Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.11.2010, Az.: 12 LB 245/08

Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht als Voraussetzung für die Androhung einer Abschiebung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.11.2010
Aktenzeichen
12 LB 245/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 27985
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:1125.12LB245.08.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 22.03.2007 - AZ: 2 A 396/06

Amtlicher Leitsatz

Die Androhung der Abschiebung nach § 59 Abs. 1 AufenthG setzt nur die Wirksamkeit, nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraus.

Tatbestand

1

Der Kläger wandte sich im Wege der Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 16. August 2006, mit dem der ihm (dem Kläger) am 10. Juni 2004 erteilte Ausweisersatz zurückgenommen und zugleich seine Niederlassungserlaubnis widerrufen sowie die Abschiebung angedroht worden war.

2

Das Verwaltungsgericht hat dieser Klage, soweit sie sich gegen die Abschiebungsandrohung richtete, stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Widerruf der Niederlassungserlaubnis begegne keinen rechtlichen Bedenken. Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach der Aufenthaltstitel eines Ausländers widerrufen werden könne, wenn er keinen gültigen Pass mehr besitzt, lägen vor und die von dem Beklagten getroffene Ermessensentscheidung sei rechtlich nicht zu beanstanden. Auch die Rücknahme des Ausweisersatzes gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG sei rechtmäßig, da sich der Kläger auf ein schutzwürdiges Vertrauen nicht berufen könne. Er habe den Verwaltungsakt nämlich durch Angaben erwirkt, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gewesen seien (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VwVfG). Die Abschiebungsandrohung des Beklagten sei dagegen aufzuheben, weil es sich bei ihr um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung handele, die der Abschiebung vorausgehe. Damit setze sie - wie die Abschiebung - nach § 58 Abs. 1 AufenthG eine vollziehbare Ausreisepflicht des Ausländers voraus. An dieser fehle es hier, weil die Klage gegen den Widerruf der Niederlassungserlaubnis, mit dem er den nach § 50 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel verliere, gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung entfalte.

3

Der Beklagte hat, soweit mit dem Urteil die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid vom 16. August 2006 aufgehoben worden ist, Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt und zur Begründung geltend gemacht: Die Abschiebungsandrohung setze nur voraus, dass eine Ausreisepflicht bestehe, nicht aber, dass diese auch vollziehbar sei. Er beruft sich insoweit auf eine Stellungnahme des Niedersächsischen Innenministeriums vom 18. April 2007 und ein Schreiben der (damaligen) Vorsitzenden des 10. Senats des erkennenden Gerichts vom 23. Januar 2007 in einem ähnlich gelagerten Verfahren.

4

Auf diesen Antrag hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 13. August 2008 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Berufung zugelassen, soweit der Klage stattgegeben, mithin die Abschiebungsandrohung aufgehoben worden ist.

5

Zur Begründung der Berufung bezieht sich der Beklagte auf sein bisheriges Vorbringen und beantragt,

festzustellen, dass die Abschiebungsandrohung seines Bescheides vom 16. August 2006 rechtmäßig ergangen ist, und diesbezüglich das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 22. März 2007 aufzuheben.

6

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

7

Er macht geltend, der ausdrücklich gestellte Feststellungsantrag sei unzulässig. Außerdem setze sich die Begründung der Berufung nur in Ansätzen mit dem angefochtenen Urteil auseinander und genüge damit nicht den an eine Berufungsbegründung zu stellenden Anforderungen.

8

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 3. und 11. Mai 2010 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

10

Die nach Zulassung durch den erkennenden Senat statthafte Berufung des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig.

11

Anders als der Kläger meint, führt der Umstand, dass der Beklagte dem Wortlaut nach die "Feststellung" beantragt, der angefochtene Bescheid sei auch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung rechtmäßig, nicht zur Unzulässigkeit der Berufung. Zwar ist der Antrag in dieser Gestalt für das vorliegende Berufungsverfahren nicht sachgerecht. Er ist aber gemäß § 88 VwGO auslegbar. Das Begehren des Beklagten ist ohne Weiteres erkennbar und auf das mit der Berufung zulässig verfolgbare Ziel gerichtet, das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern, soweit damit der Klage stattgegeben und die Abschiebungsandrohung aufgehoben worden ist, und stattdessen die Klage insgesamt abzuweisen. Der Beklagte hat - anders als der Kläger meint - durch seine zulässige Bezugnahme auf sein Vorbringen im Zulassungsverfahren (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage, § 124a Rn. 68) auch hinreichend deutlich gemacht, dass und warum er sich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Abschiebungsandrohung setze die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraus, wendet.

12

Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Abschiebungsandrohung zu Unrecht aufgehoben. Der Senat geht mit der wohl herrschenden Auffassung davon aus, dass die Abschiebungsandrohung keine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraussetzt und folgt insoweit dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen. Dieses hat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zu dieser Frage in dem Beschluss vom 20. Februar 2009 (- 18 A 2620/08 -, InfAuslR 2009, 232) ausgeführt:

"Dies folgt ... schon daraus, dass entgegen der vom Senat in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren in Anlehnung an seine Rechtsprechung zum AuslG 1990 vertretenen Auffassung

- vgl. Senatsbeschluss vom 30. August 2005 - 18 B 633/05 -, InfAuslR 2006, 137; ebenso BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 - 1 C 14.96 -, InfAuslR 1998, 217 (ohne Begründung zu § 50 Abs. 1 AuslG 1990) -

die Abschiebungsandrohung nach der dem Aufenthaltsgesetz zugrunde liegenden Konzeption nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraussetzt.

Dafür, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur für die Vollstreckungsmaßnahme der Abschiebung und nicht bereits für die Abschiebungsandrohung vorliegen muss, spricht nun schon der Vergleich des Wortlauts des § 59 Abs. 1 AufenthG mit demjenigen des die Abschiebung regelnden § 58 Abs. 1 AufenthG. Weil die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur in § 58 Abs. 1 AufenthG gefordert wird, liegt es nahe, dass es ihrer für die Abschiebungsandrohung nicht bedarf. Gesetzessystematische Überlegungen führen zu demselben Ergebnis. § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sieht nämlich eine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht in den dort aufgeführten drei Fallkonstellationen alternativ erst vor, wenn eine Ausreisefrist abgelaufen ist. Davon ausgehend ergäbe es keinen Sinn, für den Erlass der Abschiebungsandrohung an der Forderung festzuhalten, die Ausreisepflicht müsse vollziehbar sein, wenn dann Rechtsfolge des Erlasses einer Androhung mit Fristsetzung unter Umständen zunächst der vorübergehende Wegfall der Vollziehbarkeit wäre.

Vgl. Funke-Kaiser in: GK-AuslR, Stand Februar 2008, § 59 AufenthG Rn. 25 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2006, § 59 AufenthG Rn. 13 ff.; Wenger in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/ Kreuzer, ZuwG, 2. Auflage 2008, § 59 AufenthG Rn.5; HTK-AuslR/Oberhäuser, 2008, § 59 AufenthG Rn. 4; Armbruster, HTK-AuslR /§ 59 AufenthG / Überblick 05/2008 Nr. 3; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2003 - 11 S 1188/02 -, InfAuslR 2003, 341; a.A. BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 - 1 C 14.96 -, a.a.O.

Dem lässt sich nicht entgegen halten, dass für die in § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Fälle, bei denen die Ausreisepflicht nicht auf Grund Gesetzes, sondern erst auf Grund eines Verwaltungsaktes (z.B. einer Ausweisung) entsteht, kein Fristablauf vorgesehen ist. Es wäre unverständlich, denjenigen Ausländer, dessen Ausreisepflicht erst auf Grund eines Verwaltungsaktes begründet wird, durch geringere Anforderungen an die Vollziehbarkeit (Absehen von einer Fristsetzung) schlechter zu stellen gegenüber demjenigen Ausländer, dessen Ausreisepflicht bereits auf Grund Gesetzes (z.B. durch unerlaubte Einreise) entstanden ist. Der gesetzessystematische Widerspruch ist deshalb so aufzulösen, dass eine Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung sowohl in den Fällen des § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG als auch in denjenigen von dessen Satz 2 immer schon dann erlassen werden kann, wenn die Ausreisepflicht wirksam entstanden ist. In beiden Fällen ist daher davon auszugehen, dass dann, wenn eine konkrete Ausreisefrist gesetzt wurde, die Ausreisepflicht erst mit deren Ablauf im Sinne des § 58 AufenthG vollziehbar wird.

Vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 16; Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 32.

Auch unter Beachtung von Sinn und Zweck einer Abschiebungsandrohung ergibt sich nicht, dass ihre Rechtmäßigkeit bereits das Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht voraussetzt. Dies folgt schon daraus, dass die Androhung und der Vollzug der Abschiebung bei rechtlicher Betrachtung strikt zu trennen sind. Im Unterschied zu einer Abschiebung ergeht die Abschiebungsandrohung im "Vorfeld" einer möglichen Abschiebung. Ihr muss sich nicht zwangsläufig eine nachfolgende Abschiebung anschließen. Vielmehr bleibt es dem ausreisepflichtigen Ausländer überlassen, die Durchführung einer angedrohten Abschiebung zu vermeiden und freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen. Die Abschiebungsandrohung dient damit dem Zweck, dem Ausländer einen rechtzeitigen Hinweis auf Zwangsmaßnahmen zu erteilen und es ihm zu ermöglichen, seine Ausreise vorzubereiten und freiwillig auszureisen. Andererseits bleibt eine Abschiebungsandrohung auch rechtmäßig, wenn eine Abschiebung nicht erfolgen kann, weil ihr Abschiebungsverbote entgegenstehen (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)

Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2003 - 11 S 1188/02 -, a.a.O."
13

Dieses Ergebnis wird durch weitere bzw. aktualisierte Stimmen aus neuerer Zeit bekräftigt (vgl. etwa mit eingehender und überzeugender Begründung: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2010, § 59 AufenthG Rn. 13 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AuslR, Stand August 2010, § 59 AufenthG Rn. 25 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 31.10.2007 - 8 LA 61/07 -).