Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.04.2010, Az.: 11 LA 54/10
Widerruf einer im Jahr 1998 ausgesprochenen Asylanerkennung und Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit; Widerruf der Asylanerkennung und Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen bei Vorwurf der PKK-Unterstützung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.04.2010
- Aktenzeichen
- 11 LA 54/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 14986
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:0412.11LA54.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 07.01.2010 - AZ: S 13 A 4771/08
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs. 1 AufenthG
- § 73 Abs. 1 AsylVfG
- § 78 Abs. 3 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Zu den Kriterien für den Widerruf einer im Jahr 1998 ausgesprochenen Asyl- und Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit, dem PKK-Unterstützung vorgeworfen worden war.
Gründe
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Der 1964 geborene Kläger, der türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit ist, reiste Anfang 1994 mit seiner Ehefrau A. B. (Klägerin im Parallelverfahren unter dem Aktenzeichen 11 LA 55/10) und zwei Kindern in die Bundesrepublik Deutschland und beantragte die Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung gab er an, mehrfach wegen des Verdachts der PKK-Unterstützung verhaftet und gefoltert worden zu sein. Der gegen die Ablehnung des Asylantrages durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erhobenen Klage gab das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 12. September 1997 statt. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts standen im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Verfolgungsmaßnahmen unmittelbar bevor, weil er sich geweigert hatte, Dorfschützer zu werden bzw. Spitzeldienste zu leisten. Entsprechend der verwaltungsgerichtlichen Verpflichtung erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Kläger deshalb mit Bescheid vom 19. März 1998 als Asylberechtigten und Flüchtling an.
Diese Anerkennungen wurden mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 25. September 2008 widerrufen. Zugleich wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung verwies das beklagte Bundesamt auf die Verbesserung der allgemeinen Lage von kurdischen Volkszugehörigen aus der Türkei, so dass der Einschätzung, der Kläger sei wegen seiner Weigerung Dorfschützer zu werden bei einer Rückkehr in die Türkei von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht, heute nicht mehr gefolgt werden könne.
Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass der Kläger nach Auskunft des Auswärtigen Amtes in dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren wegen PKK-Unterstützung freigesprochen worden sei. Zudem lägen sowohl die damaligen Vorwürfe als auch der Umstand, dass sich der Kläger nach eigenen Angaben einer Tätigkeit als Informant bzw. Dorfschützer entzogen hat, bereits so lange zurück, dass deshalb heute eine Verfolgungsgefahr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Auch das Vorbringen des Klägers, ihm bekannte Personen seien von Sicherheitskräften getötet worden, könne der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Der Tod des Bruders seiner Ehefrau liege bereits Jahre vor der eigenen Ausreise des Klägers. Die vier anderen Personen hätten nach Auskunft des Auswärtigen Amtes nichts mit seiner damaligen Verfolgung zu tun, so dass aus ihrem Schicksal keine Rückschlüsse auf eine Verfolgungsgefahr für den Kläger gezogen werden könnten.
Das dagegen gerichtete Zulassungsbegehren des Klägers hat keinen Erfolg.
Die Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) greift nicht durch. Die vom Kläger geltend gemachte Abweichung des Verwaltungsgerichts von dem Urteil des erkennenden Senats vom 18. Juli 2006 (- 11 LB 264/05 -, [...]) ist schon nicht hinreichend dargelegt worden, liegt aber auch in der Sache nicht vor.
Die Darlegung ist unzureichend (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG), weil der Kläger zwar über mehrere Seiten aus der bezeichneten Senatsentscheidung zitiert und dem auszugsweise die zuvor wiedergegebene Begründung des angegriffenen Urteils gegenüberstellt, aus diesem Vorbringen aber nicht - wie für die Zulassung wegen Divergenz erforderlich (vgl. GK-AsylVfG, § 78, Rn. 615 f., m.w.N.) - deutlich wird, zu welcher entscheidungserheblichen (Tatsachen-)Frage das Verwaltungsgericht vorliegend eine von der Rechtsprechung des Senats abweichende Ansicht vertreten haben soll.
Eine solche Abweichung ist auch nicht zu erkennen. Denn der Senat ist in jenem Urteil, das keinen Fall des Widerrufs der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung betraf, unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel zu der Auffassung gelangt, dass Kurden in der Türkei keiner landesweiten Gruppenverfolgung unterliegen, jedoch "Personen, die einer Zusammenarbeit mit der PKK oder sonstiger herausgehobener separatistischer bzw. terroristischer Aktivitäten konkret verdächtigt werden, trotz des Reformprozesses nach wie vor politischer Verfolgung ausgesetzt sein (können)". Ob das der Fall ist, kann jeweils nur individuell beurteilt werden.
Mit diesen Vorgaben steht das angefochtene Urteil nicht in Widerspruch. Es hat vielmehr die vom Kläger vorgetragenen Vorfälle, die ursprünglich als berechtigter Anlass für eine Furcht vor einer politischen Verfolgung in der Türkei anerkannt worden sind, in den Blick genommen und hieran gemessen die Gefahr einer politischen Verfolgung bei einer heutigen Rückkehr in die Türkei ausgeschlossen. Ob diese Würdigung im Einzelfall zutrifft, ist für das Zulassungsverfahren nach § 78 Abs. 3 AsylVfG unerheblich.
Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass bei der im Widerrufsverfahren gebotenen Prüfung, ob sich die Verhältnisse im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylVfG im Herkunftsstaat des Asylberechtigten bzw. Flüchtlings grundlegend verbessert haben, die allgemeine Situation in dem Heimatstaat zwar zu berücksichtigen, hierauf aufbauend aber letztlich entscheidend auf die individuelle Situation des als Asylberechtigten bzw. Flüchtling anerkannten Ausländers, dem dieser Status wieder entzogen werden soll, abzustellen ist. In Abhängigkeit von den Umständen, die jeweils zur Zuerkennung des Schutzstatus geführt haben, sind also auch die Anforderungen an die Verbesserung der Verhältnisse im Heimatstaat und die Frage der Gefährdung im Falle einer Rückkehr individuell zu bewerten. Hinreichend für einen Widerruf ist demnach die Feststellung, dass sich die Verhältnisse so wesentlich verändert haben, dass jedenfalls der jeweils Betroffene vor (erneuter) Verfolgung sicher ist. Hingegen ist es für den Widerruf nicht erforderlich - was der Kläger aber anscheinend erwartet - festzustellen, dass es im Heimatland des betroffenen Ausländers ausnahmslos oder zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der auch der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt (vgl. allgemein OVG Greifswald, Beschl. v. 15.11.2007 - 2 L 152/07 -, AuAS 2008, 83 f.; Nds. OVG, Beschl. v. 22.6.2009 - 7 LA 132/09 -, EZAR 60 Nr. 10 sowie speziell bezogen auf die Türkei VGH München, Beschl. v. 26.6.2009 - 11 ZB 08.30341 -, [...]).
Die Grundsatzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) führt ebenfalls nicht zum Erfolg. Der Kläger sieht es als grundsätzlich klärungsbedürftig an
"ob die Verfolgung eines Kurden, der in der Türkei wegen Unterstützung der PKK verfolgt worden ist, heute mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist".
Diese Frage entzieht sich jedoch der für die Zulassung wegen Grundsatzbedeutung erforderlichen (vgl. nur GK-AsylVfG, § 78 Rn. 88, m.w.N.) fallübergreifenden generellen Klärung. Wie sich bereits eindeutig aus dem Urteil des Senats vom 18. Juli 2006 ergibt, kann die aufgeworfene Frage nicht generell bejaht werden. Sie kann aber auch nicht - wie vom Kläger gewünscht - ausnahmslos verneint werden. Es gibt Fälle, in denen auch ein vormals wegen Unterstützung der PKK in das Blickfeld geratener Kurde heute vor einer erneuten asylrelevanten Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Beispielsweise sollen selbst die acht ehemaligen PKK-Mitglieder, die u.a. am 19. Oktober 2009 öffentlichkeitswirksam über den Grenzübergang Habur in die Türkei zurückgekehrt sind, sowie Angehörige einer zweiten, am 12. November 2009 in die Türkei zurückgekehrten Gruppe von PKK-Kämpfern bisher keinen asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein (vgl. Österreichisches Bundesasylamt, Aktueller Stand im türkischen Kurdenkonflikt, 27.11.2009, S. 7; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Pressespiegel Türkei, Berichte v. 11. und 12.1.2010, 8.2.2010, 16.2.2010). Allerdings drohen 30 dieser PKK-Mitglieder nach einem Bericht in der "Süddeutschen Zeitung" vom 9. April 2010 (S. 7) "bis zu 20 Jahre ... Gefängnis". Nach einer anderen Quelle (ANF v. 4.4.2010, ISKU - Informationsstelle Kurdistan) hat die Staatsanwaltschaft Diyarbakir Anklage gegen 17 Personen dieser 34köpfigen Gruppe wegen "PKK-Propaganda" während einer Presseerklärung am 30. November 2009 erhoben. Die aufgeworfene Frage ist demnach in jedem Einzelfall zu beantworten (vgl. zuletzt etwa Senatsbeschl. v. 27.1.2010 - 11 LA 428/08 -, sowie v. 10.12.2008 - 11 LA 406/08 -, jeweils m.w.N.), und zwar beispielhaft, aber nicht abschließend in Abhängigkeit von der jeweiligen Art und Weise der früheren Unterstützung der PKK, der Intensität der ursprünglichen Verfolgung, der seitdem verstrichenen Zeit, der Sach- und Rechtslage hinsichtlich der heutigen, inzwischen ggf. veränderten Verfolgungspraxis seitens der türkischen Strafverfolgungsorgane sowie der Sicherheitskräfte und natürlich auch des Verhaltens des Betroffenen in der Türkei bzw. im Ausland seit dem Verlassen der Türkei sowie ggf. der Aktivitäten seiner Verwandten oder anderer Beteiligter. Da insoweit auch in einem Berufungsverfahren keine weitergehende verallgemeinerungsfähige Klärung möglich erscheint, kommt eine Zulassung der Berufung auch nicht unter dem Blickwinkel in Betracht, dass den vom Kläger angeführten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen in vergleichbaren Widerrufsfällen möglicherweise eine zumindest graduell unterschiedliche Bewertung der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verfolgung von kurdischen Volkszugehörigen, die in der Türkei vormals die PKK unterstützt haben oder auch nur in einen entsprechenden Verdacht geraten waren, zu Grunde liegt.
Der Kläger sieht es weiter als grundsätzlich klärungsbedürftig an,
"ob eine verfestigte und nachhaltige Veränderung der Menschenrechtssituation in der Türkei derart vorliegt, dass die Voraussetzung für einen "Wegfall der Umstände" im Sinne von Art. 1 C Satz 1 GFK, aufgrund derer die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung erfolgte, gesprochen werden kann".
Die Frage führt schon deshalb nicht zur Zulassung der Berufung, weil sie unverständlich ist. Wie der Senat zu einer im Wesentlichen gleichlautenden Fragestellung bereits in seinem - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bekannten - Beschluss vom 10. Dezember 2008 (- 11 LA 406/08 -) ausgeführt hat, ist (deshalb) auch nicht zu erkennen, welche eigenständige Bedeutung der letztgenannten gegenüber der vorhergehenden Frage zu kommen soll. Sollte mit der letztgenannten Frage die generelle Feststellung angestrebt sein, dass angesichts der Menschenrechtssituation in der Türkei der Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung nach § 73 AsylVfG überhaupt ausgeschlossen ist, so ist sie schon wegen der undifferenzierten Erfassung aller nur denkbaren Widerrufsfälle in einem Berufungsverfahren jedenfalls nicht klärungsfähig (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 22.4.2008 - 4 LA 24/08 -). Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass insoweit rechtliche Zweifelsfragen zur Auslegung des § 73 Abs. 1 AsylVfG aufgeworfen werden sollen, die bislang weder in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, NVwZ 2006, 707) noch des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urt. v. 2.3.2010 - 1 C 175-179/08 -) geklärt worden und vorliegend entscheidungserheblich sind.