Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.03.2011, Az.: 8 LA 255/10

Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung durch die Ausländerbehörde für die eigene Gefahrenprognose und Ermessensausübung i.R.e Ausweisung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.03.2011
Aktenzeichen
8 LA 255/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 11564
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0303.8LA255.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 30.08.2010 - 12 A 112/08

Amtlicher Leitsatz

Zu den Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung durch die Ausländerbehörde für die eigene Gefahrenprognose und Ermessensausübungim Rahmen einer Ermessensausweisung nach § 55 AufenthG.

Gründe

1

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die gegen den Kläger gerichtete Ausweisungsverfügung vom 12. Oktober 2006 aufgehoben hat, bleibt ohne Erfolg.

2

Die Beklagte hat ihren Antrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützt. Dieser Zulassungsgrund liegt nicht vor.

3

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten (vgl. Senatsbeschl. v. 11.2.2011 - 8 LA 259/10 -, [...] Rn. 3). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, 543).

4

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

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Die Beklagte wendet gegen die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ein, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, die Ausweisungsverfügung sei mangels hinreichender Gefahr der Wiederholung von Verstößen des Klägers gegen die deutsche (Straf-)Rechtsordnung unverhältnismäßig. Denn das Verwaltungsgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass der Kläger durch das Urteil des Amtsgerichts Burgwedel vom 6. März 2007 wegen eines am 7. Oktober 2006 begangenen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz zu einer zweimonatigen Freiheitsstrafe mit einer zweijährigen Bewährungszeit verurteilt worden sei. Hieraus könne auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen werden. Unabhängig von den damit gegebenen spezialpräventiven Gründen für eine Ausweisung werde diese im vorliegenden Fall aber auch von generalpräventiven Gründen getragen. Die Verfügung vom 12. Oktober 2006 habe ausdrücklich darauf abgestellt, dass die Ausweisung auch deshalb erforderlich sei, um andere Ausländer von entsprechenden Rechtsverstößen abzuschrecken und zur Einhaltung der Rechtsordnung anzuhalten. Diese Erwägungen habe die Beklagte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausdrücklich bestätigt. Berücksichtige man, dass der Kläger und seine Familie seit mehreren Jahren vollziehbar ausreisepflichtig seien und der Kläger daher keine schutzwürdigen Bindungen zum Bundesgebiet habe, erweise sich die Ausweisungsverfügung auch als verhältnismäßig.

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Diese Einwände der Beklagten begründen keine ernstlichen Richtigkeitszweifel am Ergebnis der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

7

Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisungsverfügung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20, 22). Dieser ursprünglich für die Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen entwickelte Grundsatz (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297, 308 f.; BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315, 321) gilt nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) auch für alle Drittstaatsangehörigen, weil bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Ausweisung und der Gegenwärtigkeit der von ihnen ausgehenden Gefahr auf eine möglichst aktuelle Tatsachengrundlage abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, a.a.O., S. 23 ff.).

8

Nach der danach maßgebenden Sach- und Rechtslage erweist sich die angefochtene Ausweisungsverfügung vom 12. Oktober 2006 - in der Gestalt der durch die Beklagte mit Schriftsatz vom 16. Juli 2008 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzten Ermessenserwägungen - als rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist daher vom Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht aufgehoben worden.

9

Die Beklagte hat zwar zutreffend angenommen, dass der Kläger einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG begangen hat (1.). Die getroffene Ermessensentscheidung greift aber unverhältnismäßig in das Recht des Klägers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ein (2.) und ist mit Ermessensfehlern behaftet (3.).

10

1.

Nach § 55 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Dies ist nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG insbesondere dann der Fall, wenn ein Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Die Vorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63, 66 f.; Senatsbeschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, [...] Rn. 7). Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1996, a.a.O.).

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Nach diesen Maßgaben hat der Kläger durch die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Tatsachengerichts noch im Bundeszentralregister erfassten Straftaten des Klägers,

  • vorsätzliches Fahren ohne Haftpflichtversicherungsvertrag, Verurteilung durch das AG Burgwedel am 23. April 2003 - 63 Cs 184/03 7451 Js 27907/03 - zu einer Geldstrafe von fünfzehn Tagessätzen,

  • Diebstahl in sechs Fällen, teilweise im erschwerten Fall, Verurteilung durch das AG Hannover am 21. Juni 2006 - 238 Ds 178/06 3111 Js 3582/06 - zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, ausgesetzt zur Bewährung für drei Jahre und

  • vorsätzlicher Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz, Verurteilung durch das AG Burgwedel am 6. März 2007 - 63 Ds 455/06 2343 Js 100239/06 - zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung für zwei Jahre,

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einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG begangen. Ein Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG liegt nicht vor, da keine der genannten Eintragungen im Bundeszentralregister tilgungsreif ist.

13

2.

Die Ausweisungsverfügung greift aber in unverhältnismäßiger und damit nicht gerechtfertigter Weise in das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht des Klägers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ein (vgl. zum Eingriff in dieses Recht durch eine Ausweisung: BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 -, NVwZ 2007, 1300; BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, a.a.O., S. 24).

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Zur Erreichung des verfolgten spezialpräventiven Zwecks ist die Ausweisung schon nicht erforderlich. Denn die - vollständig gerichtlich überprüfbare (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.9.1986 - 1 B 144.86 -, InfAuslR 1986, 310 f.; GK-AufenthG, Stand: Dezember 2010, Vor §§ 53 ff. Rn. 1712 f. m.w.N.) - Prognose der Beklagten, von dem Kläger gehe aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen die durch die Ausweisung zu beseitigende Gefahr eines wiederholten Rechtsverstoßes aus, ist fehlerhaft.

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Die Beklagte stellt zur Begründung der Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen des Klägers maßgeblich auf die verübten Taten und die wiederholte Begehung auch während eines laufenden Bewährungszeitraums ab. Solche Erwägungen sind zwar grundsätzlich geeignet, eine eigene Gefahrenprognose der Ausländerbehörde zu tragen. Dies setzt aber voraus, dass die Ausländerbehörde die für ihre Gefahrenprognose wesentlichen Umstände selbst aufklärt und so eine für ihre Entscheidung geeignete Tatsachengrundlage schafft. Hierfür ist es regelmäßig erforderlich, das Strafurteil und ggf. auch die Strafakten heranzuziehen und auszuwerten (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 1256 ff. m.w.N.). Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Beklagte hat nach Bekanntwerden der zur Ausweisung führenden strafgerichtlichen Verurteilungen im August 2006 (vgl. Bl. 289 Beiakte A II) lediglich einen Bundeszentralregisterauszug eingeholt (vgl. Bl. 291 Beiakte A II) und schon am 12. September 2006 den Kläger zur beabsichtigten Ausweisung angehört (vgl. Bl. 293 Beiakte A II) und diese unter dem 12. Oktober 2006 verfügt (vgl. Bl. 299 Beiakte A II). Dass zur Ermittlung einer tragfähigen Tatsachengrundlage Einsicht in die Strafakten genommen oder auch nur die Strafurteile angefordert wurden, ergibt sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Beklagten und auch aus deren Vorbringen nicht. Die ohne eigene Sachverhaltsermittlung und ohne Auseinandersetzung mit den Strafurteilen erfolgte bloße Bezugnahme der Beklagten auf die verübten Taten und die wiederholte Begehung auch während eines laufenden Bewährungszeitraums genügt daher im vorliegenden Fall nicht, um die Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen des Klägers zu begründen.

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Hinzu kommt, dass die wiederholte Strafaussetzung zur Bewährung und die Entwicklung des Klägers seit der letzten strafgerichtlichen Verurteilung im März 2007 im vorliegenden Einzelfall darauf schließen lassen, von diesem werde zukünftig keine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mehr drohen (vgl. zu den zu berücksichtigenden Kriterien: GK-AufenthG, a.a.O., § 54 Rn. 74 ff. m.w.N.). Mit der wiederholten Strafaussetzung zur Bewährung hat das Strafgericht zum Ausdruck gebracht, dass - unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Klägers, seines Vorlebens, der Umstände seiner Tat, seines Verhalten nach der Tat, seiner Lebensverhältnisse und der Wirkungen der Strafaussetzung - zu erwarten ist, dass der Kläger künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. § 56 Abs. 1 StGB). Diese strafrichterliche Prognose ist durch die tatsächliche Entwicklung bestätigt worden. Denn der Kläger ist seit der letzten strafgerichtlichen Verurteilung im März 2007 für die Zeit von nunmehr fast vier Jahren nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Es bleibt der Beklagten zwar unbenommen, in der Ausweisungsverfügung eine von der strafgerichtlichen Prognose abweichende eigene Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.3.1998 - 1 C 28.97 -, BVerwGE 106, 302, 309 m.w.N.). Angesichts des tatsächlichen Gewichts der strafgerichtlichen Beurteilung muss sie sich mit dieser aber auseinandersetzen und eine Abweichung hiervon überzeugend begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.8.1996 - 1 C 8.94 -, BVerwGE 102, 12, 20 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1224). Auch hieran fehlt es im vorliegenden Fall offensichtlich. Wie ausgeführt hat die Beklagte weder die Strafakten noch die Strafurteile herangezogen und sich daher auch nicht mit den zur Strafaussetzung zur Bewährung führenden Erwägungen der Strafgerichte auseinandergesetzt.

17

Soweit die Ausweisungsverfügung zusätzlich auch auf generalpräventive Gründe gestützt ist, hält sie einer gerichtlichen Überprüfung eben falls nicht Stand.

18

Eine generalpräventiv begründete Ausweisung genügt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann, wenn die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen sorgfältig von Amts wegen ermittelt und eingehend gewürdigt hat. Denn ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenübergestellt werden. Im Regelfall ist deshalb auch vor einer generalpräventiv begründeten Ausweisung die Einsicht in die Strafakten ebenso unerlässlich wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen an die Bundesrepublik Deutschland und an seinen Heimatstaat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, a.a.O., S. 1301; BVerfG, Beschl. v. 18.7.1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386, 399 [BVerfG 18.07.1979 - 1 BvR 650/77]). Im Grundsatz nicht anders als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv begründete Ausweisungen genügt es daher insbesondere nicht, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, a.a.O., S. 1301; BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 -, NVwZ 2007, 946, 948).

19

Ausschließlich letzteres ist im vorliegenden Fall aber geschehen. Die Beklagte hat die Ausweisungsverfügung allein anhand der sich aus dem Bundeszentralregisterauszug ergebenden strafgerichtlichen Verurteilungen vorgenommen, ohne vorher Einsicht in die Strafakten zu nehmen oder jedenfalls die Strafurteile heranzuziehen und auszuwerten. Die auch bei der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen vorzunehmende sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Umstände, die letztlich das Interesse der Allgemeinheit an der Ausweisung begründen sollen, ist daher hier nicht erfolgt und die Ausweisungsverfügung daher schon aus diesem Grund unverhältnismäßig.

20

3.

Schließlich ist die angefochtene Ausweisungsverfügung vom 12. Oktober 2006 in der Gestalt der durch die Beklagte mit Schriftsatz vom 16. Juli 2008 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzten Ermessenserwägungen mit Ermessensfehlern behaftet.

21

Ein unzulässiges Nachholen einer bisher fehlenden Ermessensentscheidung im Sinne eines Ermessennichtgebrauchs (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.9.2006 - 1 C 20.08 -, NVwZ 2007, 470, 471 [BVerwG 05.09.2006 - 1 C-(3) 20/05]; BVerwG, Urt. v. 5.5.1998 - 1 C 17.97 -, BVerwGE 106, 351, 365) liegt zwar nicht vor. Denn die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16. Juli 2008 in Anwendung der prozessualen Möglichkeit des § 114 Satz 2 VwGO verfahrensbegleitend lediglich defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 13.1.2009 - 1 C 2.08 -, NVwZ 2009, 727, 729 m.w.N.), nicht aber ihr Ermessen nachträglich erstmals ausgeübt.

22

Soweit die Beklagte es allerdings unterlassen hat, die Strafurteile und ggf. die Strafakten heranzuziehen und auszuwerten und so den entscheidungserheblichen Sachverhalt vollständig zu ermitteln, liegt ein beachtlicher Ermessensfehlgebrauch in Form eines Ermessensdefizits vor (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. 1352 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 40 Rn. 62 jeweils m.w.N.). Soweit die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung nach den Ausführungen zu 2. einen unverhältnismäßigen und damit nicht gerechtfertigten Eingriff in das Recht des Klägers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit bewirkt, liegt hier zudem darüber hinaus eine Ermessensüberschreitung vor (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn. 64 f.). Beide Ermessensfehler haben sich auf das Ergebnis der von der Beklagten getroffenen Entscheidung ausgewirkt und sind daher erheblich.