Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.07.2018, Az.: 13 LB 44/17

Abwägung; Ausweisung; Ausweisungsanlass; Ausweisungsinteresse; Berufung; differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab; Drogendelikte; ernsthafte und konkrete Gefahr; Grundinteresse; Prognose; Wiederholungsgefahr

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.07.2018
Aktenzeichen
13 LB 44/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74307
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.02.2015 - AZ: 1 A 127/14

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen - Einzelrichterin der 1. Kammer - vom 16. Februar 2015 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.

Der Kläger wurde 1977 als ältester Sohn der türkischen Staatsangehörigen E. und F., die im Bundesgebiet leben und als Produktionshelferin und KfZ-Meister erwerbstätig sind, in G. geboren. Abgesehen von einer kurzen Phase während der Grundschulzeit ist er im Bundesgebiet aufgewachsen und hat die türkische Staatsangehörigkeit inne. Am 7. Oktober 1993 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG seit dem 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgilt.

Nach Erreichen des Hauptschulabschlusses absolvierte er eine Ausbildung zum Elektroinstallateur, die er aber nicht erfolgreich abschloss. In der Folge war er ab 1997 bis 2007 in verschiedenen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie in Vollzeit erwerbstätig. Ab Anfang 2008 war er arbeitssuchend und bezog öffentliche Sozialleistungen. Von März bis Juli 2011 war der Kläger in einem Betrieb der Elektroindustrie als Helfer in Vollzeit erwerbstätig und von September 2011 bis März 2012 in einem Baubetrieb geringfügig beschäftigt. Ab Juni 2015 war er zunächst bei einem Personaldienstleister als Zeitarbeiter tätig und konnte hierüber am 1. Januar 2016 ein für ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis als Vollzeitbeschäftigter bei der H. in G. aufnehmen. Dieses Arbeitsverhältnis wurde nicht verlängert. Der Kläger nahm jedoch am 1. Januar 2017 bei der I. in G. ein neues Vollzeitarbeitsverhältnis auf. Vom 4. April 2017 bis zum 8. März 2018 bezog der Kläger Arbeitslosengeld I und in der Folge kurzzeitig Leistungen nachdem SGB II. Am 7. Mai 2018 nahm er bei der J. in G. eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung auf.

Im August 1994 schloss der Kläger in der Türkei mit Frau K. die Ehe. Nach seinen Angaben war es eine durch seine Eltern vermittelte Zwangsheirat. Am 23. November 1997 wurde seine Tochter, die türkische Staatsangehörige L., geboren, die nach der Trennung und der Scheidung der Kindeseltern im Jahr 2001 bei der Mutter aufgewachsen ist, aber Kontakt zu ihrem Vater hält.

Strafrechtliche Verfehlungen des Klägers sind wiederholt gerichtlich geahndet worden:

1. AG Pforzheim, Urteil: Geldstrafe von 35 Tagessätzen wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen

2. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 50 Tagessätzen wegen Betrugs in zwei Fällen

3. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln

4. AG Pforzheim, Strafbefehl: Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen wegen Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Nötigung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz einer verbotenen Waffe

5. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 40 Tagessätzen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

6. AG Pforzheim, Strafbefehl: Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit Missbrauch von Ausweispapieren, Strafaussetzung zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren

7. AG Kassel, Strafbefehl: Geldstrafe von 60 Tagessätzen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

8. AG Stuttgart, Urteil: Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung; Strafaussetzung zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von 2 Jahren

9. AG Stuttgart, Urteil: Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen

10. Landgericht Göttingen, Urteil: Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten wegen unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen einer Waffe; Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Der Kläger befand sich ab dem 21. Oktober 2009 für sechs Monate in Untersuchungshaft. Vom 26. April 2010 bis zum 24. September 2010 unterzog er sich erfolgreich einer stationären Drogenentwöhnungsbehandlung. Am 29. November 2012 wurde der Kläger erneut in Gewahrsam und aufgrund Beschlusses des Amtsgerichts in der JVA M. in Untersuchungshaft genommen, deren Fortdauer durch Beschluss des Landgerichts Göttingen bis zur Hauptverhandlung angeordnet wurde. Wegen schwerwiegender Störungen der Anstaltsordnung wurde er im April 2013 in die JVA N. sicherheitsverlegt und dort zunächst auf der Sicherheitsstation untergebracht. Aufgrund Anordnung im Urteil des Landgerichts Göttingen befand sich der Kläger ab dem 29. Juli 2013 zur Entziehung nach § 64 des Strafgesetzbuchs im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen in O.. Die erhobenen Suchtmittelkontrollen fielen durchweg negativ aus. Da der Kläger der Therapie nach § 64 des Strafgesetzbuchs ablehnend gegenüberstand und gegen Regeln verstieß, erklärte das Landgericht Göttingen mit Beschluss die angeordnete Unterbringung für erledigt, da die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs nicht mehr vorlägen, und ordnete den Vollzug der Freiheitsstrafe an. Aus in der Person des Klägers liegenden Gründen bestehe nicht mehr die konkrete Aussicht, ihn durch die Behandlung zu heilen, vor einem Rückfall zu bewahren und von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Angesichts der bis dahin nicht eingetretenen Suchtmittelrückfälligkeit sei es aber durchaus vorstellbar, nach teilweise Verbüßung der Strafe einen neuen Therapieanlauf, dann unter den Bedingungen der §§ 35, 36 des Betäubungsmittelgesetzes zu unternehmen. Nach Rechtskraft dieser Entscheidung wurde der Kläger am 7. Februar 2014 zur Verbüßung seiner Strafhaft in der JVA M. verbracht. Mit Beschluss stimmte das Landgericht Göttingen der Zurückstellung der Vollstreckung des verbleibenden Restes der Freiheitsstrafen zwecks Durchführung einer Drogenentzugstherapie in der Therapieeinrichtung P. zu. Nachdem die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Verfügung und die Staatsanwaltschaft Göttingen mit Verfügung diese Vollstreckung zurückgestellt hatten, wurde der Kläger am 22. Januar 2015 aus der JVA M. entlassen und nahm am selben Tag die stationäre Drogenentzugstherapie in der Therapieeinrichtung Q. auf. Dort führte er die Adaption erfolgreich durch und wurde bereits am 22. Mai 2015 entlassen, nachdem die ursprünglich vorgesehene Aufenthaltsdauer aufgrund der guten Kooperationsbereitschaft und Mitarbeit des Klägers verkürzt worden war. Mit Beschluss vom 9. Juli 2015 setze das Amtsgericht Stuttgart die Vollstreckung des Restes der Strafe aus dem Urteil vom 26. November 2009 zur Bewährung aus. Mit Beschluss vom 20. Oktober 2015 setzte das Landgericht Göttingen die Vollstreckung des Restes der Strafe aus dem Urteil zur Bewährung aus.

Nach Anhörung wies der Beklagte mit Bescheid vom 27. Juni 2014 den Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus, ordnete seine Abschiebung aus der Haft in die Türkei an und befristete die Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise. Der Kläger genieße als Assoziationsberechtigter zwar erhöhten Ausweisungsschutz, weshalb ihm gegenüber nur eine Ermessensausweisung in Betracht komme. Die Voraussetzungen für eine solche Ermessensausweisung lägen aber vor. Das persönliche Verhalten des Klägers stelle unter Berücksichtigung der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, und seine Ausweisung sei zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich. Er habe gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt und sei wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt worden. Darüber hinaus sei er nach polizeilichen Ermittlungen seit 2010 festes Mitglied einer der Hauptgruppen in G. gewesen, die mit illegalen Betäubungsmitteln gehandelt habe. Auch während seines Maßregelvollzugs habe sich der Verdacht erhärtet, dass er dort mit illegalen Drogen gehandelt habe. Darüber hinaus sei er mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden und habe auch während seiner Haft ein gefährliches Aggressionspotential gezeigt. Er habe sich weder durch seine Verurteilungen noch durch eine Verwarnung der Ausländerbehörde davon abhalten lassen, weiterhin straffällig zu werden. Auch Strafaussetzungen zur Bewährung habe er nicht zu einem straffreien Leben genutzt. Es bestehe deshalb die Gefahr, dass er nach seiner Haftentlassung wieder straffällig werde. Er erfülle auch einen Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 4 des Aufenthaltsgesetzes a.F., da er nicht bereit sei, sich einer Drogenentzugstherapie zu unterziehen. Soweit er Kontakt mit der Therapieeinrichtung Q. in R. aufgenommen habe, reiche dies als Beleg für seine ernsthafte Rehabilitationsbereitschaft nicht aus. Im Rahmen der Interessenabwägung müsse sein privates Interesse an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zurücktreten. Dies gelte auch mit Blick darauf, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland und eine hier lebende Tochter habe. Zu seinen Lasten sei zu berücksichtigen, dass er sich in der Vergangenheit nicht ausreichend um eine dauerhafte Erwerbstätigkeit bemüht habe. Auch in der JVA M. habe er keinerlei Interesse an einer beruflichen Qualifizierung gezeigt. Es bestehe auch wenig Hoffnung, dass nach der Haftentlassung seine Familie eine stabilisierende Wirkung auf ihn haben könnte. Dagegen spreche, dass er sich 2010 nach Verbüßung seiner ersten Freiheitsstrafe der örtlichen Drogenszene in G. angeschlossen habe.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 23. Juli 2014 vor dem Verwaltungsgericht Göttingen Klage erhoben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung hat der Kläger geltend gemacht, seine Straftaten wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz seien allesamt auf seine krankhafte und behandlungsbedürftige Betäubungsmittelabhängigkeit zurückzuführen. Er sei nicht Mitglied einer Gruppierung in G. gewesen, die illegal mit Betäubungsmitteln gehandelt habe. Einen gewerbsmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln in Gewinnerzielungsabsicht habe er nicht geführt. Etwas Anderes ergebe sich entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht aus polizeilichen Ermittlungsergebnissen in seinem letzten Strafverfahren. Er habe auch während seines Maßregelvollzugs nicht mit illegalen Drogen gehandelt. Die Ergebnisse der Telekommunikationsüberwachung belegten vielmehr, dass er die Betäubungsmittel nur zum Eigenverbrauch beschafft habe. In der Haft habe er keine Suchtmittelrückfälle erlitten und seinen Betäubungsmittelkonsum aufgegeben. Der Beklagte verkenne seine ernsthafte Bereitschaft, sich einer Drogenentzugstherapie zu stellen. Diese Bereitschaft sei ärztlich attestiert. Dem stehe nicht entgegen, dass er eine Unterbringung und Behandlung im Maßregelvollzugszentrum abgelehnt habe. Denn stattdessen habe er sich aktiv um eine stationäre Maßnahme nach §§ 35, 36 des Betäubungsmittelgesetzes in der Therapieeinrichtung Q. in R. bemüht. Es bestehe auch nicht die Gefahr, dass er zukünftig erneut Straftaten begehen werde. Der Beklagte habe den stabilisierenden Einfluss seines familiären Umfelds nicht ausreichend gewürdigt. Er werde nach seiner Haftentlassung zu seinen in Pforzheim lebenden Eltern ziehen. Seine Mutter sei nur wegen seiner derzeitigen Inhaftierung nach G. zurückgezogen, um mit ihm regelmäßig Kontakt zu halten. Auch seine Erwerbsaussichten nach der Haftentlassung seien positiv zu bewerten. Ihm liege bereits jetzt ein verbindliches Beschäftigungsangebot der S. in T. vor.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 2014 aufzuheben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat seinen Bescheid verteidigt und geltend gemacht, dass das Verhalten des Klägers in der Strafhaft seine Prognose einer akuten Wiederholungsgefahr bestätige. Der Kläger sei ausweislich der polizeilichen Ermittlungsakten und der Strafakten ein "operierendes Mitglied der Drogenhandelsszene in G. " und sowohl "Drogenkonsument als auch Drogenhändler". Er habe auch seine Suchterkrankung nicht überwunden und die offenbar beabsichtigte stationäre Drogenentzugstherapie noch nicht angetreten. Es sei auch zweifelhaft, dass er eine solche Therapie erfolgreich absolvieren werde. Die positiven Tendenzen in der Entwicklung des Klägers gingen jedenfalls nicht so weit, dass sie das durch die erheblichen strafrechtlichen Verfehlungen begründete Ausweisungsinteresse überwögen.

Im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit rechtskräftig gewordenem Beschluss vom 26. November 2014 – 1 B 128/14 - die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung im Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 2014 wiederhergestellt und gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet.

Im Hauptsacheverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 11. Februar 2015 mehrere Beweisanträge des Beklagten auf Vernehmung von Zeugen und auf Beiziehung von Akten abgelehnt und mit Urteil vom 16. Februar 2015 den Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 2014 aufgehoben. Der Bescheid sei gemessen an den rechtlichen Voraussetzungen für die Ausweisung assoziationsberechtigter Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig. Das persönliche Verhalten des Klägers stelle keine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit überwiege das private Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet nicht. Der Beklagte sei bei seiner Entscheidung zum Teil von einem falschen Sachverhalt ausgegangen und habe im Übrigen zu Unrecht die erforderliche qualifizierte Gefährdung durch den Kläger angenommen.

Der Beklagte lege seiner Entscheidung fälschlicherweise zugrunde, dass der Kläger seit 2010 in G. gewerbsmäßig mit illegalen Betäubungsmitteln gehandelt habe. Dies sei bereits in zeitlicher Hinsicht nicht nachvollziehbar, weil der Kläger sich bis Ende Februar 2011 in einer stationären Drogenentzugstherapie befunden habe. Der Beklagte stütze sich auf Ermittlungsergebnisse aus dem letzten Strafverfahren des Klägers wegen des Verdachts des illegalen Drogenhandels in nicht geringen Mengen. Aus den beigezogenen Strafakten lasse sich aber nicht sicher entnehmen, dass der Kläger in G. gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt habe. Dies gelte auch für die Protokolle einer bei ihm ab September 2012 durchgeführten Telefonüberwachung. Die protokollierten, konspirativ geführten Telefongespräche ließen lediglich die Vermutung zu, dass der Kläger mit illegalen Drogen gehandelt haben könnte. Wegen dieses Sachverhalts sei der Kläger aber schon gar nicht angeklagt worden. Der Anklagevorwurf im Verfahren vor dem Landgericht Göttingen betreffe einen einzelnen Vorfall vom 29. November 2012. An diesem Tag habe der Kläger unter polizeilicher Beobachtung 19,86g Kokaingemisch erworben. Er sei deshalb zwar wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt worden. Die Verurteilung sei aber nur wegen unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erfolgt. Das Landgericht Göttingen habe es nicht ausschließen können, dass sich der Kläger die Betäubungsmittel ausschließlich zum Eigenkonsum verschafft habe. Diese Einschätzung sei auch für das Verwaltungsgericht nachvollziehbar, da der seinerzeitige wöchentliche Konsum des Klägers bei 2 bis 3g gelegen habe. Auch die Durchsuchung seiner Wohnung am Tag seiner Festnahme sei hinsichtlich des Anklagevorwurfs des illegalen Betäubungsmittelhandels ergebnislos verlaufen. Vor diesem Hintergrund sei nicht nachvollziehbar, wie der Beklagte im angefochtenen Bescheid zu der Einschätzung gelangt sei, aus "polizeilichen Ermittlungsergebnissen gehe eindeutig hervor, dass der Kläger seit seiner Rückkehr nach G. im Jahr 2010 (?, allenfalls 2011, s.o.) gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt" habe. Soweit er auf einen polizeilichen Vermerk vom 28. August 2012 verweise, belege auch dieser nicht, dass der Kläger gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt habe. Der Vermerk enthalte lediglich vage Informationen eines anonymen Hinweisgebers. Auch der vom Beklagten genannte KOK U. vom Polizeikommissariat G. habe keine weiteren Angaben zum gewerbsmäßigen Drogenhandel des Klägers machen können. Eine negative Gefahrenprognose könne daher nicht darauf gestützt werden, dass der Kläger seit 2010 in G. gewerbsmäßig illegal mit Betäubungsmitteln gehandelt habe.

Der Vorwurf des illegalen Betäubungsmittelhandels sei auch mit Blick auf das Verhalten des Klägers im Maßregelvollzug nicht gerechtfertigt. Es sei offen, ob der Kläger dort Betäubungsmittel an Mitgefangene verkauft habe. Zwar habe sich aus den beim Kläger gefundenen Utensilien ein gewisser, dahingehender Verdacht ergeben. Dieser habe sich aber nicht erhärtet. Die vom Kläger gegebenen Erklärungen seien plausibel und hätten nicht widerlegt werden können. Auch das Landgericht Göttingen habe in seinem Beschluss, mit dem die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt für erledigt erklärt worden sei, nicht den Vorwurf des illegalen Drogenhandels im Maßregelvollzug erhoben. Wegen eines solchen Vorwurfs sei auch kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Der Kläger habe die qualifizierte Gefahrenschwelle auch nicht aufgrund der Verurteilung durch das Amtsgericht Stuttgart wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten erreicht. Insoweit fehle es an der notwendigen Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei wegen seiner eigenen Betäubungsmittelabhängigkeit tatgeneigt gewesen sei. Während seiner Drogenentzugstherapie im Jahr 2010 und seiner anschließenden Drogenabstinenz bis September 2012 sei er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Dies rechtfertige die Prognose, dass er im Fall einer erfolgreichen Drogenentzugstherapie keine (Drogen-)Straftaten mehr begehen werde. Diese Einschätzung finde eine Bestätigung in dem von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen eingeholten kriminal-prognostischen Sachverständigengutachten des Diplom-Psychologen V. vom 20. Dezember 2014. Der Gutachter komme zwar zu dem Ergebnis, dass beim Kläger die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Auftretens der aus der Tat hervorgehenden Gefährlichkeit derzeit noch in einem erheblichen Maße bestehe. Diese Bedenken könnten jedoch ausgeräumt werden, sollte der Kläger die Möglichkeit einer erneuten stationären Drogenentzugstherapie in Anspruch nehmen und den erhofften Nutzen aus dieser Behandlung ziehen. Könnte der Kläger eine dauerhafte Drogenfreiheit erreichen, so wäre für diesen Fall eine prognostische Risikowahrscheinlichkeit erneuter Straftaten im deutlich geringeren Wahrscheinlichkeitsbereich einzustufen. Aus gutachterlicher Sicht werde die Inanspruchnahme der stationären Drogenentzugstherapie in der Therapieeinrichtung
Q. in Göttingen ausdrücklich unterstützt. Da der Kläger sich dieser seit Januar 2015 unterziehe und dort bisher beanstandungsfrei geführt habe, bestätige das Gutachten die Prognose des Gerichts. Auch während seines Aufenthalts in der JVA M. sei er nicht rückfällig geworden.

Der Kläger erreiche auch wegen der begangenen Körperverletzungsdelikte und seines aggressiven Verhaltens in der Haft nicht die geforderte qualifizierte Gefahrenschwelle. Die Taten lägen lange zurück und fielen in die Zeit, als er drogenabhängig gewesen sei. Auch der Gutachter W. habe in seinem psychologischen Gutachten vom 12. April 2013 lediglich ein mittleres Rückfallrisiko angenommen. Die Verhaltensänderung des Klägers nach der Verlegung in die JVA M. bestätige diese Annahme. Dort habe er sich durchweg extrem ruhig und unauffällig gezeigt und beanstandungsfrei sowohl gegenüber Mitgefangenen als Bediensteten verhalten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 12. Januar 2016 - 11 LA 87/15 - wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel zugelassene Berufung des Beklagten. Er hält an seinem Bescheid fest und macht geltend, die vom Verwaltungsgericht getroffene, dem Kläger günstige Prognose einer mangelnden Wiederholungsgefahr sei unter Berücksichtigung aller Umstände unzutreffend. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sei der Kläger Teil eines in G. operierenden Drogenhändlerrings. Er habe die Drogenentzugstherapie im September 2010 abgeschlossen und sei bereits im November 2010 nach G. gezogen. Der seinerzeit die Ermittlungen leitende Polizeibeamte, KOK U., müsse befragt werden, ob Ermittlungsergebnisse vorlägen, die keinen Eingang in die Ermittlungsakten gefunden hätten. Die von dem Kläger begangenen Körperverletzungsdelikte seien von erheblicher Schwere und bestätigten seine in mehreren Gutachten aufgezeigte Persönlichkeitsstruktur. Die Gewaltneigung zeige sich auch in aktuellen Übergriffen auf seine Lebensgefährtin X., wegen derer die Staatsanwaltschaft Göttingen im September 2016 Anklage erhoben habe. Eine weitere Körperverletzung sei im Jahr 2017 zur Anzeige gebracht worden. Auch wenn letztlich beide Verfahren eingestellt worden seien, belegten sie, dass eine Verhaltensänderung auch insoweit nicht eingetreten sei. Der Kläger sei aufgrund seiner leicht reizbaren und aggressiven Persönlichkeitsstruktur weiter gefährlich. Hieran ändere auch das absolvierte Wochenendseminar "Gewaltfreier Umgang mit Konflikten" nichts.

Die vom Kläger begangenen Straftaten seien auch nicht allein als Beschaffungskriminalität zu bewerten. Er sei auch während seiner Drogenabstinenz straffällig geworden. Selbst im Maßregelvollzugszentrum habe er noch mit Drogen gehandelt. Anders seien die bei ihm aufgefundenen Utensilien nicht zu erklären. Die Angabe des Klägers, bei der Namensliste mit Zahlen habe es sich um Pokerspielschulden gehandelt, könne nicht überzeugen. Sein Einwand, aufgrund der seinerzeit bestehenden Betäubungsmittelabhängigkeit bei einem Handel hätte er selbst rückfällig werden müssen, könne durch ein einzuholendes Sachverständigengutachten entkräftet werden. Seine Einlassung, die aufgefundenen Steroide nur selbst verbraucht zu haben, sei nicht glaubwürdig. Es liege vielmehr nahe, dass er mit diesen gehandelt habe. Dies müsse durch Vernehmung der Anstaltsbediensteten und des Anstaltsarztes aufgeklärt werden. Nach den im Vollzug eingeholten Sachverständigengutachten habe der Kläger auch eingeräumt, in weiteren als den angeklagten und abgeurteilten Fällen gewerbsmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln betrieben zu haben. Selbst wenn der Kläger nur im drogenabhängigen Zustand Straftaten begehe, bestehe eine hohe Wiederholungsgefahr. Denn es stehe nicht fest, dass dieser zukünftig drogenfrei leben werde. Hieran bestünden vielmehr erhebliche Zweifel, wenn man sein Verhalten im Maßregelvollzugszentrum berücksichtige. Die während der Haft eingetretene Verhaltensänderung des Klägers sei nach den Feststellungen der JVA M. und des vom Landgericht Göttingen eingeholten kriminalpsychologischen Gutachtens auch rein zweckorientiert. Hierzu könne die Abteilungsleiterin Y. in der JVA, die den Kläger tagtäglich im Vollzug erlebt habe, befragt werden. Dann werde sich zeigen, ob der Kläger seine Grundeinstellung wirklich geändert habe oder ob er weiterhin latent gewaltbereit sei. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass der Kläger unter dem Druck des Strafvollzuges und der Bewährungsauflagen stehe. Schließlich wecke auch sein Erwerbsverhalten nach der Haftentlassung Zweifel an einer straffreien Lebensführung. So habe das Arbeitsverhältnis bei der Firma Z. nur wenige Monate bestanden, und der Kläger sei durchweg negativ durch Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit und Ungenauigkeit aufgefallen und habe sich großspurig und vorlaut verhalten und geltend gemacht, er sei durch seine Schwarzarbeit ausgelastet.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen - Einzelrichterin der 1. Kammer - vom 16. Februar 2015 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Das Verwaltungsgericht habe zutreffend die für eine Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr verneint. Das Landgericht Göttingen habe die Vollstreckung der verhängten Strafen wegen der beabsichtigten Drogenentzugstherapie zurückgestellt und letztlich die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Er habe die stationäre Drogenentzugstherapie in der Therapieeinrichtung Q. im Mai 2015 erfolgreich abgeschlossen und lebe seitdem abstinent. Dies belegten auch die durchgeführten regelmäßigen Suchtmittelkontrollen. Nach dem kriminal-prognostischen Gutachten des Diplom-Psychologen V. liege die Gefahr, wieder straffällig zu werden, nach einer erfolgreichen Drogenentzugstherapie im deutlich geringeren Wahrscheinlichkeitsbereich. Er habe im Arbeitsmarkt wieder Fuß gefasst, pflege enge familiäre Kontakte und sei an seinem Wohnort in einem stabilen Umfeld sozial eingebunden. Eine relevante Wiederholungsgefahr könne entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus nicht aktenkundigen Straftaten betreffend den gewerbsmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln konstruiert werden. Er - der Kläger - habe weder zugegeben, solche weiteren Straftaten begangen zu haben, noch hätten die Ermittlungsbehörden Hinweise auf solche Straftaten gegeben. Daher bedürfe es auch einer Vernehmung der vom Beklagten benannten Zeugen nicht. Entweder hätten die Zeugen bereits mitgeteilt, dass sie über keine weiteren als die aktenkundigen Erkenntnisse verfügten, oder die Beweisanträge des Beklagten seien auf eine bloße Sachverhaltserforschung gerichtet, bei der zudem offen sei, ob die Zeugen zu einer solchen überhaupt beitragen könnten. Der Beklagte zeige einen "ausufernden Belastungseifer".

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 2018 den Bewährungshelfer Herrn AA. als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung (Ziffer 1 des Bescheids v. 27.6.2014), der Abschiebungsanordnung (Ziffer 2 des Bescheids v. 27.6.2014) sowie der Befristungsentscheidungen hinsichtlich der Wirkungen der Ausweisung und einer etwaigen Abschiebung (Ziffer 4 des Bescheids v. 27.6.2014) ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 281 jeweils m.w.N.). Eine andere Betrachtung ist auch wegen des assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbots aus Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 - ARB 1/80 - nicht geboten. Denn dieses Verbot hindert den Wechsel von der bisherigen Ermessensausweisung hin zu einer am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten gebundenen Ausweisung nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 352 ff. mit eingehender Begründung). Der Entscheidung des Senats sind daher die Bestimmungen des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) in der zuletzt durch das Gesetz zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vom 8. März 2018 (BGBl. I S. 342) geänderten Fassung zugrunde zu legen.

A. Die Ausweisung (Ziffer 1 des Bescheids v. 27.6.2014) findet eine Rechtsgrundlage in §§ 53 Abs. 1 bis 3, 54 Abs. 1 Nr. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.

Nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei dieser - nicht auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen und damit gerichtlich voll überprüfbaren Ausweisungsentscheidung (vgl. im Einzelnen zur Struktur des Ausweisungsrechts in der durch Art. 1 und 9 des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung v. 27.7.2015, BGBl. I S. 1386, geänderten Fassung: BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, a.a.O., S. 329 f.) vorzunehmenden -Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt, der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG indes nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

Eine - wie hier - nach altem Recht verfügte Ermessensausweisung wird allein infolge der Neuregelung des Ausweisungsrechts durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung mit Wirkung vom 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 14.2.2018 - 2 A 810/17 -, juris Rn. 10). Hier genügt die in Ziffer 1 des Bescheids des Beklagten vom 27. Juni 2014 verfügte Ausweisung den derzeit geltenden gesetzlichen Anforderungen indes nicht.

I. Der Kläger genießt den besonderen Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG. Er gehört zu dem dort genannten rechtlich privilegierten Personenkreis, da ihm ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 -) zusteht.

Der Kläger hat zum einen eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 inne. Er wurde im Bundesgebiet als Sohn nach Deutschland eingewanderter türkischer Arbeitnehmer geboren und ist hier aufgewachsen. Damit erfüllt er - ungeachtet des Umstands, dass er nicht zu seinen Eltern nachgezogen ist - die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (vgl. EuGH, Urt. v. 7.7.2005 - C-373/03 -, juris Rn. 22 (Aydinli); BVerwG, Urt. v. 6.10.2005 - BVerwG 1 C 5.04 -, BVerwGE 124, 243, 246 jeweils m.w.N.).

Der Kläger hat zum anderen eine Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Denn er war jedenfalls in der Zeit von 1997 bis 2007 sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigt.

Diese Rechtspositionen sind weder durch die Arbeitslosigkeit des Klägers noch durch seine Strafhaft und das dadurch bedingte zeitweise Fernbleiben vom Arbeitsmarkt erloschen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.10.2007 - C-349/06 - (Polat), juris Rn. 21; Urt. v. 7.7.2005, a.a.O., Rn. 28 ff.; BVerwG, Urt. v. 6.10.2005, a.a.O., S. 246).

II. Die danach gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG erhöhten Anforderungen an das öffentliche Ausweisungsinteresse ("Grundinteresse der Gesellschaft"), an die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ("gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung") und auch an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Ausweisungsinteresse und dem privaten Bleibeinteresse ("für die Wahrung dieses (Grund-)Interesses unerlässlich") sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt (vgl. zu den inhaltsgleichen Voraussetzungen für die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nach der ständigen Rechtsprechung vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung v. 27.7.2015: EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 - (Ziebell/Örnek), NVwZ 2012, 422, 425 [EuGH 08.12.2011 - Rs. C-371/08]; BVerwG, Urt. v. 15.1.2013 - BVerwG 1 C 10.12 -, NVwZ-RR 2013, 435, 437; Urt. v. 13.12.2012 - BVerwG 1 C 20.11 -, NVwZ 2013, 733, 736; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 28.6.2012 - 11 LC 490/10 -, juris Rn. 43 ff. jeweils m.w.N.).

Die nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erforderliche Feststellung (vgl. zur Anwendung der grundlegenden Systematik der §§ 53 ff. AufenthG auch auf die Fälle besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, a.a.O., S. 329 f.; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 12.7.2017 - 18 A 2735/15 -, juris Rn. 38 ff.), dass der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, bedarf einer Prognose zur Wiederholungsgefahr. Die Prognose ist von den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Urt. v. 15.1.2013, a.a.O., S. 436 f.; Urt. v. 4.10.2012 - BVerwG 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, 237; Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., S. 282 f.; Senatsbeschl. v. 20.6.2017 - 13 LA 134/17 -, juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.4.2016 - 11 S 393/16 -, juris Rn. 28; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 10.3.2011 - 8 LB 153/09 -, juris Rn. 55 ff. jeweils m.w.N.).

Dieser Maßstab wird für die Fälle besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG in zweierlei Hinsicht modifiziert.

Zum einen bedarf es gegenwärtig einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind mithin erhöhte Anforderungen zu stellen. Neue Verfehlungen des Ausländers müssen ernsthaft und konkret drohen. Es genügt nicht, dass lediglich eine entfernte Möglichkeit neuer Störungen besteht, weil sich nicht ausschließen lässt, dass der Ausländer erneut strafbare Handlungen begehen könnte (vgl. EuGH, Urt. v. 4.10.2007, a.a.O., Rn. 35 (zu Art. 14 ARB 1/80); BVerwG, Urt. v. 15.1.2013, a.a.O., S. 436 (zu § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F.); Urt. v. 13.1.2009 - BVerwG 1 C 2.08 -, juris Rn. 16 (zu § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F.); Urt. v. 28.1.1997 - BVerwG 1 C 17.94 -, juris Rn. 19 (zu § 48 Abs. 1 AuslG)).

Zum anderen muss die Gefahr ein "Grundinteresse der Gesellschaft" berühren. Dem Ausweisungsanlass muss mithin ein besonderes Gewicht zukommen, das sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt, und ein wichtiges Schutzgut muss gefährdet sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.1.2009, a.a.O., Rn. 16; Urt. v. 28.1.1997, a.a.O., Rn. 19).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat der Senat nicht die erforderliche Überzeugung gewonnen, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dem Ausweisungsanlass kommt unter Berücksichtigung der Art, Schwere und auch Häufigkeit der vom Kläger verübten Straftaten schon nicht das erforderliche besondere Gewicht zu (1.). Es drohen gegenwärtig auch neue strafrechtliche Verfehlungen des Klägers nicht ernsthaft und konkret (2.). Jedenfalls aber überwiegt ein öffentliches Interesse an der Ausreise nicht die schutzwürdigen privaten Interessen des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet (3.).

1. Einen den qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG genügenden Ausweisungsanlass bieten die vom Kläger begangenen, gegen die körperliche Integrität, das Vermögen, die Sicherheit des Straßenverkehrs und den legalen Betäubungsmittelverkehr gerichteten und abgeurteilten Straftaten:

1. AG Pforzheim, Urteil: Geldstrafe von 35 Tagessätzen wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen

2. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 50 Tagessätzen wegen Betrugs in zwei Fällen

3. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln

4. AG Pforzheim, Strafbefehl: Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen wegen Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Nötigung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz einer verbotenen Waffe

5. AG Pforzheim, Strafbefehl: Geldstrafe von 40 Tagessätzen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

6. AG Pforzheim, Strafbefehl: Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit Missbrauch von Ausweispapieren, Strafaussetzung zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren

7. AG Kassel, Strafbefehl: Geldstrafe von 60 Tagessätzen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

8. AG Stuttgart, Urteil: Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung; Strafaussetzung zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von 2 Jahren

ersichtlich nicht. Denn dem verwirklichten und fraglos zu missbilligenden Unrecht kommt unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, der Art und Schwere der Rechtsgutsverletzungen und der Höhe der verhängten Strafen nicht ein solch besonderes Gewicht zu, dass eine Ausweisung gerechtfertigt sein könnte. Entgegen der Annahme des Beklagten handelt es sich insbesondere nicht um Gewaltdelikte von erheblicher Schwere, sondern überwiegend der leichten Kriminalität zuzurechnende Körperverletzungsdelikte ohne schwerwiegende oder gar bleibende Rechtsgutsverletzungen. Dementsprechend hat das seiner Zeit zuständige Regierungspräsidium Stuttgart nach Prüfung unter dem 10. Dezember 2010 auch von einer Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet ausdrücklich abgesehen.

a. Die weiteren vom Kläger begangenen und abgeurteilten Betäubungsmitteldelikte:

9. AG Stuttgart, Urteil: Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen

10. Landgericht Göttingen, Urteil: Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten wegen unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen einer Waffe; Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

begründen jedenfalls hinsichtlich des Urteils des Landgerichts Göttingen ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, bieten im vorliegenden Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, der Art und Schwere der Rechtsgutsverletzungen und der Höhe der verhängten Strafen aber einen den qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG genügenden Ausweisungsanlass nicht.

Das Amtsgericht Stuttgart verhängte mit Urteil gegen den Kläger eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen. Der Kläger hatte in der Zeit zwischen dem 13. August 2009 und dem 26. September 2009 in drei Fällen zwischen netto 1,765g und netto 4,935g Kokain zu Preisen zwischen 150 und 400 EUR an verdeckte Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg veräußert und abgegeben. Am 7. Oktober 2009 hatte er darüber hinaus dem verdeckten Ermittler die Lieferung von 100g Kokain zum Preis von 5.000 EUR angedient. Zur Übergabe kam es aber nicht, da der verdeckte Ermittler auf die Übergabemodalitäten des Klägers nicht einging. Nach den Feststellungen des Strafgerichts beging der Kläger sämtliche Taten auf Grund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit. Im Strafverfahren war der Kläger umfassend geständig.

Das Landgericht Göttingen verhängte mit Urteil gegen den Kläger eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 10 Monaten wegen unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen einer Waffe. Der Kläger hatte am 29. November 2012 von einem Dritten 19,86g Kokaingemisch erworben, das einen Kokain-Hydrochloridgehalt von 38,9% aufwies, mithin eine Wirkstoffmenge von netto 7,73g Kokain-Hydrochlorid enthielt. Der Vorgang wurde polizeilich überwacht. Anschließend wurde der Kläger festgenommen, und die erworbenen Betäubungsmittel wurden bei ihm aufgefunden. Während des gesamten Vorgangs führte der Kläger in seiner Hosentasche ein Einhandmesser, das ausgeklappt eine Länge von 18 cm aufweist, einsatzbereit mit sich. Dies war dem Kläger auch bewusst; das Strafgericht vermochte aber nicht zu klären, ob er das Messer speziell zur Tatausführung bei sich trug oder ob er der Mitnahme des Messers keine weitere Bedeutung beimaß. Nach den Feststellungen des Strafgerichts beging der Kläger die Tat zur Deckung des eigenen Suchtbedarfs. Das Strafgericht bejahte zudem - und zwar obwohl der Kläger mehrfach einschlägig vorbestraft war und die Tat während einer laufenden Bewährung begangen hat - einen minder schweren Fall, da der Kläger umfassend geständig war, die mitgeführte Waffe nicht eingesetzt hat und Gegenstand der Tat "nur das etwa 1 1/2-fache der nicht geringen Menge war". Das Strafgericht ordnete gemäß § 64 StGB die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt an, weil er den Hang habe, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen (klinisch relevante Kokainabhängigkeit nach ICD-10: F14.2), und aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Person und seiner auf den Hang zurückgehenden Straftat die Gefahr bestehe, dass er infolge seines Hangs auch in Zukunft erheblich rechtswidrige Taten begehen werde.

Der Senat verkennt nicht, dass die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren schwerwiegend sein und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren können (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.2012, a.a.O., S. 736; Urt. v. 28.1.1997, a.a.O., Rn. 20; OVG Saarland, Beschl. v. 27.3.2018 - 2 B 48/18 -, juris Rn. 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 12.7.2017, a.a.O., Rn. 53 ff.). Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein. Der Europäische Gerichtshof sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - C-145/09 -
(Tsakouridis), juris Rn. 47 m.w.N.). Aus diesem Grunde dürfen die Mitgliedstaaten schon die unerlaubte Verwendung oder den unerlaubten Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigen kann, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (vgl. EuGH, Urt. v. 29.4.2004 - C-482/01 u.a. - (Orfanopoulos und Olivieri), juris Rn. 67; v. 19.1.1999 - C-348/96 - (Calfa), juris Rn. 22). Erst recht gilt dies für den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln. Der illegale Drogenhandel zählt zu den Straftaten, die nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV zum Bereich der besonders schweren Kriminalität gehören. Straftaten dieser Art können als schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden und eine Ausweisung rechtfertigen (vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.2012 - C-348/09 - (P. I.), juris Rn. 28). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Handel mit Betäubungsmitteln als schwerwiegende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Interessen an und die Staaten daher als berechtigt, die Verbreitung von Drogen entschieden zu bekämpfen (vgl. EGMR, Urt. v. 24.3.2015 - 37074/13 -
 (Kerkez ./. Deutschland), juris Rn. 29; v. 12.1.2010 - 47486/06 - (Khan ./. Vereinigtes Königreich), InfAuslR 2010, 369, 370; v. 30.11.1999 - 34374/97 - (Baghli ./. Frankreich), NVwZ 2000, 1401, 1402 jeweils m.w.N.).

Unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, der Art und Schwere der Rechtsgutsverletzungen und der Höhe der verhängten Strafen (vgl. zu den Abgrenzungskriterien: BVerwG, Urt. v. 13.12.2012, a.a.O., S. 736; Urt. v. 28.1.1997, a.a.O., Rn. 20) vermag der Senat im vorliegenden Einzelfall aber nicht festzustellen, dass die vom Kläger begangenen Straftaten eine derart schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses bewirkt haben.

Der Verurteilung des Amtsgerichts Stuttgart lagen wenige vier Taten, die in einem kurzen Zeitraum von weniger als zwei Monaten begangen wurden, zugrunde. Drei in der Zeit zwischen dem 13. August 2009 und 26. September 2009 begangene Taten betrafen das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nur geringer Menge. In keinem dieser Fälle war die Grenze zur "nicht geringen Menge" im Sinne des § 29a Abs. 1 BtMG überschritten, die für Kokain bei einer Wirkstoffmenge von 5,0g Kokainhydrochlorid liegt (vgl. BGH, Beschl. v. 1.8.2006 - 4 StR 261/06 -, NStZ-RR 2006, 350; Urt. v. 1.2.1985 - 2 StR 685/84 -, NJW 1985, 2771). Alle der Verurteilung des Amtsgerichts Stuttgart zugrundeliegenden Taten des unerlaubten Handeltreibens waren Scheingeschäfte, die auf Abnehmerseite von einem verdeckten Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg getätigt wurden und aufgrund derer die Betäubungsmittel nicht in den Verkehr gelangten.

Auch die der Verurteilung des Landgerichts Göttingen zugrundeliegende Einzeltat vom 29. November 2012 fand unter polizeilicher Überwachung statt. Das vom Kläger erworbene Kokain wurde unmittelbar nach der Tat beschlagnahmt und sichergestellt. Das Strafgericht konnte die erforderliche Überzeugung von einem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, das dem Kläger mit der Anklage vorgeworfen worden war, nicht erlangen. Es vermochte nicht auszuschließen, dass sich der Kläger die Betäubungsmittel nur verschaffte, um diese ausschließlich selbst zu konsumieren. Die Grenze zur "nicht geringen Menge" im Sinne des § 29a Abs. 1 BtMG war bei dieser Tat zwar überschritten, Gegenstand der Tat war indes nur etwa das 1,5fache der nicht geringen Menge, was das Strafgericht zur Annahme eines minder schweren Falls veranlasste.

Die abgeurteilten Straftaten stellen sich danach als wenige, einzelne Fälle dar. Sie bezogen sich überwiegend auf Betäubungsmittel in geringer Menge. Soweit der Kläger überhaupt mit den Betäubungsmitteln Handel getrieben hat, erfolgte dies erkennbar nicht gewerbsmäßig oder aus reinem Gewinnstreben, sondern zur Finanzierung und Befriedigung der eigenen krankhaften Sucht. Diese individuellen Umstände führten bei beiden Verurteilungen gemessen an den Strafrahmen der §§ 29 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 29a Abs. 1 und 2 BtMG zur Verhängung relativ niedriger Strafen.

b. Der Senat vermochte auch nicht die erforderliche Überzeugung davon zu gewinnen, dass der Kläger, wie vom Beklagten behauptet, über das strafgerichtlich geahndete Fehlverhalten hinaus eine Delinquenz gezeigt hat, die einen den qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG genügenden Ausweisungsanlass bieten könnte.

(1) Dies gilt zum einen für die Annahme des Beklagten, der Kläger sei seit 2010 festes Mitglied einer der Hauptgruppen in G. gewesen, die mit illegalen Betäubungsmitteln gehandelt habe.

Ausgangspunkt der Annahme des Beklagten ist ein Vermerk des Polizeikommissariats G., KOK U., vom 12. Juli 2012 (Blatt 155 ff. der Beiakte G). Danach haben sich drei Gruppierungen herauskristallisiert, die in G. unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln treiben, diese aber auch selbst konsumieren. Zu einer dieser Gruppen soll - neben vier weiteren Personen - der Kläger gehören. "Er soll für 300 bis 400 g Koks gut sein … soll Kokain u.a. aus einem Fitnessladen, AB. Straße, in AC. kaufen und dieses in G. an andere Personen weiterverkaufen." Diese Erkenntnisse basierten auf Hinweisen aus der BtM-Szene, der Gastronomie und eigenen Feststellungen der Polizei, die aber, soweit für den Senat ersichtlich, nicht Gegenstand der Ermittlungsakten geworden sind. Aus einem weiteren Vermerk der Zentralen Kriminalinspektion der Polizeidirektion R., KOK AD., vom 28. August 2012 (Blatt 170 der Beiakte G) ergibt sich die Aussage eines Dritten, dem von der Polizei Geheimhaltung zugesichert worden war, der Kläger "konsumiere und verkaufe Koks". Auf dieser Grundlage ordnete das Amtsgericht Göttingen mit Beschluss vom 3. September 2012 - 38 Gs 62 Js 39523/12 (868/12) - die Überwachung und Aufzeichnung des vom Kläger geführten Fernmeldeverkehrs an. Nach den Zwischenberichten des Polizeikommissariats G., KOK U., vom 13. September 2012 (Blatt 175 ff. der Beiakte G) und vom 25. September 2012 (Blatt 180 ff. der Beiakte G) sind die überwachten Telefongespräche konspirativ geführt worden und lassen "aus polizeilicher Erfahrung den Schluss zu, dass es um die Beschaffung von Drogen, mit großer Wahrscheinlichkeit Kokain, geht" und "dass (der Kläger) 'geschäftliche Beziehungen' nach R. und AC. unterhält und dort Betäubungsmittel, Kokain und Marihuana, in nicht geringer Menge kauft und verkauft." Es war "zu vermuten, dass eine Durchsuchung aller (vom Kläger) genutzten Räumlichkeiten zum Auffinden von Betäubungsmitteln führt." Aufgrund dieser Ermittlungsergebnisse ordnete das Amtsgericht Göttingen mit Beschluss die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Klägers an. Diese wurde nach der vorläufigen Festnahme des Klägers am 29. November 2012 durchgeführt. Ausweislich des Durchsuchungsberichts vom 30. November 2012 (Blatt 262 ff. der Beiakte G) führte sie, auch unter Einbeziehung eines Rauschgiftspürhundes, nicht zum Auffinden von Betäubungsmitteln. Der Abschlussbericht des Polizeikommissariats G., KOK U., vom 16. Januar 2013 (Blatt 268 ff. der Beiakte G) schließt mit der Feststellung, dass der Kläger "mit hoher Wahrscheinlichkeit Drogengeschäfte mit anderen Personen aus G. und R. gemacht" hat.

In der Folge hat die Staatsanwaltschaft Göttingen mit Verfügung (Blatt 1 ff. der Beiakte J) die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage zum Landgericht Göttingen erhoben. Mit der Anklage wurde ausschließlich der Vorwurf erhoben, am 29. November 2012 19,86g eines Kokaingemischs zum Zwecke des anschließenden Weiterverkaufs erworben und dabei einsatzbereit ein Einhandmesser bei sich geführt zu haben. Hierdurch habe der Kläger unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben, wobei er eine Waffe, die nach ihrer Art zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt gewesen sei, bei sich geführt habe.

Aus diesem Vorgehen der Staatsanwaltschaft zieht der Senat den Schluss, dass hinsichtlich weiterer Vorwürfe, unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, der für eine Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens erforderliche hinreichende Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO nicht gegeben war. Dieser Schluss findet Bestätigung in den die Ermittlungsergebnisse zusammenfassenden Zwischenberichten des Polizeikommissariats G., KOK U., vom 13. September 2012 (Blatt 175 ff. der Beiakte G) und vom 25. September 2012 (Blatt 180 ff. der Beiakte G) und dem Abschlussbericht vom 16. Januar 2013 (Blatt 268 ff. der Beiakte G). Aus diesen ergeben sich, hierauf hat der Beklagte fraglos zutreffend hingewiesen, Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in weiteren Fällen unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben hat. Aufgrund der Art der verdeckt geführten Ermittlungen und deren beschränkten Umfangs konnten indes keine oder kaum Erkenntnisse gewonnen werden zur Art und zur konkreten Menge der Betäubungsmittel, mit denen der Kläger unerlaubten Handel getrieben haben soll, und zu den konkreten (End-)Abnehmern dieser Betäubungsmittel. Solche Erkenntnisse wären indes erforderlich gewesen, um einen konkreten strafrechtlichen Vorwurf und einen darauf bezogenen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können. Der Senat sieht keine Möglichkeit, solche Erkenntnisse selbst zu gewinnen. Eine solche Möglichkeit ist entgegen der Auffassung des Beklagten insbesondere nicht die zeugenschaftliche Vernehmung des seinerzeit die polizeilichen Ermittlungen durchführenden KOK U.. Denn dieser hat dem Beklagten bereits am 27. Januar 2015 (Blatt 538 der Beiakte P) mitgeteilt, dass nach der Verurteilung durch das Landgericht Göttingen keine weiteren Ermittlungen unternommen und auch keine weiteren Erkenntnisse gewonnen worden seien. Das Polizeikommissariat G. hat nach Rücksprache mit dem KOK U. mit Schreiben vom 20. April 2015 (Blatt 689 der Beiakte R) auf Nachfrage noch einmal mitgeteilt: "Weitere Erkenntnisse als die, die in den Ermittlungsvorgängen niedergeschrieben sind, liegen hier nicht vor." Zweifel an der Richtigkeit dieser Mitteilung drängen sich dem Senat nicht auf. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass KOK U. entgegen dieser Mitteilung und über den Inhalt der Ermittlungsvorgänge hinaus über relevante Erkenntnisse verfügt, die nicht nur einen hinreichend konkreten Tatverdacht gegen den Kläger begründen, sondern dem Senat auch die erforderliche Überzeugung von einem hinreichend schwerwiegenden Ausweisungsanlass vermitteln könnten. Im Übrigen hätte es nach § 1 Abs. 1 NVwVfG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 VwVfG zuvörderst dem Beklagten oblegen, den die Ausweisung rechtfertigenden Sachverhalt vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides zu ermitteln und vollständig aufzuklären, auch wenn eine Verletzung dieser behördlichen Sachaufklärungspflicht wegen der inhaltsgleichen gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung des Verwaltungsakts führt (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.12.1987 - BVerwG 1 C 31.85 -, juris Rn. 27; Urt. v. 3.3.1987 - BVerwG 1 C 39.84 -, Buchholz 436.52 § 1 GjS Nr. 12).

(2) Der Senat vermag auch nicht positiv festzustellen, dass der Kläger über das strafgerichtlich geahndete Fehlverhalten hinaus, wie vom Beklagten behauptet, während seiner Unterbringung im Maßregelvollzugszentrum unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben hat.

Ausgangspunkt dieser Annahme ist der Bericht des Maßregelvollzugszentrums vom 20. Dezember 2013 (Blatt 375 f. der Gerichtsakte) an die Staatsanwaltschaft Göttingen. Danach wurden bei einer Zimmerkontrolle des im Maßregelvollzugszentrum ab dem AE. untergebrachten Klägers am AF. ein internetfähiges Handy, zwei SIM-Karten, eine Ampulle mit anabolen Steroiden und ein Zettel mit Namen von Mitpatienten, hinter denen Zahlen notiert waren, aufgefunden. Nach dem Auffinden zerstörte der Kläger das Handy, die SIM-Karten und den Zettel. Aus der Sicht des Maßregelvollzugszentrums legt dieses Verhalten nahe, dass der Kläger "möglicherweise nicht regelkonforme Verhaltensweisen verbergen wollte und diesbezügliches Beweismaterial vernichtet hat. Dabei könnte es sich eventuell um Drogenhandel o.ä. gehandelt haben. Es besteht der Verdacht, dass es sich bei den Zahlen eventuell um Geldbeträge oder Grammzahlen von Drogen handeln könnte".

Der Senat hält diesen Verdacht, ebenso wie der Beklagte, durchaus für naheliegend. Die beim Kläger aufgefundenen Utensilien nähren diesen Verdacht. Er findet auch Bestätigung im Verhalten des Klägers nach dem Auffinden der Utensilien. Die Zerstörung des Handys, der SIM-Karten und auch des Zettels sind angesichts der vom Kläger gegebenen Erklärung, das Handy sei nur für den telefonischen Kontakt zur Familie benötigt worden und der Zettel enthalte lediglich Angaben zu Pokerspielschulden, kaum zu erklären. Andererseits ist dem Kläger zuzugeben, dass bei einem Handel mit Drogen angesichts der seinerzeit noch nicht erfolgreich abgeschlossenen Drogenentzugstherapie jedenfalls in gewissem Umfang ein Eigenverbrauch nahegelegen hätte, ein solcher ausweislich der negativen Ergebnisse der regelmäßigen Suchtmittelkontrollen aber gerade nicht gegeben war.

Dem Senat drängt sich indes keine Möglichkeit auf, wie er den Sachverhalt derart weiter aufklären könnte, dass er über den bloßen Verdacht hinaus die erforderliche Überzeugung von einer für die Ausweisung relevanten konkreten Straftat erlangen könnte. Sie besteht schon angesichts des Zeitablaufs jedenfalls nicht in der Ermittlung bisher unbekannter Beschäftigter und Mitpatienten des Klägers im Maßregelvollzugszentrum und deren Befragung oder der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Grad der Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers und der Rückfallgefahr bei einem Handel mit Drogen im Maßregelvollzugszentrum. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, dass hierdurch die zur Feststellung eines bestimmten Tatvorwurfs erforderlichen Erkenntnisse zur Art und zur konkreten Menge der Betäubungsmittel, mit denen der Kläger unerlaubten Handel getrieben haben soll, und zu den konkreten (End-)Abnehmern dieser Betäubungsmittel gewonnen werden könnten. Selbst die zuständige Staatsanwaltschaft Göttingen hat in Kenntnis des vom Maßregelvollzugszentrum berichteten Verdachts keine weiteren Ermittlungen angestellt. Und auch die zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen hat weder bei der Entscheidung, mit der die angeordnete Unterbringung im Maßregelvollzugszentrum für erledigt erklärt worden ist, noch bei der Entscheidung, mit der die Vollstreckung des Restes der Strafe aus dem Urteil zur Bewährung ausgesetzt worden ist, weiteren Bedarf für eine Sachaufklärung oder weitere Möglichkeiten einer Sachaufklärung gesehen. Gleiches gilt für das Amtsgericht Stuttgart und dessen Entscheidung, mit der die Vollstreckung des Restes der Strafe aus dem Urteil zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Der danach durchaus verbleibende Verdacht, dass der Kläger über das strafgerichtlich geahndete Fehlverhalten hinaus eine signifikante Delinquenz gezeigt hat, genügt indes nicht, um dem Senat die erforderliche Überzeugung vom Vorliegen eines den qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG genügenden Ausweisungsanlasses zu vermitteln.

2. Unabhängig davon, dass es danach bereits an einem den qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG genügenden Ausweisungsanlass fehlt, besteht gegenwärtig auch keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Die gegen den Kläger verhängten zeitigen Freiheitsstrafen sind durch das Amtsgericht Stuttgart mit Beschluss nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG und durch das Landgericht Göttingen mit Beschluss nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Strafgerichte haben mithin bereits vor etwa drei Jahren dem Kläger eine günstige Sozial- und Legalprognose gestellt und festgestellt, dass die Entlassung des Klägers aus der Strafhaft unter Berücksichtigung auch des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

Auch wenn den Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB und § 36 BtMG ein geringeres ausweisungsrechtliches Gewicht als den Entscheidungen nach § 56 StGB zukommt und die Aussetzungsentscheidungen den Senat nicht binden, sind sie für die von ihm zu treffende Prognose von tatsächlichem Gewicht und haben eine erhebliche indizielle Bedeutung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 21; BVerwG, Urt. v. 15.1.2013, a.a.O., S. 436 f.). Wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll, bedarf es einer substantiierten Begründung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.8.2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 36 m.w.N.). Diese kann etwa darin liegen, dass die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird, etwa wenn die Ausländerbehörde oder das Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben haben, welches eine Abweichung zulässt, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen oder wenn den Strafgerichten bedeutsame Umstände des Einzelfalls nicht bekannt gewesen oder von ihnen nicht beachtet worden sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, a.a.O., Rn. 24).

Nach eigener umfassender Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls schließt sich der Senat der Einschätzung der Strafgerichte an. Dabei geht der Senat unter Anwendung des differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs (siehe oben A.II.) und angesichts der vom Kläger begangenen Straftaten, die keine schwerwiegende Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses mit sich gebracht haben (siehe oben A.II.1.a.), davon aus, dass bei der Beurteilung, ob eine ernsthafte und konkrete Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen des Klägers besteht, erhöhte Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit erneuter strafrechtlicher Verfehlungen zu stellen sind. Mit diesen Maßgaben vermag der Senat insbesondere anhand der ihm - durch die Anhörung in der mündlichen Verhandlung und die beigezogenen Strafakten und Verwaltungsvorgänge des Beklagten - bekannt gewordenen Persönlichkeit des Klägers und seiner Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht zu prognostizieren, dass neue strafrechtliche Verfehlungen derzeit ernsthaft und konkret drohen.

Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass eine relevante Verhaltensänderung des Klägers während der Untersuchungshaft und auch nach der Verurteilung durch das Landgericht Göttingen und der Unterbringung im Maßregelvollzugszentrum zunächst nicht gegeben war. Während der Untersuchungshaft in der JVA M. bedrohte der Kläger Mitgefangene und musste wegen schwerwiegender Störungen der Anstaltsordnung im April 2013 in die JVA N. sicherheitsverlegt und dort zunächst auf der Sicherheitsstation untergebracht werden. Auch im Maßregelvollzugszentrum verhielt sich der Kläger fordernd, latent aggressiv und uneinsichtig. Nach einigen erheblichen Regelverstößen, die bei der Leitung des Maßregelvollzugszentrums den Verdacht des Drogenhandels hervorriefen (siehe oben 1.b.(2)), war ein therapeutischer Erfolg nicht mehr zu erwarten. In der Folge erklärte das Landgericht Göttingen mit Beschluss die angeordnete Unterbringung für erledigt, da die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 StGB nicht mehr vorlägen, und ordnete den Vollzug der Freiheitsstrafe an.

Seit der am 7. Februar 2014 beginnenden Verbüßung der Freiheitsstrafe ist aber eine grundlegende Änderung des Verhaltens des Klägers zu beobachten.

Seit seiner Verlegung in die JVA M. am 7. Februar 2014 wurde der Kläger dort als "extrem ruhig und unauffällig" wahrgenommen (vgl. Stellungnahme der JVA M. v. 5.11.2014, Blatt 190 ff. der Beiakte O). Er bemühte sich von Beginn an - so wie schon während der Unterbringung im Maßregelvollzugszentrum - um die Aufnahme einer stationären Drogenentzugstherapie nach § 35 f. BtMG (vgl. Vermerke der JVA M. v. 11.2.2014, Blatt 26R der Beiakte O; v. 25.2.2014, Blatt 28 der Beiakte O; v. 16.4.2014, Blatt 82 f. der Beiakte O; Sozialbericht des Suchtberatungsdienstes der JVA M. v. 7.5.2014, Blatt 75R f. der Beiakte O). Er meldete sich eigeninitiativ zur Therapievorbereitungsgruppe "Fit für Therapie" an (vgl. Anträge v. 21.2.2014, Blatt 30 der Beiakte O; v. 4.3.2014, Blatt 50 der Beiakte O) und nahm an der Selbsthilfegruppe "Sucht" (vgl. Anträge v. 25.3.2014, Blatt 53 der Beiakte O; v. 29.4.2014, Blatt 65 der Beiakte O) sowie an einem Antiaggressionstraining (vgl. Antrag v. 14.7.2014, Blatt 142 der Beiakte O) teil. Während der gesamten Haftzeit erbrachten die regelmäßigen Suchtmittelkontrollen negative Ergebnisse (vgl. die Befunde v. 14.2.2014, Blatt 7 f. der Beiakte O; v. 15.5.2014, Blatt 80 f. der Beiakte O; v. 25.4.2014, Blatt 60 f. der Beiakte O; v. 25.7.2014, Blatt 123 f. der Beiakte O; v. 29.8.2014, Blatt 159 f. der Beiakte O; v. 23.10.2014, Blatt 182 f. der Beiakte O; v. 28.11.2014, Blatt 206 f. der Beiakte O). Der Kläger bemühte sich in der Haft um einen Arbeitsplatz (vgl. Anträge v. 8.2.2014, Blatt 15 der Beiakte O; v. 30.3.2014, Blatt 57 der Beiakte O; v. 6.5.2014, Blatt 66 der Beiakte O; v. 18.6.2014, Blatt 104 der Beiakte O), erhielt diesen zügig und übte die Arbeit im Unternehmerbetrieb der JVA M. regelmäßig aus (vgl. Arbeitskarten v. 10.6.2014, Blatt 95 ff. der Beiakte O; v. 9.7.2014, Blatt 111 ff. der Beiakte O; v. 6. und 7.8.2014, Blatt 130 ff. der Beiakte O; v. 12.1.2015, Blatt 225 ff. der Beiakte O). Sein Verhalten während der Arbeit und seine Arbeitsergebnisse waren beanstandungsfrei (vgl. Stellungnahme der JVA M. v. 5.11.2014, Blatt 190 ff. der Beiakte O). Probleme mit anderen Gefangenen sind nicht bekannt geworden (vgl. Stellungnahme der JVA M. v. 5.11.2014, Blatt 190 ff. der Beiakte O). Während der Haft hielt der Kläger regelmäßig Kontakt zu seinen Eltern und auch zu seiner Tochter (vgl. Blatt 35, 43, 69, 87, 102, 109, 122, 138, 152, 163, 170, 173, 187, 208 f., 211 f., 215 und 218 Beiakte O).

Dementsprechend änderte sich die nach den Vorfällen in der Untersuchungshaft und im Maßregelvollzugszentrum zunächst noch negative Prognose für die vollzugliche Entwicklung des Klägers im Aufnahmebericht bzw. in der Behandlungsuntersuchung vom 3. März 2014 (Blatt 551 ff. der Beiakte P) und im Vollzugsplan der JVA M. vom 5. März 2014 (Blatt 48 ff. der Gerichtsakte). In den Berichten der JVA M. an die Staatsanwaltschaft Göttingen (Blatt 228 ff. der Gerichtsakte) und an das Verwaltungsgericht Göttingen (Blatt 306 der Gerichtsakte) wird das Haftverhalten des Klägers umfassend als beanstandungsfrei dargestellt.

Auch das von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen im Verfahren über die Zurückstellung der Strafvollstreckung eingeholte kriminalprognostische Sachverständigengutachten des Dipl.-Psych. V. aus R. vom 20. Dezember 2014 (Blatt 383 ff. der Gerichtsakte) bescheinigt dem Kläger eine selbstkritische Haltung und realistische Perspektive. Das Antiaggressionstraining hat das impulsive Verhalten des Klägers deutlich gemindert. Der Gutachter vermochte ein tief in der Persönlichkeit des Klägers verankertes und eingeschliffenes kriminelles Verhaltensschema nicht festzustellen. Der Kläger zeigte vielmehr eine ehrliche und authentische Behandlungsmotivation. Das durch die enge kausale Verknüpfung zwischen Drogenkonsum und den begangenen Straftaten bestehende Rückfallrisiko wird nach Auffassung des Gutachters bei einer Drogenfreiheit deutlich minimiert.

Diese positive Entwicklung setzte sich während der am 22. Januar 2015 aufgenommene stationären Drogenentzugstherapie in der Therapieeinrichtung AG. in R. fort. Nach den Berichten der Therapieeinrichtung vom 10. Februar 2015 (Blatt 297 f. der Gerichtsakte) und vom 23. April 2015 (Blatt 688 der Beiakte R) verhielt sich der Kläger zu den Beschäftigten und den Mitpatienten sehr freundlich. Er brachte sich in Einzel- und Gruppengesprächen mit eigener Meinung gut ein, arbeitete interessiert und wach mit, machte in der Arbeitstherapie einen sehr guten, fleißigen Eindruck, kümmerte sich um seine behördlichen Angelegenheiten und war pünktlich und zuverlässig. Die Mitpatienten wählten ihn als Vertrauensmann zum Patientensprecher. Als solcher schaffte er den Spagat, gut mit dem Mitarbeiterteam zusammenzuarbeiten, aber auch seine eigenen Therapieziele nicht aus den Augen zu verlieren. Er führte das therapeutische Phasenmodell vollständig und ohne Rückfall oder sonstige Komplikationen erfolgreich durch und wurde bereits am 22. Mai 2015 entlassen, nachdem die ursprünglich bis zum 25. Juni 2015 vorgesehene Aufenthaltsdauer aufgrund der guten Kooperationsbereitschaft und Mitarbeit des Klägers verkürzt worden war (vgl. Schreiben des AJSD v. 21.3.2016 an den Beklagten, Blatt 732 f. der Beiakte S).

Dieses in der Strafhaft und der stationären Drogenentzugstherapie gezeigte Wohlverhalten endete auch nicht, nachdem der Kläger aufgrund der Beschlüsse des Amtsgerichts Stuttgart und des Landgerichts Göttingen zur Bewährung entlassen worden ist. Nach den schriftlichen Berichten des Bewährungshelfers AA. vom 2. März 2016 (Blatt 49 f. der Beiakte T), vom 21. März 2016 (Blatt 732 f. der Beiakte S), vom 24. August 2016 (Blatt 51 f. der Beiakte T), vom 5. April 2017 (Blatt 907 f. der Gerichtsakte), vom 18. Dezember 2017 (Blatt 909 f. der Gerichtsakte) und vom 25. Juni 2018 (Blatt 915 f. der Gerichtsakte) war die Kontakthaltung des Klägers stets eigeninitiativ und zuverlässig. Er ist mitarbeitsgewillt und zugänglich; er hält sich an Vereinbarungen und Absprachen. Die durchgeführten Suchtmittelkontrollen führten nicht zu positiven Ergebnissen. Nach Einschätzung des Bewährungshelfers hat der Kläger seine "Lebensführung stabilisiert und führt ein Leben in sozialer Verantwortung". Diese seit nunmehr drei Jahren positive Entwicklung des Klägers bestätigte der als Zeuge vernommene Bewährungshelfer AA. auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Der Bewährungshelfer beschrieb ein kooperatives und tragfähiges Arbeitsbündnis mit dem Kläger. Er bescheinigte diesem, sich entwickelt zu haben und auch die vom Gutachter W. im psychologischen Gutachten vom 12. April 2013 beschriebene Persönlichkeitsakzentuierung einer leichten Erregbarkeit verbessert zu haben. Der Kläger sei ruhiger und reflektierter und nicht mehr der, der in den Akten erscheine. Der Bewährungshelfer bestätigte, dass es keine „negativen“ (gemeint: keine positiven) Ergebnisse bei Suchtmittelkontrollen gegeben habe und er selbst auch nicht den Eindruck gehabt habe, dass der Kläger Suchtmittel konsumiere. Der Bewährungshelfer hat für den Senat auch nachvollziehbar erläutern können, aus welchen Gründen der Kläger nicht die im Beschluss des Landgerichts Göttingen, dort Nr. 5 Buchst. b, angeordneten monatlichen Suchtmittelkontrollen absolviert hat, und dass dies gleichwohl nicht zu einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geführt hat, vielmehr die Anordnung monatlicher Suchtmittelkontrollen durch das Landgericht Göttingen mit Beschluss (Blatt 913 der Gerichtsakte) ausdrücklich aufgehoben worden ist.

Der Kläger war in der Zeit seit seiner Entlassung aus der Strafhaft und der stationären Drogenentzugstherapie auch überwiegend erwerbstätig. Ab Juni 2015 war er zunächst bei einem Personaldienstleister als Zeitarbeiter beschäftigt und konnte hierüber am 1. Januar 2016 ein für ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis als Vollzeitbeschäftigter bei der H. in G. aufnehmen. Dieses Arbeitsverhältnis wurde nicht verlängert. Der Kläger nahm jedoch am 1. Januar 2017 bei der AH. ein neues Vollzeitarbeitsverhältnis auf. Vom 4. April 2017 bis zum 8. März 2018 bezog der Kläger Arbeitslosengeld I und in der Folge kurzzeitig Leistungen nachdem SGB II. Vom 7. Mai 2018 an ist der Kläger bei der AI. unbefristet vollzeitbeschäftigt. Die vertragliche Auflösung dieses Arbeitsverhältnisses bereits zum 31. Juli 2018 beruht nach den nachvollziehbaren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und dem dort vorgelegten Attest des Facharztes für Neurologie AJ. vom 13. Mai 2017 auf einem beidseitigen, operationsbedürftigen Karpaltunnelsyndrom, das bisher nicht hinreichend therapiert ist, und sich daraus derzeit ergebenden Einschränkungen seiner körperlichen Belastbarkeit.

Darüber hinaus hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, vor kurzem Vater einer Tochter geworden zu sein und mit dieser und der Kindesmutter in einer familiären Lebensgemeinschaft zu leben.

Schließlich ist der Kläger seit seiner Entlassung aus der Strafhaft und der stationären Drogenentzugstherapie ausweislich des aktuellen Auszugs aus dem Zentralregister vom 24. April 2018 (Blatt 406 ff. der Beiakte V) auch nicht in relevanter Weise erneut strafrechtlich in Erscheinung getreten. Nach den aktuellen Mitteilungen der Polizeiinspektion Göttingen vom 18. Mai 2018 (Blatt 415 der Beiakte V) und der Staatsanwaltschaft Göttingen vom 23. Mai 2018 (Blatt 418 der Beiakte V) sind gegen ihn derzeit keine Ermittlungsverfahren anhängig.

Diese nun seit mehr als vier Jahren positive Entwicklung des Klägers, seine Suchtmittelabstinenz, die eine maßgebliche Ursache der bisherigen Delinquenz beseitigt, und seine eigenverantwortliche und straffreie Lebensführung rechtfertigen die Annahme des Senats, dass derzeit neue strafrechtliche Verfehlungen des Klägers nicht ernsthaft und konkret drohen.

Eine andere Bewertung ist zum einen - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht deshalb geboten, weil der Kläger sein Wohlverhalten unter dem Druck des Strafvollzugs, der stationären Drogenentzugstherapie, der Bewährungsaufsicht und des laufenden aufenthaltsrechtlichen Verfahrens gezeigt hat. Der Senat hat diesen Umstand bei seiner Prognoseentscheidung berücksichtigt. Es wäre mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung aber nicht zu vereinbaren, wenn ein solches im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet wird. Etwas Anderes kann nur ausnahmsweise dann gelten, wenn offensichtlich ist, dass die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, a.a.O., Rn. 22). Dies ist vorliegend schon angesichts der verstrichenen Zeit und der konsequenten Wendung des Klägers zum Guten hin aber nicht ersichtlich.

Eine andere Bewertung der Wiederholungsgefahr ist zum anderen auch mit Blick auf zwei gegen den Kläger im Juli 2016 und im Juni 2017 von der Staatsanwaltschaft Göttingen geführte Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung nicht geboten. Schon die mangelnde Schwere der gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe (vgl. Beiakte T und die Schreiben der Staatsanwaltschaft Göttingen v. 29. und 31.5.2018, Blatt 422 f. der Beiakte V) rechtfertigt es nicht, diesen eine relevante Auswirkung auf die Prognose der Wiederholungsgefahr beizumessen. Im Übrigen sind beide Ermittlungsverfahren eingestellt worden.

Die danach allenfalls bestehende Möglichkeit neuer Verfehlungen, weil sich nicht vollständig und zweifelsfrei ausschließen lässt, dass der Kläger erneut strafbare Handlungen begehen könnte, rechtfertigt eine Ausweisung nach § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG nicht.

3. Schließlich überwiegt, selbst dann, wenn man entgegen der vom Senat gewonnenen Überzeugung von einem hinreichend schweren Ausweisungsanlass und einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen wollte, jedenfalls aber ein öffentliches Interesse an der Ausreise nicht, wie von § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG gefordert, die schutzwürdigen privaten Interessen des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet.

Die privaten Bleibeinteressen des Klägers überwiegen vielmehr das öffentliche Interesse an einer Ausreise, dessen Gewicht durch den beschriebenen Ausweisungsanlass (siehe oben 1.) und die prognostizierte Wiederholungsgefahr (siehe oben 2.) bestimmt wird. Denn die privaten Bleibeinteressen des Klägers wiegen gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände, der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat und der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige besonders schwer. Der Kläger wurde im Bundesgebiet geboren. Abgesehen von einer kurzen Phase während der Grundschulzeit ist er hier aufgewachsen, hat die Schule abgeschlossen, eine Berufsausbildung aufgenommen und seine gesamte Sozialisation erfahren. Sein Aufenthalt war während der gesamten Dauer rechtmäßig. Ganz weit überwiegend hat er seinen Lebensunterhalt durch eine eigene Erwerbstätigkeit gesichert und war er nicht auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen. Seine Eltern, seine Schwester und seine mittlerweile volljährige Tochter, zu denen er regelmäßigen Kontakt hält, leben rechtmäßig im Bundesgebiet. Demgegenüber vermag der Senat Bindungen oder auch nur ernsthafte Anknüpfungspunkte des Klägers an das Land seiner Staatsangehörigkeit, die Türkei, nicht festzustellen. Der danach zweifelsohne gegebene Schutz des im Bundesgebiet geführten Privatlebens nach Art. 8 EMRK und das sich daraus ergebende schwerwiegende private Bleibeinteresse des Klägers werden durch eine Ausweisung unangemessen beeinträchtigt und überwiegen dieses folglich (vgl. grundlegend zu den sich aus Art. 8 EMRK ergebenden Anforderungen an die Ausweisung: EGMR, EGMR, Urt. v. 16.4.2013 - 12202/09 - (Udeh ./. Schweiz), InfAuslR 2014, 179, 180;Urt. v. 28.6.2007 - 31753/02 - (Kaya ./. Deutschland), Rn. 54 f.; Urt. v. 18.10.2006 - 46410/99 - (Üner ./. Niederlande), Rn. 57 f.; Urt. v. 2.8.2001 - 54273/00 - (Boultif ./. Schweiz), Rn. 48 sämtlichst veröffentlicht in der Human Rights Documentation - HUDOC -).

B. Ist danach die Ausweisung (Ziffer 1 des Bescheids v. 27.6.2014) rechtswidrig und aufzuheben, entfallen zugleich die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Abschiebungsanordnung (Ziffer 2 des Bescheids v. 27.6.2014) nach §§ 58 Abs. 1 und 3 Nr. 1, 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG und auch für die Befristungsentscheidungen hinsichtlich der Wirkungen der Ausweisung und einer etwaigen Abschiebung (Ziffer 4 des Bescheids v. 27.6.2014) nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG. Auch diese sind daher rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und unterliegen der Aufhebung.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.