Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.03.2011, Az.: 11 ME 551/10
Einem mit seiner als Flüchtling aufenthaltsberechtigten Mutter in Deutschland in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kleinkind ist die Begleitung seines Vaters in dessen Heimatland nicht zumutbar; Eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung macht dem Kind die Begleitung seines von Abschiebung bedrohten ausländischen Vaters in dessen Heimatland nicht in jedem Fall zumutbar
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.03.2011
- Aktenzeichen
- 11 ME 551/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 16899
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0302.11ME551.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Lüneburg - 02.12.2010 - AZ: 2 B 81/10
Rechtsgrundlagen
- § 25 Abs. 2 AufenthG
- § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG
- Art. 6 Abs. 1 GG
Fundstellen
- AUAS 2011, 86-87
- DVBl 2011, 983
- NVwZ-RR 2011, 707
Amtlicher Leitsatz
Besteht zwischen dem von der Abschiebung bedrohten Ausländer und seinem fünfzehn Monate alten Kind eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützenswerte Vater-Kind-Beziehung, ist es dem Kind nicht zuzumuten, seinen Vater in dessen Heimatland zu begleiten, wenn es in Deutschland zugleich in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter lebt, die als Flüchtling anerkannt ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt.
Gründe
Dem Antragsteller ist nach §§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er die entsprechenden wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt und seine Beschwerde aus den nachfolgenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung seines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Ziffer 1 des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet.
Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, ergibt sich, dass der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch nach § 123 Abs. 1 VwGO glaubhaft gemacht hat.
Dem Antragsteller steht voraussichtlich ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Zwar hat das Verwaltungsgericht zu Recht entschieden, dass der Antragsteller eine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss, denen der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht überzeugend entgegen getreten ist.
Eine Abschiebung des Antragstellers dürfte hier aber im Hinblick auf die unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG fallenden familiären Beziehungen zu seinem im Dezember 2009 geborenen, im Bundesgebiet lebenden Sohn rechtlich unmöglich sein. Dieser ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG und lebt bei seiner Mutter, der seit September 2010 getrennt lebenden türkischen Ehefrau des Antragstellers, die als Flüchtling anerkannt ist und über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verfügt.
Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft. Bei der Frage, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft tatsächlich gelebt wird, verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen. Maßgeblich ist vielmehr einerseits, ob die Eltern im Rahmen des individuell Möglichen die ihnen zugemessene Elternverantwortung wahrnehmen und eine Eltern-Kind-Gemeinschaft tatsächlich gelebt wird und andererseits welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. zum Vorstehenden: BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387; BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl. 2006, 247).
Der Antragsteller hat mit seiner Beschwerde glaubhaft gemacht, dass zwischen ihm und seinem Sohn - jedenfalls inzwischen wieder - eine solche tatsächliche Vater-Kind-Beziehung besteht. Dass der Antragsteller und seine Ehefrau sich im September 2010 getrennt haben und er seitdem auch nicht mehr mit dem gemeinsamen Sohn zusammenlebt, steht dem nicht entgegen. Bei Umgangskontakten unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung typischerweise deutlich von dem Verhältnis des Kindes zur täglichen Betreuungsperson. Anders als noch im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung kann derzeit nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass die Trennung zu einem dauerhaften Abbruch des Umgangs mit seinem Sohn geführt hat. Zwar war dem Antragsteller auf Antrag seiner Ehefrau mit Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 8. Oktober 2010 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn entzogen und auf die Mutter übertragen worden. Dieser Beschluss ist allerdings auf seinen Antrag hin mit Beschluss vom 10. Dezember 2010 wieder aufgehoben worden. Der Antragsteller hat glaubhaft vorgetragen, dass er seitdem wieder regelmäßig mit seinem Sohn Kontakt hat. Dass seine Ehefrau mit dem Sohn im Dezember 2010 nach A. umgezogen ist, steht dem nicht entgegen. Denn der Umgang soll bisher überwiegend bei den wie der Antragsteller in B. lebenden Schwiegereltern des Antragstellers stattgefunden haben, bei denen sich die Ehefrau und der Sohn nach wie vor häufig aufhalten sollen. Dies hat die Schwiegermutter schriftlich bestätigt und angegeben, dass der Antragsteller seinen Sohn mindestens zweimal in der Woche bei ihnen besuche und auch mit ihm spazieren gehe. Der Antragsteller hat zudem einen weiteren Rechtsanwalt eingeschaltet, der mit dem Jugendamt des Antragsgegners Kontakt aufgenommen hat, um unter dessen Mitwirkung eine einvernehmliche feste Umgangsregelung mit Umgangsterminen in B. oder A. zu erreichen. Nach Mitteilung seines Prozessbevollmächtigten hat die Ehefrau diesem gegenüber am 14. Februar 2011 telefonisch erklärt, dass sie die Übertragung des gemeinsamen Sorgerechts auf sie anstrebe, ihr aber ebenfalls an einem Kontakt des Antragstellers mit ihrem gemeinsamen Sohn gelegen sei und sie daher bereit sei, an einer entsprechenden Umgangsregelung mitzuwirken. Dass der Antragsteller kein echtes persönliches Interesse am Umgang mit seinem Sohn hat und die Nähe zu ihm lediglich wegen der drohenden Aufenthaltsbeendigung sucht, kann vor diesem Hintergrund nicht ohne Weiteres angenommen werden. Dagegen sprechen auch die vorgelegten Fotos des Antragstellers, die dieser nach Angaben seines Prozessbevollmächtigten ausweislich der Dateien zwischen Januar 2010 und Februar 2011 mit seinem Handy aufgenommen hat und die seinen Sohn bzw. ihn mit seinem Sohn zeigen.
Dem Antragsteller und seinem im Bundesgebiet lebenden Sohn ist es auch nicht zuzumuten, ihre tatsächlichen familiären Bindungen durch die Ausreise oder die Abschiebung des Antragstellers kurzfristig zu unterbrechen. Denn der derzeit noch nicht einmal fünfzehn Monate alte Sohn des Antragstellers wird einen nur vorübergehenden Charakter der räumlichen Trennung nicht begreifen, sondern diese rasch als endgültigen Verlust erfahren. Hiermit verbundene nachteilige Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes lassen eine auch nur kurzfristige Trennung von seinem Vater unzumutbar erscheinen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, a.a.O.).
Der damit eröffnete Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG begründet aber grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, sondern verpflichtet die Ausländerbehörde nur, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.2007 - 2 BvR 2483/06 -, InfAuslR 2007, 336; BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a., - BVerfGE 76, 1). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich desArt. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es dem anderen Familienangehörigen, hier dem Sohn des Antragstellers, zumutbar ist, diesen in sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 - BVerwG 1 C 3.08 -, NVwZ 2009, 1239).
In Anwendung dieser Grundsätze ist es dem Sohn des Antragstellers nicht zuzumuten, seinen Vater in sein Heimatland zu begleiten. Denn er lebt in Deutschland in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter und kann die gleichermaßen von Art. 6 GG geschützte Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter auch nur in Deutschland fortführen, da diese als Flüchtling anerkannt und ihr deshalb eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt worden ist.
Nach alledem spricht derzeit Überwiegendes für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs. Sollte der Antragsgegner in der Zukunft über Erkenntnisse verfügen, die eine andere Einschätzung rechtfertigen, steht es ihm frei, entweder im Hauptsacheverfahren, in dem der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt, entsprechend vorzutragen und/oder in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO ein Abänderungsverfahren anzustrengen.