Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.03.2011, Az.: 7 ME 97/10
Eigenständige Ermessensentscheidung des Gerichts im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); Bindung des Gerichts an die von der Behörde angeführten Gründe zur Anordnung der sofortigen Vollziehung; Anforderungen an die behördliche Darlegung des prozessrechtlichen Ausnahmecharakters einer Anordnung der sofortigen Vollziehung in den von der Behörde angeführten Gründen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.03.2011
- Aktenzeichen
- 7 ME 97/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 12920
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0328.7ME97.10.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 4 Abs. 3 BBodSchG
- § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO
- § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO
- § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
- § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO
Fundstellen
- DVBl 2011, 635-637
- DÖV 2011, 536
Amtlicher Leitsatz
Im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO trifft das Gericht eine eigenständige Ermessensentscheidung. Es ist dabei nicht an die von der Behörde angeführten Gründe gebunden, aus denen sich allerdings der prozessrechtliche Ausnahmecharakter der Sofortvollzugsanordnung ergeben muss (im Anschluss an Nds.OVG, B. v. 05.03.2008 - 7 MS 115/07 -, NVwZ-RR 2008, 686).
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen flächendeckende Bodensanierungsmaßnahmen auf dem im Eigentum der Beigeladenen stehenden Gelände des ehemaligen Gaswerks Glocksee, das bis zum Beginn der Maßnahmen als gewässerbegleitende Grünanlage genutzt wurde. Es bestehen dort Schadstoffbelastungen u.a. durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Benzole, Toluole, Xylole und Cyanide. Der von der Beigeladenen aufgestellte und von der Antragsgegnerin am 11. Mai 2010 für verbindlich erklärte Sanierungsplan sieht vor, den verunreinigten Boden so weit vollständig abzutragen, wie es für eine noch nicht planfestgestellte Hochwasserschutzmaßnahme erforderlich ist, die sog. Hotspots vollständig auszukoffern und - je nach den Ergebnissen eines Monitorings - eine Grundwassersicherung durchzuführen.
Die Antragstellerin ist Miteigentümerin eines mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks, das etwa 200 m von der südöstlichen Ecke des zu sanierenden Geländes entfernt liegt. Der Schwerpunkt der Sanierung liegt im Nordwesten des Geländes und damit vom Grundstück der Antragstellerin aus gesehen "hinter" dem Unabhängigen Jugendzentrum. Sie hat am 29. Oktober 2010 vorläufigen Rechtsschutz beantragt, um eine Bodensanierung vor Abschluss des wasserrechtlichen Planfeststellungsverfahrens zum Hochwasserschutz zu verhindern. Eine flächenhafte Sanierung des Gaswerkgeländes sei nicht erforderlich. Würden nur die Hotspots saniert, könnten die meisten Bäume und damit der Charakter des Grünzuges erhalten bleiben. Die vorgesehenen Ersatzpflanzungen seien nicht ausreichend. Es bestehe die Gefahr, dass die leichtflüchtigen Schadstoffe im Zuge der Sanierung auf ihr Grundstück gelangten und ihr Eigentum und ihre Gesundheit beeinträchtigten.
Der am 05. November 2010 eingelegte Widerspruch der Antragstellerin gegen den für verbindlich erklärten Sanierungsplan ist noch nicht beschieden.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt, weil der Antragstellerin die Widerspruchsbefugnis fehle, deswegen komme ihrem Widerspruch eine aufschiebende Wirkung nicht zu. Sie habe nicht dargetan, dass die im Sanierungsplan verbindlich festgelegten Schutzmaßnahmen - zumal angesichts der großen Entfernung zwischen dem Sanierungsbereich und ihrem Grundstück - nicht ausreichend seien.
Während des Beschwerdeverfahrens hat die Antragsgegnerin am 07. Dezember 2011 die sofortige Vollziehung der Verbindlichkeitserklärung angeordnet. Die Antragsgegnerin hat daraufhin ihren Rechtsschutzantrag umgestellt und beantragt nunmehr (sinngemäß),
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 05. November 2010 gegen die Verbindlichkeitserklärung des Sanierungsplans zum Bauvorhaben Hochwasserschutzmaßnahme im Bereich ehemaliges Gaswerk Ihme / Gaswerk Glocksee vom 11. Mai 2010 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen,
und treten dem Vorbringen der Antragstellerin entgegen.
II.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 15. November 2010 bleibt ohne Erfolg.
Nach summarischer Prüfung ist zu erwarten, dass der Widerspruch der Antragstellerin ohne Erfolg bleiben wird. Zudem überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin und der Beigeladenen an der Sanierung der festgestellten Bodenverunreinigung das Interesse der Antragstellerin am unveränderten Erhalt ihres Wohnumfeldes.
1.
Der Senat hält allerdings den Widerspruch der Antragstellerin für zulässig. Der für verbindlich erklärte Sanierungsplan enthält Regelungen, die auch dem Schutz der Nachbarschaft dienen (Geruchsminimierung, Schutz gegen Baulärm, Maßnahmen zur Vermeidung von Verwehungen von Schadstoffen usw., vgl. S. 6 des angefochtenen Beschlusses).
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass § 4 Abs. 3 BBodSchG auch dem Schutz des Einzelnen dient, soweit Individualrechtsgüter wie Gesundheit und Eigentum betroffen sind. Das Grundstück der Antragstellerin liegt etwa 300 m Luftlinie von einem der zu sanierenden Hotspots entfernt, so dass es nicht ausgeschlossen scheint, dass durch § 4 Abs. 3 BBodSchG geschützte subjektive Rechte der Antragstellerin verletzt sein könnten (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1987 - BVerwG 4 C 12.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 72 = NJW 1988, 1228). Ob angesichts der Vielzahl der Schutzmaßnahmen und des eher als pauschal zu bezeichnenden Vortrags der Antragstellerin deren Rechte verletzt sind, ist eine Frage der Begründetheit.
2.
Die Beschwerde ist aber unbegründet, es besteht kein Anlass, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherzustellen.
2.1
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung als solche ist nicht zu beanstanden. In Ausfüllung des Begründungserfordernisses gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hat die Antragsgegnerin in der Anordnung vom 07. Dezember 2010 dargelegt, weshalb dem Interesse an der sofortigen Vollziehung gegenüber dem Aufschubinteresse von Anwohnern der Vorrang eingeräumt wird. Sie hat dazu auf die im Boden befindlichen Schadstoffe verwiesen, die zu einer Auswaschung und Infiltration das Grundwasser verunreinigen und in die Ihme gelangen. Danach liege es im öffentlichen Interesse, zeitnah Maßnahmen zur Sanierung zu ergreifen. Hinzu komme das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen, die bereits in Auftrag gegebenen Sanierungsmaßnahmen ohne Verzögerung ausführen lassen zu können. Es bestünden andernfalls Schadensersatz- oder Vergütungsansprüche, zudem seien die Arbeiten wegen der zum teil leichtflüchtigen Stoffe vorzugsweise in der Winterzeit durchzuführen. Die Sanierungsmaßnahmen beträfen ein Gebiet, in dem Hochwasserschutzmaßnahmen zügig vorangetrieben werden sollen. Da die Möglichkeit von Schadstoffimmissionen bei der Sanierungsplanung berücksichtigt und durch Vorkehrungen ausgeschlossen sei, müssten das Interesse von Anwohnern und Bürgern an der Zurückstellung der Arbeiten bis zum Abschluss gerichtlicher Klärung zurückstehen. Damit wird deutlich, dass sich die Antragsgegnerin des prozessrechtlichen Ausnahmecharakters der sofortigen Vollziehung bewusst war. Einer weitergehenden gerichtlichen Prüfung einer "Dringlichkeit" der Maßnahmen bedarf es an dieser Stelle nicht (vgl. Nds.OVG, Beschl. v. 05.03.2008 - 7 MS 115/07 -, NVwZ-RR 2008, 686).
Ob das überwiegende Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verbindlichkeitserklärung, § 80 Abs. 2 S. 2 Nr. 4, Abs. 5 S. 1 VwGO, auch inhaltlich das Aufschubinteresse der Antragstellerin überwiegt, ist Gegenstand einer eigenständigen gerichtlichen Ermessensentscheidung. Das Gericht ist dabei nicht an die von der Behörde angeführten Gründe gebunden. Gerade bei dreiseitigen Rechtsverhältnissen ist Maßstab vorrangig die Erfolgsaussicht des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs (st. Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Nds.OVG, Beschl. v. 05.03.2008 - 7 MS 115/07 -, a.a.O., m.w.N.; Beschl. v. 06.01.2006 - 7 MS 187/04 -, BA S. 6; Beschl. v. 28.12.2006 - 7 MS 216/05 -, [...], Rn. 36). Denn da der angefochtene Verwaltungsakt dem Genehmigungsinhaber eine Rechtsposition einräumt, die ihm ein Dritter streitig macht, stehen sich in Fällen dieser Art nicht allein öffentliches Vollzugsinteresse und das private Interesse an einer Beibehaltung des Status quo gegenüber. Vielmehr muss die vorläufige gerichtliche Regelung auch das Interesse der durch den Verwaltungsakt Begünstigten - hier der Beigeladenen - an der Beibehaltung der ihr eingeräumten Rechtsposition in den Blick nehmen. Dieses Interesse ist grundsätzlich nicht weniger gewichtig als das Interesse der Drittanfechtenden. Die Abwägung, wie die vorläufige Regelung auf der Grundlage von § 80 Abs. 5 S.1 VwGO ausfällt, wird daher interessengerecht vor allem von der erkennbaren Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs gesteuert. Gegenstand der gerichtlichen Prüfung nach § 42 Abs. 2 VwGO sind dafür nur die Individualrechte der Antragstellerin. Als jemand, dessen Grundeigentum durch das Vorhaben nicht (unmittelbar) in Anspruch genommen wird, kann sie eine gleichsam objektiv-rechtliche Prüfung nicht verlangen (vgl. zum Vorstehenden Nds.OVG, Beschl. v. 05.03.2008 - 7 MS 115/07 -, a.a.O.)
Aus diesem Grund sind die umfänglichen Ausführungen unerheblich, mit denen die Antragstellerin zu begründen sucht, weshalb die Sanierung auf einer noch größeren, weiter nach Osten sich erstreckenden Fläche auszudehnen sei. Es ist nicht erkennbar, inwieweit eine solche Ausdehnung der Sanierung geeignet sein könnte, die von ihr schon durch die für verbindlich erklärte Sanierung befürchteten Beeinträchtigungen zu vermindern. Im Übrigen ist nicht zu beanstanden, wenn die Beigeladene ihre Sanierungsbemühungen zunächst auf die Flächen konzentriert, auf denen sie Veränderungen plant. Ob eine großflächige Sanierung sinnvoller wäre, kann die Antragstellerin nicht zur gerichtlichen Prüfung stellen, da dies weder Gegenstand der angefochtenen Entscheidung ist noch die Antragstellerin geltend macht, von den nicht sanierten Flächen ginge eine sie unmittelbar betreffende Gefahr aus. Ihr Grundstück liegt mindestens 10 cm höher als der Altlastenstandort und nicht in dessen Grundwasserabstrom (vgl. Sanierungsplan Anlage 12).
2.2
Als verletztes Recht führt die Antragstellerin ihr Eigentumsrecht an dem Grundstück B. str. 1 an. Die Sanierungsmaßnahme nimmt das Grundstück aber nicht in Anspruch. Ein von der Antragstellerin befürchteter Wertverlust ist entgegen ihrer Ansicht keineswegs "offensichtlich", zumal sie diesen nicht substantiiert hat. Ein Anspruch auf die Erhaltung einer als günstig empfundenen Wohnlage besteht grundsätzlich ebenso wenig wie auf den unveränderten Erhalt eines von ihr genutzten Naherholungsgebiets. Hier kommt hinzu, dass die direkte Umgebung des Grundstücks der Antragstellerin nicht im Sanierungsgebiet liegt und sie wegen des 2-stöckigen Gebäuderiegels, in dem sich das Unabhängige Jugendzentrum befindet, und des auf Satellitenbildern erkennbaren Baumbewuchses zwischen ihrem Grundstück und dem Sanierungsgebiet Mühe haben wird, von ihrem Haus einen direkten Ausblick auf die Sanierungsarbeiten zu bekommen.
2.3
Soweit die Antragstellerin geltend macht, die im Rahmen der Sanierung freigesetzten Emissionen könnten sie in ihrer körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigen, gibt es dafür keinerlei Anhaltspunkte. Der Sanierungsplan sieht - worauf auch das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat - verschiedene Vorkehrungen vor, die eine Verbreitung der Schadstoffe aus dem abzutragenden Boden verhindern. Weshalb die schon aus Gründen des Arbeitsschutzes notwendigen Maßnahmen nicht geeignet sein sollen, die mehr als 200 m entfernt wohnende Antragstellerin ebenfalls zu schützen, erschließt sich dem Senat nicht. Hierzu fehlt es an einem substantiierten Vortrag seitens der Antragstellerin, aus welchem Grund die nicht konkret angegriffenen sachverständigen Äußerungen zu überprüfen sein sollen. Das bisherige pauschale Vorbringen ist nicht geeignet, Nachermittlungen seitens der Antragsgegnerin als Widerspruchsbehörde für notwendig zu halten. Das erstinstanzliche Vorbringen, das Entfernen der Bäume führe auf ihrem Grundstück zu höheren Lärmimmissionen, hat die Antragstellerin in der Beschwerde richtigerweise nicht weiterverfolgt, da Bäume nicht nennenswert lärmmindernd wirken.
2.4
Der Sanierungsplan beeinträchtigt nicht die Rechte der Antragstellerin in einem etwaigen wasserrechtlichen Planfeststellungsverfahren zum Hochwasserschutz. Die mit der Sanierung geplante Geländemodellierung mag mit Zielen des Hochwasserschutzes einhergehen, einen Anspruch auf Unterlassen einer solchen (oder anderen) Geländemodellierung wird die Antragstellerin nach den Erfahrungen des mit Planfeststellungsverfahren seit langem vertrauten Senat aller Voraussicht nach nicht durchsetzen können. Zudem hat die Antragsgegnerin auf die Nebenbestimmung in der angefochtenen Verbindlichkeitserklärung hingewiesen, wonach in Zukunft nicht planfestgestellte Abgrabungen zurückzubauen sind (vgl. Nebenbestimmung 2.6). Ihre Belange im wasserrechtlichen Planfeststellungsverfahren (die weiter zu fassen sind als die in diesem Verfahren ausschließlich zu prüfenden Rechte) kann sie unabhängig von der Bodensanierung geltend machen.
2.5
Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragstellerin nicht nur wegen mangelnder Erfolgsaussicht ihres Rechtsbehelfs, sondern auch im Hinblick auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen vorläufiger Rechtsschutz zu versagen ist. Die Sanierungsmaßnahmen sollen etwa 9 Monate dauern. Selbst wenn die Antragstellerin in dieser Zeit Belästigungen hinnehmen müsste, wiegt das Interesse der Allgemeinheit an der Sanierung des Bodens durch Entfernen des mit Umweltgiften belasteten Materials schwerer. Hinzu kommt das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen. Dem kann die Antragstellerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass jene mit der Auftragsvergabe hätte warten können. Die Beigeladene konnte vor der Auftragsvergabe zutreffend davon ausgehen, dass hinsichtlich der Gesundheitsinteressen der im Sanierungsgebiet Beschäftigten und damit zugleich auch der Anwohner genügend Vorsorge getroffen ist und Rechte Dritter mithin nicht beeinträchtigt werden.