Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.01.2021, Az.: 13 ME 355/20

Anordnung der aufschiebenden Wirkung; assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht; Ausweisung; Beschwerde; Einreise- und Aufenthaltsverbot; Türkei; Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht; vorläufiger Recht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.01.2021
Aktenzeichen
13 ME 355/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71221
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 04.09.2020 - AZ: 11 B 1678/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht voraus. Die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG kann rechtmäßig bereits dann erlassen werden, wenn der Ausländer im Sinne des § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig ist.

2. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist auch in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, anzuwenden.

Tenor:

1. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin B. aus B-Stadt zu den Bedingungen einer in Niedersachsen zugelassenen Rechtsanwältin beigeordnet.

2. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 11. Kammer - vom 4. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet, die Androhung der Abschiebung und die Festsetzung eines befristeten Ausreise- und Aufenthaltsverbots.

Der Antragsteller, türkischer Staatsbürger, wurde 1992 im Bundesgebiet geboren und lebt seitdem hier. Innerhalb von fünf Jahren nach seiner Geburt erwArt er ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nach Art. 7 2. Spiegelstrich ARB 1/80. Neben diesem assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht waren dem Antragsteller von seinen Eltern abgeleitete familiäre Aufenthaltserlaubnisse erteilt, zuletzt auf der Grundlage des § 34 Abs. 3 AufenthG mit einer Geltungsdauer bis zum 19. März 2020.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus dem Bundesgebiet aus und stellte das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts fest (Verfügung zu Ziffer 1), drohte die Abschiebung in die Türkei an (Verfügung zu Ziffer 2) und setzte für die Dauer von 60 Monaten, beginnend mit der Ausreise, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot fest (Verfügung zu Ziffer 3). Eine sofortige Vollziehung ordnete die Antragsgegnerin nicht an.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 29. Juni 2020 vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg Klage erhoben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt.

Das Verwaltungsgericht Oldenburg - Einzelrichter der 11. Kammer - hat mit Beschluss vom 4. September 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet, soweit sich diese gegen die Verfügungen in Ziffer 2 (Abschiebungsandrohung) und Ziffer 3 (Einreise- und Aufenthaltsverbot) des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2020 richtet. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es herausgestellt, dass der Klage gegen die Verfügung in Ziffer 1 (Ausweisung) mangels Anordnung eines Sofortvollzugs bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukomme und es daher insoweit an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung fehle. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verfügungen in Ziffer 2 (Abschiebungsandrohung) und Ziffer 3 (Einreise- und Aufenthaltsverbot) sei hingegen anzuordnen, da diese rechtswidrig seien. Es fehle an einer Ausreisepflicht des Antragstellers. Die weder bestandskräftige noch sofort vollziehbare Ausweisung habe das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht noch nicht zum Erlöschen gebracht. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach eine aufschiebende Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung nicht hindere, sei auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht anzuwenden.

Gegen diese Entscheidung, soweit damit dem Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben worden ist, richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

II.

1. Dem Antragsteller als Beschwerdegegner ist auf seinen im Schriftsatz vom 10. November 2020 gestellten Antrag gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO für das Beschwerdeverfahren unabhängig von den Erfolgsaussichten seiner Rechtsverteidigung Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, auch nicht zum Teil oder in Raten, aufbringen kann.

Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 ZPO. Die vorgenommene kostenmäßige Beschränkung ist nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 3 ZPO regelmäßig gerechtfertigt (vgl. zum lediglich deklaratorischen Charakter einer solchen Beschränkung im Beschluss über die Beiordnung: Münchener Kommentar zur ZPO, 2. Aufl. 2000, § 121 Rn. 11 m.w.N.). Anhaltspunkte, die ausnahmsweise eine kostenmäßig unbeschränkte Beiordnung des auswärtigen Rechtsanwalts rechtfertigen könnten (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 1.12.2008 - 4 So 75/08 -, NJW 2009, 1433 f. - juris Rn. 6 (besonderes Vertrauensverhältnis zwischen dem Beteiligten und dem auswärtigen Rechtsanwalt); OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 7.11.1995 - 3 O 5/95 -, NVwZ-RR 1996, 621, 623 - juris Rn. 16 (Erfordernis einer besonders qualifizierten rechtlichen Beratung, die nicht ein im Gerichtsbezirk ansässiger, sondern nur ein auswärtiger Rechtsanwalt gewährleisten kann); Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 141 m.w.N.), sind nicht gegeben.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Der Ansatz von Gerichtsgebühren für das Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren ist im Gerichtskostengesetz nicht vorgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO nicht erstattet.

2. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 11. Kammer - vom 4. September 2020, soweit damit die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügungen in Ziffer 2 (Abschiebungsandrohung) und Ziffer 3 (Einreise- und Aufenthaltsverbot) des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2020 angeordnet worden ist, bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit im Ergebnis zu Recht stattgegeben.

Die gerichtliche Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO setzt eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten der Antragstellerin aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass ihr Rechtsbehelf offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.5.2004 - 2 BvR 821/04 -, NJW 2004, 2297, 2298 - juris Rn. 20; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 970 ff. m.w.N.). Dagegen überwiegt das Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.10.1995 - BVerwG 1 VR 1.95 -, juris Rn. 3). Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der in dem Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 11.9.1998 - BVerwG 11 VR 6.98 -, juris Rn. 4) jedoch offen, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.6.2019 - BVerwG 1 VR 1.19 -, NVwZ-RR 2019, 971 - juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 10.3.2020 - 13 ME 30/20 -, juris Rn. 7).

Hieran gemessen ist der zulässige Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage insoweit begründet, als sich diese gegen die Verfügungen in Ziffer 2 (Abschiebungsandrohung; a.) und Ziffer 3 (Einreise- und Aufenthaltsverbot; b.) des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2020 richtet. Der Ausgang des Klageverfahrens ist insoweit offen. Die danach gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt im hier zu beurteilenden Einzelfall zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers.

a. Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. In der Androhung soll nach § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist.

Die Antragsgegnerin macht mit ihrer Beschwerde zwar zu Recht geltend, dass der Erlass einer Abschiebungsandrohung hiernach die Vollziehbarkeit einer Ausreisepflicht nicht voraussetzt ((1)) und die kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 1 des Bescheids vom 27. Mai 2020 verfügte Ausweisung gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG deren Wirksamkeit unberührt lässt ((2)). Der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu prognostizierende Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist aber im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit und daran anknüpfend den Bestand der Ausweisungsverfügung und das Entstehen der gesetzlichen Ausreisepflicht als tatbestandlicher Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung derzeit offen ((3)).

(1) Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht voraus. Die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG kann rechtmäßig bereits dann erlassen werden, wenn der Ausländer im Sinne des § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig ist (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.9.2019 - 8 ME 66/19 -, juris Rn. 69; Urt. v. 25.11.2010 - 12 LB 245/08 -, juris Rn. 14 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.4.2013 - 11 S 581/13 -, juris Rn. 27; Urt. v. 29.4.2003 - 11 S 1188/02 -, juris Rn. 23 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.2.2009 - 18 A 2620/08 -, juris Rn. 30 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 42 ff. (Stand: Dezember 2016) m.w.N.). Schon der Vergleich des Wortlauts des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit demjenigen des die Abschiebung regelnden § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG spricht dafür, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur für die Vollstreckungsmaßnahme der Abschiebung und nicht bereits für die Abschiebungsandrohung gegeben sein muss. Denn nur § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass der Ausländer erst dann abzuschieben ist, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist. Gleiches ergibt sich bei gesetzessystematischer Betrachtung. So hat der Gesetzgeber mit der Fassung des § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG durch Art. 1 Nr. 31 Buchst. a) des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) klargestellt, dass nur der Lauf einer Ausreisefrist durch den Entfall der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung unterbrochen wird (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 54), mithin der Erlass einer Abschiebungsandrohung und deren Rechtmäßigkeit von der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht unbeeinflusst ist und auch bleibt (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 30.1.2020 - 6 Bs 233/19 -, juris Rn. 12). Gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung selbst das Vorliegen von Abschiebungsverboten und auch Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. Auch Sinn und Zweck einer Abschiebungsandrohung gebieten es nicht, für deren Rechtmäßigkeit das Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht zu fordern. Dies folgt schon daraus, dass die Androhung und der Vollzug der Abschiebung bei rechtlicher Betrachtung strikt zu trennen sind. Im Unterschied zu einer Abschiebung ergeht die Abschiebungsandrohung im Vorfeld einer möglichen Abschiebung. Ihr muss sich nicht zwangsläufig eine nachfolgende Abschiebung anschließen. Vielmehr bleibt es dem ausreisepflichtigen Ausländer überlassen, die Durchführung einer angedrohten Abschiebung zu vermeiden und freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen. Die Abschiebungsandrohung dient damit dem Zweck, dem Ausländer einen rechtzeitigen Hinweis auf Zwangsmaßnahmen zu erteilen und es ihm zu ermöglichen, seine Ausreise vorzubereiten und freiwillig auszureisen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.2.2009 - 18 A 2620/08 -, juris Rn. 37; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 47 (Stand: Dezember 2016)).

Hiernach ist es für die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung unerheblich, dass die Ausreisepflicht des Antragstellers nicht vollziehbar im Sinne des § 58 Abs. 2 AufenthG ist und deshalb derzeit die Voraussetzungen für eine Abschiebung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet nach § 58 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt sind. Denn der in Ziffer 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2020 verfügten Ausweisung als dem die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakt im Sinne des hier allein in Betracht zu ziehenden Satzes 2 des § 58 Abs. 2 AufenthG fehlt es derzeit mangels Bestandskraft oder Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Antragsgegnerin aufgrund der kraft Gesetzes nach § 80 Abs. 1 VwGO durch die Klageerhebung eingetretenen aufschiebenden Wirkung an der Vollziehbarkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 - BVerwG 1 C 34.18 -, BVerwGE 167, 211, 227 - juris Rn. 44).

(2) Die kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 1 des Bescheids vom 27. Mai 2020 verfügte Ausweisung lässt gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch deren Wirksamkeit unberührt.

Nach der ausdrücklichen Anordnung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG tritt die Wirksamkeit der Ausweisung unbeschadet der aufschiebenden Wirkung einer hiergegen erhobenen Klage ein (vgl. hierzu Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 84 Rn. 62 f. (Stand: September 2019)). Entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung besteht für den Senat kein Grund, § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, nicht anzuwenden.

(a) Der Wortlaut des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bietet einen solchen Grund ersichtlich nicht. Anders als die in § 50 Abs. 1 AufenthG getroffene Bestimmung ("Ein Ausländer ist zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht.") unterscheidet § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht zwischen Aufenthaltstiteln des Aufenthaltsgesetzes und assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechten. Die unbeschadet der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage eintretende Wirksamkeit einer Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, wird vielmehr unterschiedslos angeordnet.

(b) Der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, stehen auch assoziationsrechtliche Stand-still-Klauseln nicht entgegen.

Nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ANBA 1981 S. 4) - ARB 1/80 - dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass diese Stillhalteklausel und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (BGBl. II, 1972, S. 386) - ZP - zum Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei vom 12. September 1963 ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts gleichartig seien und beide Klauseln dasselbe Ziel verfolgten (vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.2003 - C-317/01 und C-369/01 -, juris Rn. 68 ff.; Urt. v. 17.9.2009 - C-242-06 -, juris Rn. 65, m.w.N.), nämlich durch günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer (Art. 13 ARB 1/80), des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls) zu schaffen. Aus diesem Grunde ist es den innerstaatlichen Stellen verboten, neue Hindernisse für diese Freiheiten einzuführen, um die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei nicht zu erschweren (vgl. Senatsbeschl. v. 10.12.2019
 - 13 ME 344/19 -, juris Rn. 6). Bei dem danach anzustellenden Vergleich mit den Rechtszuständen vor Inkrafttreten der Verschlechterungsverbote (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.3.2015 - BVerwG 1 C 19.14 -, BVerwGE 151, 377, 385 f. - juris Rn. 25) ist nicht nur die Gesetzeslage, sondern auch die Rechtsprechung und eine mit dieser in Einklang stehende Verwaltungspraxis zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 - BVerwG 1 C 6.08 -, BVerwGE 134, 27, 31 f. - juris Rn. 19 m.w.N.).

Ungeachtet der Frage, ob die assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbote überhaupt die Erlöschenstatbestände für Aufenthaltstitel und -rechte erfassen (offengelassen von BVerwG, Beschl. v. 15.4.2013 - BVerwG 1 B 22.12 -, juris Rn. 13; Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 289 f. - juris Rn. 25; Urt. 30.4.2009 - BVerwG 1 C 6.08 -, BVerwGE 134, 27, 32 - juris Rn. 20), enthält § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG keine "neuen Beschränkungen" oder "neuen Hindernisse" (vgl. dahingehend auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.11.2010 - 11 S 2328/10 -, juris Rn. 14 ff.).

Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und auch der vorausgegangene, durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) eingefügte inhaltsgleiche § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG ("Widerspruch und Klage lassen unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt.") zeichnen nur einen bereits zuvor bestehenden Rechtszustand nach (vgl. zu § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321, S. 81: "Deshalb stellt Absatz 2 k l a r, dass die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts mit Erlass einer entsprechenden Verfügung ungeachtet ihrer Anfechtung endet."; Bericht des Innenausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 11/6321, 11/6541 - u.a., BT-Drs. 11/6960, S. 26: "Es erfolgt eine K l a r s t e l l u n g, dass die Regelungen des Absatz 2 die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen unberührt lassen.", und zu § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 15/420, S. 97: "Die Vorschrift entspricht § 72 AuslG."; vgl. hierzu auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 84 Rn. 2 (Stand: September 2019)). Das Bundesverwaltungsgericht vertritt seit den 1950er Jahren im Grundsatz unverändert die Auffassung, dass die aufschiebende Wirkung einer Anfechtung nicht die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes oder das Inkrafttreten der durch ihn getroffenen Regelung beseitigt, vielmehr der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nur nicht vollzogen werden darf (sog. "Vollziehbarkeitstheorie", vgl. BVerwG, Beschl. v. 9.9.1953 - BVerwG I A 18.53 -, BVerwGE 1, 11 f.; Urt. v. 21.6.1961 - BVerwG VIII C 398.59 -, BVerwGE 13, 1, 5 ff. - juris Rn. 27 ff.; Urt. v. 17.8.1995 - BVerwG 3 C 17.94 -, BVerwGE 99, 109, 112 - juris Rn. 32 ff.). Ungeachtet durchaus streitiger Einzelfragen, welche ausländerbehördlichen Handlungen von diesem vorläufigen Vollzugsverbot umfasst sind (vgl. hierzu etwa VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.11.2010 - 11 S 2328/10 -, juris Rn. 17 (zur Auslösung der Befugnisse nach § 50 Abs. 5 AufenthG durch eine wirksame Ausweisung)), vermag der Senat im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht festzustellen, dass vor dem Inkrafttreten der genannten Regelungen des Aufenthaltsgesetzes und des Ausländergesetzes nach der Rechtsprechung und der Verwaltungspraxis ein Rechtszustand bestanden hätte, wonach erst mit dem Eintritt der Vollziehbarkeit einer Ausweisung ein Aufenthaltstitel oder -recht erlischt.

(c)§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verstößt auch nicht gegen das Vier-Augen-Prinzip des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. EG v. 4.4.1964, S. 850/64, "Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist."), das auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige übertragen worden war (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.9.2005 - BVerwG 1 C 7.04 -, BVerwGE 124, 217, 221 f. - juris Rn. 13 ff.).

Denn die Richtlinie 64/221/EWG wurde durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. EU L 158 v. 30.4.2004, S. 77) - Unionsbürger-Richtlinie - mit Wirkung zum 30. April 2006 aufgehoben. Da die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung im Bescheid vom 27. Mai 2020 erst nach dieser Aufhebung erlassen wurde, ist sie nicht mehr an den Vorgaben des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG zu messen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 287 f. - juris Rn. 22).

Seit Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG gilt für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige vielmehr ein anderer unionsrechtlicher Bezugsrahmen für die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Dieser wird für einen Ausländer, der sich - wie der Antragsteller - seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. EU L 16 v. 23.1.2004, S. 44) - Daueraufenthaltsrichtlinie - gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 - (Ziebell), Rn. 79; BVerwG, Urt. v. 4.10.2012 - BVerwG 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, 236 f. - juris Rn. 17 m.w.N.). Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen. Die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme und damit das frühere Vier-Augen-Prinzip des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG sind hingegen nicht mehr vorgeschrieben.

Einer Nichtberücksichtigung des Vier-Augen-Prinzips stehen die assoziationsrechtlichen Stand-still-Klauseln des Art. 13 ARB 1/80 und des Art. 41 Abs. 1 ZP schon deshalb nicht entgegen, weil eine Nichtberücksichtigung gegen das Verbot der Besserstellung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger gegenüber Unionsbürgern aus Art. 59 ZP im Hinblick auf die den Unionsbürgern in Art. 31 Abs. 1 und 3 der Unionsbürger-Richtlinie eingeräumten Verfahrensgarantien verstieße (vgl. hierzu im Einzelnen: BVerwG, Beschl. v. 15.4.2013 - BVerwG 1 B 22.12 -, juris Rn. 13; Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 288 f. - juris Rn. 23 ff.; Sächsisches OVG, Beschl. v. 14.12.2018 - 3 B 293/18 -, juris Rn. 29).

(d) Der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, stehen schließlich auch ein unionsrechtliches Erfordernis der notwendigen Einzelfallprüfung von Ausweisungsentscheidungen oder der europarechtliche Grundsatz des "effet utile" nicht entgegen (a.A. OVG B-Stadt, Beschl. v. 13.4.2015 - 1 B 127/13 -, juris Rn. 13; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.11.2010 - 11 S 2328/10 -, juris Rn. 16 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 84 Rn. 83 (Stand: September 2019)).

(aa) In materiell-rechtlicher Hinsicht ergibt sich aus dem durch Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie gebildeten unionsrechtlichen Bezugsrahmen für die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (siehe hierzu oben II.2.a.(2)(c)), dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, der sich - wie der Antragsteller - seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, nur ausgewiesen werden darf, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen. Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, können nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren. Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 - (Ziebell), Rn. 80 ff.).

Für den Senat bestehen keine Anhaltspunkte, dass das derzeit geltende Ausweisungsrecht des deutschen Aufenthaltsgesetzes diesen unionsrechtlichen Anforderungen nicht genügen könnte. Die durch Art. 1 Nr. 29 des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) mit Wirkung vom 1. Januar 20216 neu gefassten §§ 53 bis 56 AufenthG und die auf dieser Rechtsgrundlage zu treffende Ausweisungsentscheidung sind geprägt von einem umfassenden ergebnisoffenen Abwägungsprozess, in dem sämtliche Ausweisungs- und Bleibeinteressen angemessen zu berücksichtigen sind. Auch bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses und der hierdurch indizierten Annahme eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Beendigung des Aufenthalts ist eine individuelle Prüfung geboten, ob die Ausweisung im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalles nicht unverhältnismäßig ist (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 23 f., 29 f. und 49 f.; BVerwG, Urt. v. 27.7.2017 - BVerwG 1 C 28.16 -, BVerwGE 159, 270, 285 f. - juris Rn. 39; Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 330 ff. - juris Rn. 22 ff.). Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Darüber hinaus gelten nach § 53 Abs. 3 AufenthG für bestimmte Personengruppen, darunter die assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen. Diese dürfen nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Damit ist der unionsrechtliche Schutzstandard für langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige auch für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige in das nationale Aufenthaltsrecht überführt worden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 50; BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 343 f. - juris Rn. 46).

(bb) In verfahrensrechtlicher Hinsicht gebietet Art. 12 Abs. 4 der Daueraufenthaltsrichtlinie, dass dem von der Ausweisung Betroffenen "in dem betreffenden Mitgliedstaat der Rechtsweg offen" steht. Angerufene Gerichte haben bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer gegen einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verfügten Ausweisung zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll. Anhand der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gegenwärtigen Situation ist die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in das Aufenthaltsrecht des Betroffenen zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen tatsächlich vorliegende Integrationsfaktoren abzuwägen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei hat das Gericht insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, indem es sämtliche konkreten Umstände angemessen berücksichtigt, die für seine Situation kennzeichnend sind und zu denen nicht nur die in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Gesichtspunkte zählen, sondern auch die besonders engen Bindungen des betroffenen Ausländers zum Aufnahmemitgliedstaat (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 - (Ziebell), Rn. 84 f.). Verfügt der von der Ausweisung betroffene Ausländer nicht über ausreichende Einkünfte, ist ihm nach Art. 12 Abs. 5 der Daueraufenthaltsrichtlinie zudem unter den gleichen Voraussetzungen wie Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten, Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Für den Senat bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass das anzuwendende nationale Verfahrensrecht diesen unionsrechtlichen Anforderungen nicht genügen könnte. Dem von einer Ausweisung betroffenen türkischen Staatsangehörigen steht der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten offen. In einem Klageverfahren unterliegt die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung - nachdem die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers in Deutschland nicht mehr auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen Ausweisungsentscheidung erfolgt - der vollen gerichtlichen Überprüfung (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 330 - juris Rn. 23). Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 281 - juris Rn. 12 m.w.N.). Eine andere Betrachtung ist auch wegen des assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbots aus Art. 13 ARB 1/80 nicht geboten. Denn dieses Verbot hindert den Wechsel von der bisherigen Ermessensausweisung hin zu einer am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten gebundenen Ausweisung nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 352 ff. - juris Rn. 60 ff. mit eingehender Begründung). Die gerichtliche Überprüfung der Ausweisungsverfügung auf ihre Rechtmäßigkeit kann der betroffene Ausländer auch im Sinne des Art. 12 Abs. 4 der Daueraufenthaltsrecht "in dem betreffenden Mitgliedstaat", mithin im Bundesgebiet erlangen. Hat die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet, wird diese im Verfahren nach vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO auch auf ihre materielle Rechtmäßigkeit hin überprüft (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.12.2013 - 8 ME 162/13 -, juris Rn. 23 f. m.w.N.). Fehlt es, wie im hier zu beurteilenden Fall, an einer sofortigen Vollziehung der Ausweisung, darf eine hieran anknüpfende Aufenthaltsbeendigung erst vollzogen werden, wenn die Ausweisung bestandskräftig geworden ist oder die aufschiebende Wirkung einer erhobenen Klage - nach erfolglosem Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens und mangelnder Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung im Rechtsmittelverfahren - geendet hat (vgl. oben II.2.a.(1) und § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, §§ 80 Abs. 1 Satz 1, 80b VwGO).

Bestehen danach weder in materiell-rechtlicher noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht Zweifel daran, dass auf der Grundlage des nationalen Rechts gegenüber einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Einklang mit bestehenden unionsrechtlichen Erfordernissen eine Ausweisung verfügt werden kann, besteht auch kein Grund, § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, nicht oder nur eingeschränkt anzuwenden.

(3) Der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu prognostizierende Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist aber im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit und daran anknüpfend den Bestand der Ausweisungsverfügung und das Entstehen der gesetzlichen Ausreisepflicht als tatbestandlicher Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung derzeit offen.

Bei der hier nur gebotenen summarischen Prüfung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist der Senat nicht gehalten, auch bereits die Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden und aufgrund der erhobenen Klage derzeit kraft Gesetzes nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vollziehbaren Ausweisungsverfügung von Amts wegen zu überprüfen. Diese Prüfung ist vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten, dessen Ausgang auch der Antragsteller nach Eintritt des Suspensiveffekts und der damit verbundenen gesetzgeberischen Wertentscheidung (vgl. hierzu Hoppe, in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 1 ff.) abwarten darf. Gleichzeitig darf der Ausgang des Hauptsacheverfahrens gegen die Ausweisungsverfügung als offen angesehen werden.

Daraus folgt für die hier vorzunehmende summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, dass derzeit für den Prognosehorizont des Abschlusses des Hauptsacheverfahrens nicht verlässlich zu klären ist, ob die Ausweisungsverfügung Bestand haben wird, ob hieran anknüpfend das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Antragstellers nach Art. 7 2. Spiegelstrich ARB 1/80 zum Erlöschen gebracht wird (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 25.11.2019 - 13 ME 331/19 -, juris Rn. 7; Bayerischer VGH, Urt. v. 28.3.2017 - 10 BV 16.1601 -, juris Rn. 42; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 51 Rn. 14 (Stand: Dezember 2015)) und ob infolgedessen die gesetzliche Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG als tatbestandliche Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung eintreten wird.

Die danach gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt im hier zu beurteilenden Einzelfall zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers. Dabei berücksichtigt der Senat zum einen die kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die in Ziffer 1 des Bescheids vom 27. Mai 2020 verfügte Ausweisung, aufgrund derer es im vorliegenden Fall an der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers fehlt und die einem Vollzug der Aufenthaltsbeendigung durch die Antragsgegnerin von vorneherein entgegensteht (siehe oben II.2.a.(1)). Zum anderen sind von der Antragsgegnerin keine Gründe geltend gemacht worden, welche die Erforderlichkeit des Bestands einer für sich zwar vollziehbaren, aber mangels notwendiger gleichzeitiger Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht tatsächlich nicht zu vollziehenden Abschiebungsandrohung bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens rechtfertigen oder auch nur nachvollziehbar erklären könnten.

b. Bei der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung ist auch der Ausgang des Hauptsacheverfahrens in Bezug auf das in Ziffer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2020 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot für eine Dauer von 60 Monaten, beginnend mit der Ausreise oder Abschiebung aus dem Bundesgebiet, derzeit offen.

Ausgehend von den strafrechtlichen Verurteilungen des Antragstellers kann die Antragsgegnerin gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 AufenthG zwar ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen, das eine Dauer von zehn Jahren nicht überschreiten soll. Die unter Betätigung ihres Ermessens von der Antragsgegnerin verfügte Anordnung für die Dauer von 60 Monaten bzw. 5 Jahren berücksichtigt auch einerseits, wie lange die mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgten Zwecke (vgl. Bayerischer VGH, Urt. v. 26.3.2009 - 19 ZB 09.498 -, juris Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.3.2003
- 11 S 59/03 -, juris Rn. 32 m.w.N.) eine Fernhaltung des Antragstellers vom Bundesgebiet erfordern ("Zweckerreichung als Fristobergrenze"), und andererseits, dass verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (hier insbesondere Art. 6 GG) und unions- und völkervertragsrechtliche Vorgaben (hier insbesondere aus Art. 8 EMRK) sowie die einfachgesetzlich in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Antragstellers eine Korrektur dieser Fristobergrenze einfordern, und gelangt auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls zu einer umfassenden Abwägung dieser Belange (vgl. zu diesem Erfordernis: BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 27.16 -, BVerwGE 157, 356, 363 - juris Rn. 23; Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, juris Rn. 42 m.w.N.), die voraussichtlich nicht mit nach § 114 Satz 1 VwGO relevanten Ermessensfehlern behaftet ist.

Wie bereits ausgeführt wurde (siehe oben II.2.a.(3)), ist aber derzeit für den Prognosehorizont des Abschlusses des Hauptsacheverfahrens nicht verlässlich zu klären, ob die Ausweisungsverfügung Bestand haben wird und es deshalb zu seiner freiwilligen oder erzwungenen Ausreise des Antragstellers aus dem Bundesgebiet kommen wird, die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG tatbestandliche Voraussetzung für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist. Die danach auch insoweit gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt aus den bereits aufgezeigten Erwägungen (siehe oben II.2.a.(3)) zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 8.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).