Entwicklung des Klägers seit der strafrechtlichen Verurteilung und der Verbüßung der Strafhaft stellen auch die nach Art. 6 GG schutzwürdigen Belange der Ehefrau und der minderjährigen Kinder des Klägers hier einen besonderen Umstand dar, der eine Ausnahme von der allein regelhaften Betrachtung erfordert. Denn sowohl die Ehefrau als auch die Kinder sind sämtlichst deutsche Staatsangehörige, so dass die Ausweisung und die sich daran anschließende Aufenthaltsbeendigung des Klägers auch zur Beendigung der familiären Lebensgemeinschaft führt. Diese Aspekte stehen einer Ausweisung zwar nicht von vorneherein entgegen, gebieten aber eine Einzelfallwürdigung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.1994 - 2 BvR 1542/94 -, NVwZ 1995, 159; BVerwG, Urt. v. 17.1.1989 - 1 C 46.86 -, BVerwGE 81, 155, 163; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 290 und 311).

40

3.

Die danach erforderliche Ermessensentscheidung hat die Beklagte in dem hier angefochtenen Bescheid vom 4. Juli 2008 getroffen. Dabei hat sie zunächst dargestellt, dass die Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nrn. 1 und 2 AufenthG erfüllt sind (S. 4 des Bescheides v. 4.7.2008), diese wegen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aber zur Regelausweisung herabgestuft ist (S. 4 f. des Bescheides v. 4.7.2008). Daran anschließend (S. 7 ff. des Bescheides v. 4.7.2008) hat die Beklagte allerdings ausdrücklich ausgeführt, nach Ermessen zu entscheiden, und sie hat entsprechende Ermessenserwägungen angestellt.

41

Diese Ermessensentscheidung ist von der Beklagten mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2009 in Anwendung der prozessualen Möglichkeit des§ 114 Satz 2 VwGO verfahrensbegleitend aktualisiert worden (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 13.1.2009 - 1 C 2.08 -, NVwZ 2009, 727, 729 [BVerwG 13.01.2009 - BVerwG 1 C 2.08] m.w.N.). Ein unzulässiges Nachholen einer bisher fehlenden Ermessensentscheidung (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.9.2006 - 1 C 20.08 -, NVwZ 2007, 470, 471 [BVerwG 05.09.2006 - 1 C-(3) 20/05]; BVerwG, Urt. v. 5.5.1998 - 1 C 17.97 -, BVerwGE 106, 351, 365) liegt nicht vor. Denn die Beklagte hat lediglich frühere Ermessenserwägungen ergänzt, nicht aber ihr Ermessen nachträglich erstmals ausgeübt.

42

4.

Die so getroffene Ermessensentscheidung stellt einen unverhältnismäßigen und damit nicht gerechtfertigten Eingriff in das durch Art. 6 GG geschützte Recht des Klägers auf Achtung seines Ehe- und Familienlebens dar.

43

Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. Senatsbeschl. v. 27.7.2009 - 8 PA 106/09 -). Wie ausgeführt (siehe oben 2.) besteht hier eine solche, den Schutzbereich desArt. 6 Abs. 1 GG eröffnende familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger, seiner Ehefrau und ihren gemeinsamen minderjährigen Kindern.

44

Der Fortbestand der tatsächlichen familiären Lebensgemeinschaft wird durch die Ausweisungsverfügung beeinträchtigt. Denn durch diese wird das Aufenthaltsrecht des Klägers im Bundesgebiet gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG beendet, so dass er nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet wird. Hiermit geht die Aufhebung der familiären Lebensgemeinschaft einher, da es der Ehefrau und den Kindern, die sämtlichst deutsche Staatsangehörige sind, nicht zuzumuten ist, das Bundesgebiet zu verlassen, um mit dem Kläger eine familiäre Lebensgemeinschaft in dessen Heimatland zu führen. Der so begründete Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG wird durch die von der Beklagten avisierte Duldung nicht beseitigt. Abgesehen davon, dass die Duldung nur zum Zwecke der Heilbehandlung und nicht zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft erteilt werden soll, lässt sie die Ausreisepflicht des Klägers unberührt und ist von vorneherein zum einen durch die Dauer der notwendigen Heilbehandlung begrenzt.

45

Der so beschriebene Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist unverhältnismäßig.

46

Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Ausweisungsverfügung vom 4. Juli 2008 aufgrund der mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2009 im Berufungsverfahren ergänzten Ermessenserwägungen ausschließlich noch auf spezialpräventive Gründe stützt, bei der in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu betrachtenden Mittel-Zweck-Relation also allein die Ausweisung und der damit verfolgte spezialpräventive Zweck gegenüberzustellen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.5.1998, a.a.O., S. 357 f.; BVerwG, Urt. v. 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247, 253 f. und 256; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1295 f. und 1732 f.). Die gerade im Bereich der Rauschgiftkriminalität regelmäßig zu Recht herangezogenen generalpräventiven Erwägungen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.9.1986 - 2 BvR 744/86 -, NVwZ 1987, 403 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 461 m.w.N.) sind hier hingegen nicht zu berücksichtigen.

47

Danach ist die aus spezialpräventiven Gründen erfolgende Ausweisung zur Erreichung des Zwecks, den ausgewiesenen Ausländer aus dem Bundesgebiet zu entfernen und von diesem für eine gewisse Dauer fernzuhalten, um ihn so von der Begehung neuer Straftaten im Bundesgebiet abzuhalten, grundsätzlich geeignet. Diese Eignung wird allein durch die fehlende Möglichkeit einer Abschiebung bzw. weitere Duldung im Bundesgebiet nicht von vorneherein in Frage gestellt. Denn wenigstens die mit der Ausweisung verbundene Verschlechterung des aufenthaltsrechtlichen Status (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) wirkt als Warnung fort (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.8.2004, a.a.O.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 429 m.w.N.).

48

Die Ausweisung ist zur Erreichung des allein spezialpräventiven Zwecks, den Kläger aus dem Bundesgebiet zu entfernen und von diesem für eine gewisse Dauer fernzuhalten, um ihn so von der Begehung neuer Straftaten im Bundesgebiet abzuhalten, aber nicht erforderlich. Denn der Senat teilt die - vollständig gerichtlich überprüfbare (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1712 f. m.w.N.) - Prognose der Beklagten, dass von dem Kläger aufgrund zu erwartender erneuter strafrechtlicher Verfehlungen eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht, nicht.

49

Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der allein spezialpräventiven Ausweisung eines besonderen Ausweisungsschutz nach§ 56 Abs. 1 AufenthG genießenden Ausländers dem Ausweisungsanlass besonderes Gewicht zukommen muss. Erforderlich ist, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Entfernte Möglichkeiten neuer Störungen genügen hingegen nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.5.1998, a.a.O., S. 357 f.; BVerwG, Urt. v. 17.1.1989, a.a.O.).

50

Nach diesem Maßstab kann hier eine ernsthaft drohende (Wiederholungs-)Gefahr erneuter schwerwiegender strafrechtlicher Verfehlungen des Klägers nicht angenommen werden.

51

Zwar sprechen hier die tatbezogenen Umstände, insbesondere die Gleichartigkeit und Häufigkeit der begangenen Rauschgiftdelikte, die Art und Höhe der Strafe und die Begehung durch den Kläger als "bewusst krimineller Täter" (vgl. Prognosegutachten S. 23), der sich auch von der ersten Verurteilung mit der Strafaussetzung zur Bewährung nicht von weiteren Taten hat abbringen lassen, für eine gewisse Wahrscheinlichkeit erneuter strafrechtlicher Verfehlungen, die bei der erneuten Begehung von Betäubungsmitteldelikten auch bedeutsame Gefahren für wichtige Schutzgüter mit sich bringen könnten.

52

Dass solche Gefahren aber ernsthaft drohen, kann wegen in der Person des Klägers begründeter Umstände nicht angenommen werden. Wie ausgeführt ist der Senat aufgrund der Entwicklung des Klägers seit der strafrechtlichen Verurteilung und der Verbüßung der Strafhaft überzeugt, dass die erstmalige Vollstreckung einer Freiheitsstrafe eine Zäsur im Leben und auch in der Lebensführung des Klägers bewirkt hat, die die Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen jedenfalls ganz erheblich reduziert (siehe oben 2.). Insbesondere im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 9. Oktober 2008, mit dem der Kläger nach Verbüßung von 2/3 der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. September 2005 - 226 Ls 720 Js 9963/05 (68/05) - und von 1/2 der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 - 3 Ls 52/02 609 Js 22691/02 VRS - bereits am 22. Oktober 2008 aus der Strafhaft entlassen und der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden ist, wird dem Kläger eine günstige Sozialprognose gestellt. Dabei berücksichtigt der Senat besonders, dass die Aussetzung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. August 2002 - 3 Ls 52/02 609 Js 22691/02 VRS - schon nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe auf der Grundlage des § 57 Abs. 2 Nr. 2 Strafgesetzbuch - StGB - in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300), erfolgt ist. Die Strafvollstreckungskammer hat also neben der Persönlichkeit des Klägers, seines Vorlebens, der Umstände seiner Tat, seines Verhaltens nach der Tat, seiner Lebensverhältnisse und der Wirkungen der Strafaussetzung besondere Umstände gesehen, die nicht nur auf eine zukünftig straffreie Entwicklung hindeuten, sondern hier ausnahmsweise auch schon eine Halbstrafenaussetzung gestatten (vgl. zu den Anforderungen an die Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB: BGH, Beschl. v. 16.12.1994 - StB 30/94, 3 StE 2/91 -, [...] Rn. 2;BGH, Beschl. v. 22.9.1994 - StB 19/94, 3 StE 8/93 -, [...] Rn. 3 f.).

53

Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte können in der Ausweisungsverfügung zwar eine von dieser strafgerichtlichen Prognose abweichende eigene Prognose zur Wiederholungsgefahr treffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.3.1998 - 1 C 28.97 -, BVerwGE 106, 302, 309 m.w.N.). Angesichts des tatsächlichen Gewichts der strafgerichtlichen Beurteilung müssen sie eine Abweichung hiervon aber überzeugend begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.8.1996 - 1 C 8.94 -, BVerwGE 102, 12, 20 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1224). Solche überzeugenden Gründe, die eine Abweichung von der positiven Sozialprognose der Strafvollstreckungskammer rechtfertigen würden, sind für den Senat hier nicht ersichtlich. Sie bestehen insbesondere nicht in der von der Beklagten bemühten Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten, dessen materieller Fixierung und dessen Krebserkrankung, die allein ihn bisher von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten haben soll. Denn diese Gründe berücksichtigen die beschriebene Zäsur im Leben des Klägers und die im von der Strafvollstreckungskammer eingeholten Prognosegutachten getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht hinreichend. Auch das Prognosegutachten geht ausdrücklich davon aus, dass materielle Interessen des Klägers für die Taten ausschlaggebend waren und der Kläger der Gruppe der "bewusst kriminellen Täter" zuzuordnen ist (vgl. Prognosegutachten, S. 23). Trotz dieser Umstände verneint das Prognosegutachten aber ausdrücklich eine kriminelle Verfestigung (vgl. Prognosegutachten, S. 24), nimmt an, dass gerade bei bewusst kriminellen Tätern, wie dem Kläger, die erstmalige Verbüßung einer Freiheitsstrafe zur Zäsur führen kann (vgl. Prognosegutachten, S. 25), und schätzt die Rückfallgefahr des Klägers als "im Vergleich zur Basisrate noch als unterdurchschnittlich" ein (vgl. Prognosegutachten, S. 27). Auch ungeachtet des Umstandes, dass diese Feststellungen durch die tatsächliche Entwicklung des Klägers nach seiner Entlassung aus der Strafhaft bestätigt worden sind, kann daher allein mit den Grundannahmen des Prognosegutachtens, der Kläger habe schwere Straftaten begangen, bewusst kriminell gehandelt und sei materiell fixiert, nicht das ernsthafte Drohen erneuter strafrechtlicher Verfehlungen begründet werden. Denn das Prognosegutachten hat trotz dieser Grundannahmen dem Kläger gut nachvollziehbar eine günstige Sozialprognose bescheinigt. Auch die nach der Haftentlassung des Klägers festgestellte Krebserkrankung liefert keinen Grund anzunehmen, es drohten ernsthaft weitere strafrechtliche Verfehlungen. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Kläger (allein) durch die Krebserkrankung von weiteren strafrechtlichen Verfehlungen abgehalten worden ist, zumal die Beklagte selbst unterstellt, der gelegentliche Handel mit Drogen sei mit der Erkrankung des Klägers eher vereinbar als die Ausübung einer durch Regelmäßigkeit geprägten Beschäftigung. Vielmehr ist der Kläger seit seiner Haftentlassung im Oktober 2008 nicht wieder straffällig geworden, obwohl er seitdem zur Sicherung des Lebensunterhalts auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen ist und durchaus die Möglichkeit bestanden hat, auf seine bisherigen Kontakte in der Drogenszene im Bundesgebiet zurückzugreifen, weiter mit Betäubungsmitteln zu handeln und so eine illegale Einnahmequelle zu erschließen. Indem der Kläger diese Möglichkeiten ungenutzt ließ, hat er zur Überzeugung des Senats gezeigt, dass von ihm eine (Wiederholungs-)Gefahr erneuter schwerwiegender strafrechtlicher Verfehlungen jedenfalls nicht mehr ernsthaft droht.

54

Ungeachtet der damit fehlenden Erforderlichkeit der Ausweisungsverfügung ist diese auch unangemessen. Die Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen führt zu einem deutlichen Überwiegen der privaten Interessen des Klägers und seiner Familie. Zwar besteht ein durchaus erhebliches öffentliches Interesse an der Verhinderung weiterer Straftaten durch den Kläger im Bundesgebiet. Allerdings ist aufgrund der dargestellten besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls die Gefahr einer erneuten strafrechtlichen Verfehlung des Klägers allenfalls als gering einzuschätzen. Demgegenüber steht das nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Interesse des Klägers, seiner Ehefrau und der gemeinsamen minderjährigen Kinder, die bestehende familiäre Lebensgemeinschaft weiterhin im Bundesgebiet führen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kinder des Klägers derzeit erst 9 Jahre (Sohn H., geb. am 27.11.2001), 6 Jahre (Tochter I., geb. am 19.7.2004) und 2 Jahre (Sohn J., geb. am 18.12.2008) alt sind und damit zumindest auch ein sehr kleines Kind betroffen ist. Gerade bei letzterem ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, [...] Rn. 26). Hierfür genügt gerade bei einem Kleinkind die Möglichkeit, über Briefe, Telefonate und Besuche aus dem Ausland Kontakt zu halten, nicht. Daher kann auch schon eine nur vorübergehende und kurzfristige Trennung regelmäßig unzumutbar sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 -, InfAuslR 2006, 320, 321; BVerfG, Beschl. v. 31.8.1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67, 69; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 27.4.2006 - 4 Bs 103/06 -, InfAuslR 2006, 361, 362). Letztgenannte private Belange deutscher Staatsangehöriger sind regelmäßig und auch hier so schutzwürdig, dass sie von den die Ausweisung fordernden öffentlichen Interessen nur dann überwogen werden können, wenn diese schwerwiegend sind, also eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.1994, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 5.5.1998, a.a.O., S. 357 f.; BVerwG, Urt. v. 17.1.1989, a.a.O.), woran es hier, wie ausgeführt, fehlt.

55

Erweist sich die angefochtene Ausweisungsverfügung bereits wegen des unverhältnismäßigen und damit nicht gerechtfertigten Eingriffs in das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Recht des Klägers auf Achtung seines Familienlebens als rechtswidrig, bedarf es hier keiner Entscheidung des Senats, ob der Kläger auch in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK, seinem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK oder seinem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist.

56

Ist die angefochtene Ausweisungsverfügung im Bescheid vom 4. Juli 2008 aufzuheben, entfällt die nach §§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 50 Abs. 1 AufenthG entstandene Ausreisepflicht und die Fiktionswirkung des Antrags des Klägers vom 11. März 2005 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, den die Beklagte bisher nicht beschieden hat, gilt fort. Demgemäß sind auch die im Bescheid vom 4. Juli 2008 verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aufzuheben. Denn Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist eine bestehende Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 19.5.2010 - 11 ME 133/10 -, [...] Rn. 15; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.2.2009 - 18 A 2620/08 -, [...] Rn. 30 ff.).