Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.05.2010, Az.: 11 ME 133/10

Rechtsschutzbedürfnis eines sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers i.R.d. einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Ausweisung und Abschiebungsandrohung; Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung bei fehlendem Einzelfallbezug

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.05.2010
Aktenzeichen
11 ME 133/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 15956
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0519.11ME133.10.0A

Fundstellen

  • DVBl 2010, 864
  • InfAuslR 2010, 295-297

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zum - hier bejahten - Rechtsschutzbedürfnis eines sich illegal im Bundesgebiet aufhältigen Ausländers für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Ausweisung und Abschiebungsandrohung.

  2. 2.

    Zu den - hier verneinten - Voraussetzungen, unter denen bei bereits anderweitig bestehender Ausreisepflicht noch ein besonderes öffentliches Interesse an der Anordnung des Sofortvollzugs einer Ausweisung besteht.

  3. 3.

    Angehörige einer familiären Lebensgemeinschaft, die ausreisepflichtig sind und unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben, sind grundsätzlich darauf verwiesen, die Lebensgemeinschaft in einem der Heimatländer fortzuführen.

  4. 4.

    Zu Ansprüchen auf Einreise zwecks Familiennachzug in die Türkei und in den Kosovo.

Entscheidungsgründe

1

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang (überwiegend) Erfolg und bleibt im Übrigen erfolglos.

2

Der 1983 geborene Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste erstmals zu einem nicht genau feststehenden Zeitpunkt, möglicherweise bereits im Jahr 2003, spätestens aber im Februar 2008 illegal in das Bundesgebiet ein.

3

Er wurde Ende Februar 2008 in Abschiebehaft genommen. Da er aus der Haft einen Asylantrag stellte und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hierüber nicht binnen Monatsfrist entschied, wurde der Antragsteller im April 2008 aus der Haft entlassen. Bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes erschien er jedoch, auch zur Anhörung über seinen Asylantrag, nicht, sondern tauchte unter. Mit Bescheid vom 29. Juli 2008 wurde der Asylantrag des Antragstellers deshalb als offensichtlich unbegründet abgelehnt und ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht; der Bescheid wurde an die letzte dem Bundesamt bekannte Anschrift des Antragstellers, d.h. die Haftanstalt, gerichtet. Ein Nachweis, dass der Antragsteller zuvor eine Belehrung nach § 10 AsylVfG erhalten hatte, befindet sich in den Akten nicht.

4

Am 9. November 2009 erschien der Antragsteller zusammen mit seiner 1985 geborenen "Verlobten" Frau B. C., die nach Aktenlage serbische und kosovarische Staatsangehörige ist, bei der Ausländerbehörde des Antragsgegners. Der Antragsteller gab an, vor etwa 14 Monaten erneut illegal eingereist zu sein. Ungeachtet dessen sei ihm zur Betreuung seiner im September 2009 geborenen Tochter D. C. eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Er übe das Sorgerecht gemeinsam mit der in E. wohnhaften Mutter - Frau C. - aus.

5

Der Antragsgegner wies den Antragsteller mit dem hier streitigen Bescheid vom 27. Januar 2010 aus. Der Antragsteller habe sich seit 2003 illegal im Bundesgebiet aufgehalten und dadurch den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Schutzwürdige Belange stünden seiner Ausweisung nicht entgegen. Frau C. und das gemeinsame Kind seien ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtig. Die familiäre Lebensgemeinschaft könne also auch im Heimatland des Antragstellers oder seiner Verlobten fortgeführt werden. Die sofortige Vollziehung der Ausweisung wurde damit begründet, dass der Aufenthalt eines Ausländers, der - wie der Antragsteller - gegen die hiesige Rechtsordnung verstoßen habe, unverzüglich beendet werden müsse. Für den Fall, dass der Antragsteller nicht bis zum 15. Februar 2010 ausreise, wurde ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht.

6

Der Antragsteller hat am 16. Februar 2010 beim Verwaltungsgericht Klage erhoben und zugleich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Die Ausweisung sei voraussichtlich ermessensfehlerhaft, weil der Antragsgegner keine konkreten Feststellungen zur Möglichkeit der Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft im Heimatland des Antragstellers oder seiner Verlobten getroffen habe. Die aufschiebende Wirkung der Klage sei auch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen, da deren Rechtmäßigkeit "davon abhänge, ob die Ausweisung zu Recht verfügt worden ist".

7

Auf die Beschwerde des Antragsgegners ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.

8

Für den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

9

Bedenken hiergegen könnten sich deshalb ergeben, weil sich der Antragsteller ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhält, deshalb nach § 50 Abs. 1 und 2 AufenthG unabhängig von der Wirksamkeit der hier streitigen Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig und der Antragsgegner daher auch bei einer Stattgabe des nach§ 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrages nicht gehindert ist, den Antragsteller abzuschieben (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 17.3.1997 - 3 TG 3656/96 -, AuAS 1997, 207 f.). Allerdings kommen einer Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG weitergehende Wirkungen als der von Gesetzes wegen bestehenden Ausreispflicht zu, insbesondere zieht - soweit die Ausreisepflicht nicht zwangsweise durch Abschiebung durchgesetzt wird - allein die Ausweisung ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot nach sich. Dies rechtfertigt es, ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisungsverfügung auch unter den hier gegebenen Voraussetzungen zu bejahen (im Ergebnis ebenso VGH Mannheim, Beschl. v. 11.9.2008 - 11 S 2042/08 -, VBlBW 2009, 37 ff., m.w.N.). Gleiches gilt im Ergebnis auch für den gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Antrag. Dabei kann offen bleiben, ob ein solches Rechtsschutzbedürfnis auch zu bejahen wäre, wenn gegenüber dem Antragsteller schon eine wirksame Abschiebungsandrohung existierte. Hieran bestehen vorliegend jedenfalls deshalb Zweifel, weil die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2008 enthaltene Abschiebungsandrohung ggf. wegen Mängeln bei der Bekanntgabe dieses Bescheides unwirksam ist.

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Der demnach zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet, soweit sich der Antragsteller gegen die Anordnung des Sofortvollzuges der Ausweisung wendet. Diese Anordnung genügt nicht dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (vgl. VGH Mannheim, a.a.O.). Erforderlich ist insoweit grundsätzlich die einzelfallbezogene Darlegung eines besonderen öffentlichen Interesses, vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO - hier: der Klage vom 16. Februar 2010 - abzuweichen, wobei in der Regel ein besonderes öffentliches Interesse darzutun ist, das über die die Verfügung selbst tragenden Erwägungen hinausgeht (vgl. etwa Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 80, Rn. 92, m.w.N.). Ob die angeführten, den Einzelfall betreffenden Gründe die Anordnung des Sofortvollzuges auch inhaltlich tragen, ist allerdings keine Frage der formellen Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, sondern der materiellen Rechtmäßigkeit (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 29.1.2010 - 11 ME 522/09 -, m.w.N.).

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Hieran gemessen ist die Anordnung des Sofortvollzuges im Bescheid vom 27. Januar 2010 schon nicht hinreichend einzelfallbezogen, deshalb formell rechtswidrig und aufzuheben. Der Antragsgegner hat nämlich bei seiner o. a. Begründung übersehen, dass der Antragsteller bereits jetzt vollziehbar ausreisepflichtig ist und es zur beabsichtigten sofortigen Durchsetzung der Ausreisepflicht der Anordnung des Sofortvollzuges der Ausweisung gar nicht bedarf. Hierfür hätte nur dann eine Notwendigkeit bestanden, wenn es dem Antragsgegner gezielt um die weitergehenden Wirkungen des § 11 Abs. 1 AufenthG ginge, um also etwa sofort wirksam eine Wiedereinreisesperre für den Antragsteller herbeizuführen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 2.6.1993 - II 67/93 -, InfAuslR 1993, 340 ff.). Gründe hierfür sind aber nicht vorgetragen oder ersichtlich.

12

Bei dieser Sachlage ist die Vollziehungsanordnung wegen mangelhafter Begründung aufzuheben, was dem Antragsgegner die Befugnis belässt, den Sofortvollzug ggf. erneut mit tragfähiger Begrünung anzuordnen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 22.1.2003 - 11 ME 405/02 -; Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., § 80, Rn. 93, m.w.N.).

13

Für die weitergehend beantragte und vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisung besteht hingegen kein Anlass. Bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung bestehen keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ausweisung.

14

Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat und vom Antragsteller auch nicht in Abrede gestellt wird, hat er durch seinen - ggf. sogar jahrelangen - illegalen Aufenthalt im Bundesgebiet den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sind Ermessensfehler der verfügten Ausweisung nicht zu erkennen. I.S.d. § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG schutzwürdige eigenständige Belange des Antragstellers sind nicht gegeben (vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 23.3.2009 - 10 LA 438/08 -, AuAS 2009, 208 ff.). Nach § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG sind zwar auch die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers zu berücksichtigen, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Über solche Angehörige verfügt der Antragsteller aber nicht, weil weder seine Verlobte noch sein Kind im Besitz der nach § 4 AufenthG für einen rechtmäßigen Aufenthalt erforderlichen Aufenthaltserlaubnisse sind. Selbst wenn ihrem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zukünftig entsprochen würde, folgte daraus noch kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Antragstellers (vgl. § 36 AufenthG). Vielmehr sind auch Angehörige einer familiären Lebensgemeinschaft, die - wie hier der Antragsteller und seine Verlobte - über verschiedene Staatsangehörigkeiten und kein gemeinsames Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen, grundsätzlich darauf verwiesen, die familiäre Lebensgemeinschaft in einem ihrer Heimatländer zu führen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.9.1978 - 1 CB 26/78 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG). Ob die Ausländerbehörde - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - insoweit von Amts wegen zu näheren Ermittlungen über die jeweiligen Einreise - und Aufenthaltsmodalitäten verpflichtet ist, erscheint nach §§ 55 Abs. 3, 79 Abs. 1, 82 AufenthG fraglich (vgl. GK-AufenthG, § 82, Rn. 20 ff.), kann hier aber offen bleiben. Denn der Antragsgegner hat jedenfalls im laufenden Verfahren hinreichend dargelegt, dass nach dem Inhalt seines Vermerks über eine telefonische Auskunft des türkischen Generalkonsulats vom 23. April 2010 sowie der Auskunft der deutschen Botschaft in Ankara vom 28. April 2010 (vgl. ergänzend die Ausführungen zum türkischen Ausländergesetz Nr. 5683 vom 15. Juli 1950 in Ziffer 12.1.4 des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom Dezember 2002 zur Türkei sowie die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2009 an das VG Bremen) sowohl in der Türkei - dem Heimatland des Antragstellers - als nach dem deutsch-kosovarischen Rückübernahmeabkommen auch im Kosovo - dessen Staatsangehörigkeit die Verlobte des Antragstellers nach Aktenlage u.a. hat - grundsätzlich auch für den jeweils ausländischen Partner einer familiären Lebensgemeinschaft eine legale Einreise- und Niederlassungsmöglichkeit besteht; ergänzend ist insoweit darauf hinzuweisen, dass nach dem im Internet in englischer Sprache über die Seite des kosovarischen Innenministeriums abrufbaren Abdruck des dortigen Ausländergesetzes (Art. 32) eine Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeit für den Antragsteller als Vater eines minderjährigen, auch kosovarischen Kindes unabhängig von der Eheschließung mit seiner Verlobten besteht und im Kosovo sowohl in Pristina als auch in Prizren insgesamt etwa 30.000 türkische Volkszugehörige leben (vgl. neben dem englischsprachigen OSCE-Gemeindeprofilen zu Pristina und Prizren jeweils nach dem Stand vom September 2009 auch die deutschsprachigen Angaben im Länderbericht II/2009 zum Kosovo vom 27.9.2009 eines Verbindungsbeamten des österreichischen BMI, S. 41). Die vorhergehenden Ausführungen sind auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 14.5.2009 - 8 LB 18/07 -, NVwZ-RR 2009, 859 ff., m.w.N.). Individuelle Gründe, aus denen eine Niederlassung in der Türkei oder dem Kosovo abweichend von den vorgenannten allgemeinen Verhältnissen in den jeweiligen Heimatländern hier gleichwohl unmöglich oder unzumutbar wäre, wären von den Antragstellern darzulegen - dies ist aber nicht geschehen. Dass der Antragsteller und seine Verlobte ein gemeinsames Leben im Bundesgebiet vorziehen und sich auf die üblichen Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung des jeweils ausländischen Partners in einem für ihn fremden Land berufen, ist insoweit ebenso unerheblich wie das Vorbringen, der Antragsteller sei bei einer Rückkehr in die Türkei wehrdienstpflichtig. Sonstige gegen eine Ausweisung des Antragstellers sprechenden Gründe sind nicht gegeben.

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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung hat hingegen keinen Erfolg. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist nach §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 AufenthG eine bestehende Ausreisepflicht des Antragstellers (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 20.2.2009 - 18 A 2620/08 -, InfAuslR 2009, 232). Diese Voraussetzung ist hier - wie dargelegt - schon deshalb gegeben, weil sich der Antragsteller seit seiner (ggf. wiederholten) Einreise im Bundesgebiet stets ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel aufhält. Dem Erlass der Abschiebungsandrohung steht nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Vorliegen von Abschiebungsverboten nicht entgegen; für Duldungsgründe gilt Gleiches (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 6.1.2005 - 18 B 2801/04 -, DÖV 2005, 430 f., m.w.N.). Dass Gründe vorliegen, die nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG beachtlich sind und die Androhung der Abschiebung in die Türkei ausschließen, ist nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht zu erkennen.