Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.08.2010, Az.: 11 LA 310/10

Änderung der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem für den Widerruf der Asylanerkennung und Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab bzw. Prognosemaßstab; Widerruf der Asylanerkennung und Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.08.2010
Aktenzeichen
11 LA 310/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 22865
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0818.11LA310.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 27.07.2010 - AZ: 5 A 280/07

Amtlicher Leitsatz

Zur Reichweite der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 -) für den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung - hier bezogen auf die Verhältnisse in der Türkei

Gründe

1

Die Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) der Beklagten greift nicht durch.

2

Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid der Beklagten vom 7. November 2007 so verstanden, dass damit die 1993 erfolgte Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des Klägers, eines 1943 geborenen türkischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit, widerrufen worden ist. Da der Kläger nach den im Zulassungsverfahren nicht angegriffenen (inzidenten) Feststellungen des Verwaltungsgerichts sein Heimatland wegen Unterstützung der PKK (auch) individuell vorverfolgt verlassen habe, habe der Widerruf nur Bestand, wenn sich die für die Beurteilung der (individuellen) Verfolgungsgefahr maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend verändert hätten und deshalb eine Wiederholung gleichartiger Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei. Vorliegend könne jedoch "im Falle des Klägers ... eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems ... in der Türkei ... nicht angenommen werden, so dass eine politische Verfolgung nicht generell mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne". Deshalb sei "die Feststellung ..., dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen drohen, ... im Einzelfall nicht ausreichend widerlegt." In dem von der Beklagten angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 (- 10 C 5/09 -; ergänzend nunmehr Beschl. v. 21.7.2010 - 10 B 41/09 - und v. 22.7.2010 - 10 B 20/10 -) wird demgegenüber ausgeführt, dass der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr) habe. Stattdessen privilegiere Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG den Vorverfolgten bzw. Geschädigten durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werde. Ob die Vermutung durch "stichhaltige Gründe" widerlegt sei, obliege tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung.

3

Wie sich aus den zuvor wiedergegebenen Leitsätzen der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt, ist damit bedingt durch die Vorgaben in der sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG der - auch beim Widerruf maßgebliche - Wahrscheinlichkeits- bzw. Prognosemaßstab (bislang) nur insoweit geändert worden, als - soweit hier erheblich - der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung betroffen ist. Hingegen hat danach die bisherige Rechtsprechung, dass der Vorverfolgte vor einer erneuten (gleichartigen) Verfolgung hinreichend sicher sein muss (vgl.BVerwG, Urt. v. 1.11.2005 - 1 C 21/04 -, BVerwGE 124, 276 ff.), (zunächst) weiter Bestand, soweit die sich nach nationalem Recht richtende Asylanerkennung betroffen ist. Insoweit liegt also die von der Beklagten geltend gemachte Divergenz des angegriffenen Urteils von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht vor; dass sich stattdessen grundsätzlich bedeutsame Fragen stellen, macht die Beklagte nicht geltend.

4

Eine Abweichung ist allerdings insoweit gegeben, als das Verwaltungsgericht hinsichtlich des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung wohl noch den alten, inzwischen vom Bundesverwaltungsgericht aufgegebenen Prognosemaßstab angewandt hat. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass die angegriffene Entscheidung auf dieser teilweisen Abweichung auch i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG beruht.

5

Denn es ist schon zweifelhaft, ob sich der abweichende Maßstab vorliegend überhaupt entscheidungserheblich ausgewirkt hat, soweit das Verwaltungsgericht eine Wiederholung der Verfolgung nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausschließen konnte. Wie sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 ergibt, kann zwar die nunmehr maßgebliche Vermutung für eine Wiederholung der Verfolgung "im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde." Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass der alte und der neue Maßstab regelmäßig zum gleichen Ergebnis führen werden. Dafür, dass dies jedenfalls aus Sicht des Verwaltungsgerichts auch hier so ist, spricht der weitere, bereits zitierte Satz in der Begründung des Urteils, wonach "die Feststellung ..., dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen drohen, ... im Einzelfall nicht ausreichend widerlegt" sei.

6

Jedenfalls ist durch die geänderte Rechtsprechung aber das weitere, auf Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention zurückgehende, deshalb schon in der bisherigen Rechtsprechung anerkannte (BVerwG, Urt. v. 1.11.2005 -, a.a.O.) und durch das Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG nicht in Frage gestellte, sondern in Art. 11 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie (vgl. dazuEuGH, Urt. v. 2.3.2010 - C-175/08 -, Rn. 72 f., 98 f.) für den hier maßgeblichen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausdrücklich betonte Erfordernis unberührt geblieben, dass die Veränderung "der Umstände, aufgrund deren der Betroffene als Flüchtling anerkannt worden ist, erheblich und nicht nur vorübergehend" sein muss. Eine solche - im angegriffenen Urteil ohne sachliche Differenz als "grundlegend und dauerhafte" bezeichnete - Veränderung ("des politischen Systems") in der Türkei hat das Verwaltungsgericht hier ausdrücklich verneint, ohne dass insoweit Zulassungsgründe geltend gemacht worden sind.

7

Damit beruht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht auf der von der Beklagten geltend gemachten Abweichung von der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum geänderten Prognosemaßstab.

8

Zur Klarstellung wird allerdings darauf hingewiesen, dass sich nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 12.4.2010 - 11 LA 54/10 -) die Prüfung, ob sich die Verhältnisse in der Türkei, die ursprünglich zur Anerkennung des Klägers geführt haben, erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, nicht vorrangig auf das "politische System in der Türkei", sondern auf die individuellen Verhältnisse des Klägers bezieht. Vorliegend wäre also zu klären gewesen, ob der Kläger aufgrund einer solchen Veränderung in der Türkei heute vor einer erneuten Verfolgung wegen der angenommenen Unterstützung der PKK durch Lebensmittellieferungen hinreichend sicher bzw. ob nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bezogen auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung die Vermutung, dass sich diese (oder eine gleichartige) Verfolgung wiederholen werde, widerlegt ist. Da aber die Beklagte insoweit im Zulassungsverfahren keine Rügen erhoben hat, ist hier nicht zu klären, ob danach der Widerrufsbescheid Bestand gehabt hätte.