Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.04.2010, Az.: 8 ME 76/10

Schwerer und unzumutbarer Nachteil bei dem durch eine nur rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis möglichen Verlust von Ansprüchen auf Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG), auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) oder auf Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG); Rechtfertigung einer Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bei anderweitiger Sicherung des Lebensunterhalts des Ausländers und keiner Besorgnis einer existenziellen Notlage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.04.2010
Aktenzeichen
8 ME 76/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 15105
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0427.8ME76.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 19.03.2010 - AZ: 11 B 837/10

Fundstellen

  • AUAS 2010, 146-147
  • DVBl 2010, 797
  • DÖV 2010, 662-663

Amtlicher Leitsatz

Allein der durch eine nur rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mögliche Verlust von Ansprüchen auf Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG), auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) oder auf Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) ist jedenfalls dann kein schwerer und unzumutbarer Nachteil, der ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren nach § 123 VwGO rechtfertigen würde, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers anderweitig gesichert und eine existenzielle Notlage deshalb nicht zu besorgen ist.

Gründe

1

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Der Senat macht sich insoweit die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu Eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren angeführten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründe rechtfertigen keine hiervon abweichende Entscheidung.

2

Soweit die Antragstellerin zum einen begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, kann der Antrag schon deshalb keinen Erfolg haben, weil dies eine Vorwegnahme der Hauptsache darstellen würde, die nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 123 Rn. 13 ff.). Eine derartige Ausnahme kann geboten sein, wenn der Rechtsschutzsuchende eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr rechtzeitig erwirken kann oder für ihn ohne eine den geltend gemachten Anspruch vorab befriedigende Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein würde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.6.1984 - 1 ER 310.84 -, Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 57; Sächsisches OVG, Beschl. v. 8.1.2009 - 3 B 8/09 -, [...] Rn. 3; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 23.7.2007 - 2 M 172/07 -, [...] Rn. 3; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 25.11.2003 - 3 Bs 217/03 -, [...] Rn. 19).

3

Derartige Umstände fehlen hier. Soweit die Antragstellerin auf den möglichen Verlust von Ansprüchen auf Elterngeld nach demBundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG), auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) oder auf Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) verweist, trifft es zwar zu, dass eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin, wie hier die Antragstellerin, nur dann anspruchsberechtigt ist, wenn sie einen der in § 1 Abs. 7 BEEG, § 62 Abs. 2 EStG oder § 1 Abs. 2a UVG genannten Aufenthaltstitel besitzt. Es ist aber von der Antragstellerin trotz entsprechender Erwägungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Beschluss auch mit der Beschwerde nicht hinreichend glaubhaft gemacht und auch nicht ersichtlich, dass allein durch einen möglichen Verlust der genannten Ansprüche der Lebensunterhalt der Antragstellerin und ihres Kindes nicht hinreichend gesichert wäre und diese in existenzielle Not gerieten. Ein schwerer und unzumutbarer Nachteil für die Antragstellerin, der eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen könnte, wäre aber allenfalls dann gegeben, wenn die Sicherung ihres Lebensunterhalts ohne die vorläufige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Sinne einer wirtschaftlichen Notlage in existenzieller Weise gefährdet wäre (vgl. noch restriktiver VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 8.2.2006 - 13 S 18/06 -, [...] Rn. 9 m.w.N.). Die Frage, ob das Zuwarten auf das Hauptsacheverfahren auch deshalb zumutbar ist, weil der Antragstellerin die begehrte Aufenthaltserlaubnis rückwirkend erteilt werden könnte und daran anknüpfend auch die begehrten Leistungen rückwirkend gewährt werden könnten (vgl. zur Rechtslage nach dem BErzGG: BSG, Urt. v. 2.10.1997 - 14 REg 1/97 -, NVwZ 1998, 1110), stellt sich daher hier nicht mehr. Soweit die Antragstellerin auf sonstige aus einer bloßen Duldung resultierende Folgen, insbesondere die Aufenthaltsbeschränkung, hinweist, rechtfertigt auch dies nicht die Annahme von Nachteilen, die für sie im Hinblick auf existenzielle oder wirtschaftliche Belange so bedeutsam sind, dass ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache gerechtfertigt wäre.

4

Die Beschwerde hat auch insoweit keinen Erfolg, als die Antragstellerin begehrt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, sie bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht abzuschieben. Insoweit ist bereits ein Anordnungsgrund zu verneinen. Ein Anordnungsgrund für den Erlass einer Regelungsanordnung erfordert das Vorliegen besonderer Gründe, die es unzumutbar erscheinen lassen, die Antragstellerin auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 8.10.1992 - 4 M 89/92 -, InfAuslR 1993, 18 m.w.N.). Der Anordnungsgrund ist folglich gleichzusetzen mit der Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.5.1995 - 1 BvR 1087/91 -, NJW 1995, 2477, 2482 f.; Senatsbeschl. v. 24.5.2007 - 8 ME 41/07 -, [...] Rn. 4).

5

An einer solchen Dringlichkeit fehlt es hier. Der Antragsgegner hat die Antragstellerin zur Ausreise erst unter Fristsetzung zum 1. August 2010 aufgefordert und erklärt, dass ein Abschiebungstermin noch nicht feststehe und die Antragstellerin auch noch nicht zur Abschiebung angemeldet worden sei. Zudem würde eine etwa erforderliche Abschiebung der Antragstellerin im Hinblick auf ihr neugeborenes Kind allenfalls nach vorausgehender Information über den heute noch nicht absehbaren Termin erfolgen. Damit ist eine Eilbedürftigkeit in einer den Anforderungen des§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO genügenden Weise nicht glaubhaft gemacht, weil jedenfalls derzeit offen ist, ob und wann eine Abschiebung der Antragstellerin erfolgen wird.

6

Im Übrigen bestehen erhebliche Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin. Denn soweit diese eine Aussetzung der Abschiebung begehrt, ist ihr diese vom Antragsgegner bereits gewährt worden. Ausweislich des Bescheides vom 18. Februar 2010 wird die Antragstellerin bis auf Weiteres im Bundesgebiet geduldet.