Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 03.05.2021, Az.: 5 B 1675/21
Ausweisung Jugendstrafe; faktischer Inländer; Kosovo; Schwangerschaft; Serbien; Staatsangehörigkeit; Straftaten; Wiederholungsgefahr; Wiederholungsprognose
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 03.05.2021
- Aktenzeichen
- 5 B 1675/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70987
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 53 AufenhtG
- § 54 AufenthG
- § 55 AufenthG
- Art 8 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
vorläufig überwiegendes Bleibeinteresse trotz bestehender Wiederholungsgefahr; womöglich faktischer Inländer und bevorstehende Geburt eines eigenen Kindes
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Juni 2020 gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2020 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtschutz gegen eine Ausweisung, die damit verbundene Abschiebungsandrohung sowie ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Der Antragsteller ist am C. 1999 in B-Stadt geboren. Er ist das jüngste von fünf Kindern. Die Eltern des Antragstellers waren nach ihrer Flucht aus dem Kosovo und ihrer Einreise in die Bundesrepublik 1992 als Asylberechtigte anerkannt worden. Laut den Aussagen der Familie sei der Onkel des Antragstellers von der serbischen Polizei ermordet worden und der Nachname weithin bekannt. Mit Bescheid vom 23. Dezember 1999 wurde auch der Antragsteller als Asylberechtigter anerkannt. Die daraufhin erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis galt ab dem 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG fort. Mit Bescheid vom 7. März 2006, rechtskräftig seit dem 6. April 2007, widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung als Asylberechtigter wegen des Widerrufs der Asylanerkennung des Stammberechtigten und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1-7 AufenthG nicht vorlägen. Aufgrund der albanischen Volkszugehörigkeit könne eine Verfolgung im Kosovo ausgeschlossen werden. Am 17. Februar 2008 proklamierte das kosovarische Parlament die Unabhängigkeit des Landes. Die Eltern des Antragstellers und seine vier Geschwister leben weiterhin in Deutschland. Sie haben alle die deutsche Staatsbürgerschaft und sind – bis auf den Vater – wohl alle dauerhaft berufstätig.
Der Antragsteller verbrachte bisher sein gesamtes Leben in Deutschland. Seine Schullaufbahn war von verschiedenen Schwierigkeiten mit Mitschülern und Aufsichtspersonen geprägt. Er musste mehrmals die Schule wechseln. Die Maximilian-Kolbe-Förderschule verließ er nach der 9. Klasse ohne Schulabschluss. Anschließend war er ab Sommer 2015 als Schüler der Berufsbildenden Schule 6 (BBS 6) gemeldet, musste die Schule jedoch kurz nach Beginn des Schuljahres verlassen und war seither beschäftigungslos.
Der Antragsteller ist bis zum Haftantritt am D. 2017 in sehr kurzen Zeitabständen strafrechtlich in Erscheinung getreten und mehrmals verurteilt worden. Er wurde mit Urteil vom 5. Dezember 2017, das weitere Urteile der letzten zwölf Monate einbezog, vom Amtsgericht B-Stadt zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Im Einzelnen stellt sich die Entwicklung bis zum Haftantritt wie folgt dar:
1. Am 4.11.2014 sah die Staatsanwaltschaft B-Stadt von der Verfolgung eines gemeinschaftlichen Diebstahls geringwertiger Sachen nach § 45 Abs. 1 JGG ab.
2. Am 9.3.2015, rechtskräftig seit 17.03.2015, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einem Freizeitarrest verurteilt, den er im April 2015 verbüßte.
3. Am 12.5.2015, rechtskräftig seit 20.5.2015, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung zur Erbringung von Arbeitsleistungen sowie zur Teilnahme an einem Wochenendseminar des Vereins BAF verurteilt. Beide Maßnahmen wurden im August und September 2015 erledigt.
4. Am 6.11.2015, rechtskräftig seit 14.11.2015, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen schweren Raubes, Beihilfe zum Diebstahl und Sachbeschädigung zur Teilnahme an einem dreimonatigen sozialen Trainingskurs des Vereins BAF verurteilt. Diesen Kurs absolvierte er bis zum 7.6.2016.
5. Am 2.12.2015 stellte das Amtsgericht B-Stadt ein Verfahren wegen Diebstahls nach § 47 Abs. 1 JGG ein.
6. Am 5.4.2016, rechtskräftig seit 1.9.2016, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung zu einem Dauerarrest von zwei Wochen verurteilt, den er vom 1.11.2016 bis zum 15.11.2016 in der Jugendarrestanstalt verbüßte.
7. Am 6.12.2016, rechtskräftig seit 14.12.2016, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen Sachbeschädigung und Diebstahl in zwei Fällen zu einem Dauerarrest von zwei Wochen und zur Ableistung von 30 Stunden gemeinnütziger Arbeit nach näherer Weisung der Jugendgerichtshilfe verurteilt. Er verbüßte den Arrest in der Zeit vom 3.2.2017 bis zum 17.2.2017. Von den 30 Hilfsdienststunden wurden nur sechs Stunden erledigt, weshalb das Amtsgericht B-Stadt durch Beschluss vom 24.2.2017 einen viertägigen Kurzarrest verhängte. Trotz Verbüßung des Beugearrestes hat der Antragsteller die restliche Arbeitsauflage nicht erfüllt.
8. Am 16.5.2017 wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen Unterschlagung in zwei Fällen, Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von zehn Monaten verurteilt.
9. Am 8.9.2017 wurde er vom Jugendschöffengericht des Amtsgerichts B-Stadt wegen Diebstahls in zwei Fällen, Missbrauchs von Notrufen in zwei Fällen, Körperverletzung und Leistungserschleichung in drei Fällen und Einbeziehung der Verurteilung unter Nr. 7 zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr verurteilt.
10. Gegen die unter Nr. 8 und 9 genannten Urteile wurde Berufung eingelegt. Das Landgericht B-Stadt entschied am 14.11.2017 rechtskräftig, dass die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufungen mit der Maßgabe verworfen werden, dass er unter Einbeziehung der Verurteilung unter Nr. 7 zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt werde.
11. Am 5.12.2017, rechtskräftig seit 13.12.2017, wurde er vom Amtsgericht B-Stadt wegen Nötigung in Tatmehrheit mit Erschleichen von Leistungen in Tatmehrheit mit Diebstahl im besonders schweren Fall in zwei Fällen in Tatmehrheit mit schwerer räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit Raub in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung unter Einbeziehung der Verurteilungen unter Nr. 7 und Nr. 10 zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verurteilt.
Aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts B-Stadt vom 4. September 2017 war der Antragsteller seit dem D. 2017 bis zum Ablauf der gesamten Strafzeit am E. 2020 in der Jugendanstalt A-Stadt inhaftiert. Nach den Ausführungen des Amtsgerichts in dem Urteil vom 5. Dezember 2017 kommt in seinen Taten zum Ausdruck, dass der Antragsteller uneinsichtig und von bisherigen Strafen unbeeindruckt sei. Dies lasse eine Gewöhnung an die Begehung von Straftaten besorgen und mache eine erzieherische Einflussnahme im Rahmen eines länger dauernden Strafvollzugs unabdingbar.
Der Aufenthalt in der Jugendanstalt war ebenfalls von fehlender Einsicht und von weiteren Vorfällen geprägt (vgl. Erziehungs- und Förderpläne, Bl. 82 ff. d. GA.). Im Einzelnen:
Schon im ersten Erziehungs- und Förderplan vom 29. Januar 2018 wurde darauf verwiesen, dass die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen geprüft und eine Entscheidung im Mai 2018 erwartet werde. Im Bericht heißt es, dass der Antragsteller die Beziehung zu seinen Eltern als gut wahrnehme. Er habe in seiner Familie für Unruhe gesorgt. Sein Freundeskreis bestehe insbesondere aus „nicht harmlosen“ Personen. Er habe mehrmals in der Woche Alkohol getrunken, Cannabis konsumiert und wiederholt Ecstasy und Kokain probiert. Er sei häufig (er geht von ca. 40 Auseinandersetzungen aus) in gewalttätige Konflikte verwickelt gewesen und berichtet ausführlich von seiner Vorgehensweise und der offensichtlichen Gewalttätigkeit. Die Anwendung von Gewalt sei für ihn legitim und normal. Im Bericht heißt es, er wirke in seiner Persönlichkeit noch wenig gefestigt und durch äußere Einflüsse noch leicht negativ verführbar. Er scheine zur Selbstüberschätzung zu neigen und über verfestigte gewaltverherrlichende Einstellungen zu verfügen. Er bagatellisiere seine Taten und empfinde wenig Empathie und Reue. Es mangele ihm an strafrechtlichem Unrechtsbewusstsein bzw. „noch“ an einer tragfähigen Problemeinsicht. Er wirke zweckangepasst mit kindlich-naiven Persönlichkeitszügen und dem Hang zur Albernheit. Mit Blick auf die Zukunft werden die Risiko- und die protektiven Faktoren gegenübergestellt und die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung analysiert. Insgesamt seien wenige Protektoren zu finden, die insgesamt „noch“ schwach ausgeprägt seien. Die sichere Bindung in der Kindheit sowie das soziale Netzwerk würden aber als Schutzfaktoren in starker Ausprägung hervortreten. Die durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten und seine in Teilen vorhandene Selbstkontrolle seien als positive Einflussfaktoren in mäßiger Ausprägung zu bewerten. Für die Zeit nach der Entlassung könnten die Bewährungshilfe bzw. Führungsaufsicht und die Wohnsituation als protektive Faktoren in mäßiger Ausprägung hinzukommen. Im Ergebnis sei derzeit von einem erhöhten bzw. hohen Rückfallrisiko bezüglich erneuter Gewaltdelikte auszugehen.
Der Antragsteller ist in der Haft mit renitentem Verhalten und durch vereinzelte Auseinandersetzungen mit Mitgefangenen und Bediensteten auffällig geworden. Mit einem Wechsel der Wohngruppe ab Ende 2018 ist er aber wohl ruhiger und strukturierter geworden. Bei der Sozialtherapie und in den Einzelgesprächen sowie im betrieblichen Bereich fehlte es nach Einschätzung der Therapeuten an der notwendigen Motivation, sodass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit nur oberflächlich geschah. Wegen einer Beinfraktur war er drei Monate im Krankenhaus. Er wurde am 2. August 2019 in die Abteilung für nicht mitarbeitsbereite Gefangene verlegt, weil er vorher auch wegen einer (einmalig) positiven Urinkontrolle, der Bedrohung eines Mitgefangenen und unerlaubten Tausches von Elektrogeräten disziplinarisch belangt wurde. Auch die Sozialtherapie wurde am 2. August 2019 abgebrochen.
Auf die Anhörung vom 6. August 2019 zu einer Ausweisung durch die Antragsgegnerin verschickte er wohl am 13. August 2019 zunächst ein Fax an die Antragsgegnerin, wonach er freiwillig ausreisen wolle. In der Ausländerakte findet sich jedoch auch eine Stellungnahme vom 12. August 2019, worin er darauf verweist, dass er sich deutsch fühle und nicht von seiner Familie getrennt werden möchte. In einem Fax vom 15. August schildert er seine Perspektivlosigkeit und bittet um die Chance auf einen Neuanfang in Deutschland. Auch die Familie des Antragstellers äußerte sich in einer ausführlichen Stellungnahme vom 30. Januar 2020 zum familiären Hintergrund und verwies insbesondere auf Zusagen einer Schule und eines Ausbildungsplatzes.
Am 14. August 2019 wurde der Antragsteller wegen Überforderung unverschuldet aus der betrieblichen Maßnahme der Berufseinstiegsklasse Holztechnik abgelöst. Ein Antrag auf vorzeitige Entlassung wurde von der zuständigen Vollstreckungsleiterin im September 2019 abgelehnt. Anschließend befand er sich im BQ-Kurs (Basisqualifikation: „Bildung und Qualifizierung“), in dem er zielgerichteter mitarbeitete und den er am 21. Februar 2020 erfolgreich abschloss. Am 15. April 2020 wurde er erneut wegen diverser Weisungsverstöße in die Abteilung für nicht mitarbeitsbereite Gefangene verlegt. In dieser Abteilung fiel er anschließend jedoch nicht mehr mit negativen Verhaltensweisen auf und war seit dem 16. März 2020 im Kfz-Lehrbetrieb eingesetzt. Im Protokoll des Entlassungsvorbereitungsgesprächs vom 22. Juni 2020 wird zu den Einzelgesprächen ausgeführt, dass er erfolgreich teilgenommen habe und Ursachen und Verlauf seiner Delinquenz besprochen wurden. Er habe überwiegend ehrliche Reue und Problemeinsicht gezeigt. Er habe seinen Suchtmittelkonsum reflektiert und Handlungsalternativen entwickelt und sich mitarbeitsbereit gezeigt (Bl. 128 d. GA.).
Er hatte während der gesamten Haftzeit Kontakt zu den Eltern und Geschwistern, die ihn auch regelmäßig in der Haftanstalt besuchten. Bestehende Schulden wurden von seinem Bruder beglichen. Zur Ex-Freundin hatte er keinen Kontakt. Zu seinen Freunden hatte er ab dem Erziehungsplan vom 27. September 2018 wohl keinen Kontakt (per Brief) mehr. Die Flucht- und Missbrauchsgefahr wurde zunächst mit der noch langen Strafzeit und fehlenden Einsicht in die Problematiken, später mit der fehlenden Zukunftsperspektive und seinem Verhalten in der Haft begründet, ab Anfang 2020 auch mit der drohenden Abschiebung.
Ein Einbürgerungsantrag des Antragstellers vom 14. Dezember 2012 wurde aufgrund der Straftaten zunächst seit dem 25. Mai 2015 zurückgestellt und mit Bescheid vom 4. Juli 2019 abgelehnt. Im Rahmen des Einbürgerungsverfahren wies er nach, dass er 2014 sowohl aus der kosovarischen als auch aus der albanischen Staatsangehörigkeit entlassen wurde. Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass der Antragsteller als jugoslawischer und albanischer Staatsangehöriger geboren wurde und nunmehr die serbische Staatsangehörigkeit besitze.
Mit Bescheid vom 25. Mai 2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm die Abschiebung nach Serbien an und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das sie auf sechs Jahre und neun Monate befristete.
Zur Begründung verwies die Antragsgegnerin insbesondere auf die Straftaten des Antragstellers. Sein weiterer Aufenthalt sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiege das Interesse an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland. Der Antragsteller habe zu erkennen gegeben, dass er nicht gewillt sei, die geltenden Gesetze zu beachten. Sein gesamtes Verhalten mache deutlich, dass er über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge. Die Straftaten, insbesondere die Raubdelikte, begründeten besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Das Amtsgericht B-Stadt habe schädliche Neigungen i. S. v. § 17 Abs. 2 JGG bejaht. Die jugendrichterlichen Maßnahmen hätten ihn nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten. Auch den Erziehungs- und Förderplänen der Haftanstalt könne entnommen werden, dass das Verhalten im Vollzug nicht frei von Beanstandungen sei. An den Fortbildungsmöglichkeiten habe er nur unzureichend teilgenommen. Die Jugendanstalt habe sich in ihrer Stellungnahme vom 20. Januar 2020 gegen eine vorzeitige Entlassung ausgesprochen. Die Wiederholungsgefahr könne nicht ausgeschlossen werden bzw. sei es nur eine Frage der Zeit, wann mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen sei. Er sei Wiederholungstäter. Die Begehung schwerer Straftaten sei typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden. Demgegenüber müsse das durch die Niederlassungserlaubnis begründete besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zurücktreten. Eine Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland sei bisher nicht gelungen. Dies drückten bereits die Straftaten aus; zudem habe er keine schulische oder berufliche Perspektive entwickeln können. Dazu habe bisher offensichtlich auch kein Anlass bestanden, da die Eltern ihn mit genügend finanziellen Mitteln ausgestattet hätten und die Schulden, die durch die Straftaten entstanden seien, durch den Bruder beglichen worden seien. Er sei kinderlos und nicht verheiratet. Daher komme dem Schutz des Familienlebens kein überragendes Gewicht zu. Die Kontakte zu seiner Familie können auch aus Serbien aufrechterhalten werden. Zudem könne er sich im Heimatland eingliedern. Die entsprechende Sprache könne er erlernen. Daran ändere auch nicht, dass die Eltern und alle weiteren Familienmitglieder nach der Ermordung des Bruders des Vaters das Heimatland verlassen hätten. Dieser möge ein Freiheitskämpfer mit dem gleichen Nachnamen gewesen sein, die Anerkennung als Asylberechtigter sei aber vom BAMF 2006 widerrufen worden, da ihm und der Familie aufgrund der albanischen Volkszugehörigkeit im Heimatland keine politische Verfolgung mehr drohe. Er könne sogar die albanische oder kosovarische Staatsangehörigkeit wiedererlangen, um z.B. in Albanien ein neues Leben aufzubauen. Die Ausweisung sei auch mit Blick auf Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Die Eingewöhnung in die serbischen Verhältnisse sei im Einzelfall nicht unzumutbar. Außerdem sei eine Aufenthaltsbeendigung trotz Art. 8 EMRK möglich, wenn die zugrundeliegende Straftat besonders schwer wiege. Verstöße gegen Grundrechte seien grundsätzlich zu den schweren Straftaten zu zählen. So sei bereits auch ein Eigentumsdelikt eine solche schwere Straftat. Die Begehung von schweren Straftaten sei typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden. Die Ausweisung habe er selber zu verantworten. Eine langjährige Wirkung der Ausweisung sei erforderlich, um ihm das strafbare Verhalten und die damit verbundenen Folgen bewusst zu machen. Dadurch würden auch andere Ausländer vor Rechtsverstößen abgeschreckt. Die Familie habe ihn auch bisher nicht von den Straftaten abhalten können. Die sofortige Vollziehung sei unabdingbar, da im Falle der Entlassung aus der Jugendhaft erneut Straftaten zu erwarten seien. Außerdem habe die Staatsanwaltschaft gem. § 456a StPO bereits von der weiteren Vollstreckung der Strafe abgesehen. Dies begründe ebenfalls ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Der Antragsteller hat am 25. Juni 2020 Klage erhoben und am 9. September 2020 um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht und führt zur Begründung aus:
Er habe die Straftaten mit 16 bzw. 17 Jahren begangen. Er habe Fehler gemacht und sein Verhalten sei naiv und dumm gewesen. Er bereue seine Taten und sei sich des Unrechtsgehalts bewusst.
Die Haft habe einen einschneidenden Eindruck auf ihn gemacht. Allerdings seien ihm dort seiner Meinung nach auch viele Steine in den Weg gelegt worden. In der JVA habe er einen Schulabschluss machen wollen. Schon der Versuch sei aber abgelehnt worden, da er diesen nicht schaffen würde. Zwischendurch habe er aus Scham und Verzweiflung freiwillig abgeschoben werden wollen. Doch seine Familie habe ihn motiviert und aufgebaut. Sie halte immer zu ihm und unterstütze ihn. Er lebe mit seinen Eltern und einem Bruder zusammen. Er werde alles dafür tun, ein straffreies Leben zu führen. Er wolle nun seine Ziele erreichen und brauche dafür eine Chance. Er habe das Ziel einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und den Führerschein zu machen. Aufgrund der Corona-Pandemie sei es schwierig, eine Arbeit zu finden.
Er fühle sich deutsch. Er kenne nichts anderes als ein Leben in Deutschland. In Serbien sei er auf sich gestellt. Er beherrsche keine andere Sprache als die deutsche. Die einzigen nahestehenden Menschen seien seine Familie. Hinzu komme nun noch seine Freundin, die von ihm schwanger sei. Diese ist nach eigenen Angaben in Deutschland am F. 2002 geboren und staatenlos. Sie sei „Russische Roma“. Der errechnete Geburtstermin sei der 9. November 2021. Der Antragsteller legt Ausschnitte des Mutterpasses vor. Er freue sich auf das gemeinsame Kind und sei fest entschlossen, für das Kind Verantwortung zu übernehmen.
Er sei durch eine Nasenoperation im Jahre 2004 und eine Operation am Fuß körperlich beeinträchtigt.
Der Antragsteller beantragt (wörtlich),
dass die Klage gegen den Bescheid der Landeshauptstadt Hannover vom 25. Mai 2020 wegen Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland aufschiebende Wirkung erhält.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin verweist auf den streitgegenständlichen Bescheid. Der Antragsteller habe trotz seines jungen Alters aufgrund der Vielzahl an verübten Delikten bereits zum Ausdruck gebracht, dass er das Rechtssystem und insbesondere das Eigentum anderer nicht beachten wolle. Jugendarreste und eine Vielzahl von Gerichtsverfahren hätten keine Einsicht bewirkt. Die Antragsgegnerin verweist auf die Erkenntnisse aus dem Erziehungs- und Förderplan vom 16. Januar 2020, wonach der Antragsteller weiterhin einige seiner Opfer für seine Inhaftierung verantwortlich mache und sein Fehlverhalten nicht einsehe.
Im weiteren Verlauf hat die Antragsgegnerin neue Erkenntnisse aus dem Beteiligungsverfahren gem. § 73 Abs. 2 AufenthG des Landeskriminalamtes vom 3. März 2021 vorgelegt. Demnach gibt es strafrechtliche Ermittlungen wegen eines Geschehens vom G. 2021 wegen Raubes, Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung. Der Vorgang befindet sich noch in der Sachbearbeitung. Die Staatsanwaltschaft B-Stadt hat mit Schreiben vom 9. April 2021 mitgeteilt, dass ein weiteres Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung, Az. 3371 Js 28251/21 – Tatzeit: H. 2020 – gegen den Antragsteller geführt werde.
Der Antragsteller hat darauf erwidert, dass er nach seiner Entlassung keine strafbaren Handlungen begangen habe, auch wenn es Kontakte mit der Polizei gegeben habe.
Der AJSD hat auf telefonische Anfrage vom I. 2021 erklärt, dass der Kontakt zum Antragsteller in Ordnung sei. Der Antragsteller habe ihr gegenüber erklärt, er wolle einen Schulabschluss machen, zu Terminen sei er aber teilweise nicht erschienen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Er ist zulässig und im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch begründet.
1. Der Antrag ist hinsichtlich der Ausweisung als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage statthaft (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2, Var. 1 VwGO), weil die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO). Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots ist der Antrag als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statthaft. Die Abschiebungsandrohung ist kraft Gesetzes gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 70 Abs. 1 Nds. VwVG und § 64 Abs. 4 Satz 1 NPOG sofort vollziehbar. Die aufschiebende Wirkung einer gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot erhobenen Klage entfällt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.1.2020 – 11 S 3477/19 –, juris Rn. 73).
2. Die Antragsgegnerin hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung ihrer Ausweisungsentscheidung in einer den formalen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet (a.). Die Abwägungsentscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt derzeit zugunsten des Antragstellers aus (b.).
a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt den rein formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid vom 25. Mai 2020 mit Blick auf die Art und Schwere der Straftaten des Antragstellers ein besonderes Vollzugsinteresse auf die Gefahr gestützt, dass der Antragsteller andernfalls nach der Entlassung aus der Jugendhaft während eines laufenden Klageverfahrens erneut Straftaten im Bundesgebiet begehen könnte. Ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, ist nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses. Vielmehr trifft das Gericht in der Sache eine eigene Abwägungsentscheidung.
b) Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs wiederherstellen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes hinter das Interesse des Antragstellers an einem Aufschub der Vollziehung zurücktritt. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen. Das Suspensivinteresse des Antragstellers überwiegt zum anderen auch dann, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig ist, weil es an einem besonderen Vollzugsinteresse fehlt, welches über das Interesse hinausgeht, das den Erlass des Verwaltungsaktes selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.01.2020 – 2 BvR 690/19 –, juris Rn. 16).
Nach diesem Maßstab überwiegt derzeit das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage kann das Gericht die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 25. Mai 2020 und damit die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – nach den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19.3.2013 – 8 ME 44/13 –, juris Rn. 5) – nicht abschließend beurteilen.
Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung richtet sich nach §§ 53 ff. AufenthG. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Ausweisung eines Ausländers dient dabei der Vorbeuge gegen Gefahren, die nach Würdigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Gesamtpersönlichkeit von ihm selbst in Zukunft für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Hat der Ausländer Rechtsverstöße begangen, hängt die Rechtfertigung der Ausweisung von einer Gefahrenprognose ab, insbesondere der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit. Die Gefährdung bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 – BVerwG 1 C 3.16 –, juris Rn. 23). Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht („Boultif/Üner-Kriterien“, siehe auch unter bb.). Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen. Die Abwägung der in §§ 54 und 55 AufenthG vertypten und gewichteten Ausweisungs- und Bleibeinteressen erfolgt dabei auf der Tatbestandsseite der nun gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit vollständig gerichtlich überprüfbar (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 – BVerwG 1 C 21.18 –, juris Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 25.7.2017 – BVerwG 1 C 12.16 –, juris Rn. 15; BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 – BVerwG 1 C 3.16 –, juris Rn. 20 ff.). Die Vorschrift des § 53 Abs. 3a AufenthG findet keine Anwendung, da die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter mit Bescheid vom 7. März 2006 durch das BAMF bestandskräftig widerrufen wurde (vgl. Neidhardt in: HTK-AusR, Stand 4.12.2019, § 53 AufenthG, Rn. 17).
Hieran gemessen kann das Gericht die Abwägung der Ausweisungs- und der Bleibeinteressen nicht abschließend vornehmen. Das Verhalten des Antragstellers vor und während der Haft begründet zwar weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (aa.). Es bedarf jedoch weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren, ob dieser Gefahr ein gleich hohes oder höheres Bleibeinteresse aus dem Schutzanspruch des Antragstellers gem. Art. 8 EMRK gegenübersteht (bb.). Angesichts der offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache begründet die bevorstehende Vaterschaft des Antragstellers sowohl hinsichtlich der erhofften radikalen Veränderung seines Verhaltens als auch im Interesse des ungeborenen Kindes jedenfalls vorläufig ein überwiegendes Bleibeinteresse (cc.). Unter diesen Umständen ist auch die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbotes auszusetzen (dd.).
aa. Im Rahmen der Abwägung streiten besonders schwere Ausweisungsinteressen (aaa.) und besonders schwere Bleibeinteressen bzw. in absehbarer Zeit noch zusätzliche schwere Bleibeinteressen (bbb.). Es besteht gegenwärtig immer noch eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten durch den Antragsteller (ccc.).
aaa. Der Antragsteller hat durch die zahlreichen und erheblichen Straftaten ein besonders schweres Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 sowie Nr. 1a. b), d) und e) AufenthG begründet. Im Urteil des Jugendschöffengerichts vom 5. Dezember 2017 wurde der Antragsteller u.a. wegen schwerer räuberischer Erpressung, wegen Raubes und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verurteilt.
bbb. Dem besonders schweren Ausweisungsinteresse steht ein gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schweres Bleibeinteresse gegenüber, weil der Antragsteller eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Er ist zudem im Bundesgebiet geboren (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Darüber hinaus wird beim Antragsteller aller Voraussicht nach im Laufe des Hauptsacheverfahrens ein schweres Bleibeinteresse gem. § 55 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 5 AufenthG anwachsen. Mithilfe seiner Erklärungen und der Vorlage von Ausschnitten des Mutterpasses hat er die bevorstehende Vaterschaft im Rahmen des Eilverfahrens ausreichend glaubhaft gemacht. Das mag für sich genommen de lege lata zwar ein besonders schweres Bleibeinteresse derzeit noch nicht begründen, kann aber angesichts der zeitlichen Abläufe von Schwangerschaft und Dauer eines Hauptsacheverfahrens vor dem Verwaltungsgericht bei der Abwägung auch nicht unberücksichtigt bleiben. Es obliegt dem Antragsteller, seine Vaterschaft im Hauptsacheverfahren durch weitere Unterlagen zu beweisen.
ccc. Die Gefahr für die öffentliche Sicherheit bemisst sich nach der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit und den Grundsätzen des Polizei- und Ordnungsrechts (vgl. noch einmal BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 – BVerwG 1 C 3.16 –, juris Rn. 23). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller über einen Zeitraum von mehreren Jahren sehr häufig und in erheblicher Weise strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Auch die zunächst ergriffenen jugendrichterlichen Maßnahmen konnten den Antragsteller nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Besonders die Serie schwerer Straftaten in kurzer Abfolge im Jahr 2017, die letztlich zum Haftbefehl vom 4. September 2017 und zum Urteil vom 5. Dezember 2017 führten, lässt eine erhebliche kriminelle Energie und fehlendes Unrechtsbewusstsein deutlich erkennen. So drückte der Antragsteller am 24. April 2017 (1.) mit einer weiteren Person einen Mitschüler an eine Mauer, redete energisch auf ihn ein bzw. schrie ihn mit den Worten „Mach das nicht nochmal“ an. Am 9. Mai 2017 (2.) und am 1. September 2017 (3.) ließ er sich von den Geschädigten jeweils unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen bzw. indem er Kaufinteresse zeigte, ein Smartphone aushändigen und gab es nicht zurück, sondern entfernte sich und verkaufte es später. Am 9. Mai 2017 (4.) fuhr er ohne Fahrschein mit der Stadtbahn. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Mai 2017 (5.) bedrohte er eine Person mit Pfefferspray und forderte deren Portemonnaie. Er entnahm daraufhin zwei 10-Euro-Scheine und gab das Portemonnaie zurück. Bei einer Durchsuchung der elterlichen Wohnung am 16. Juni 2017 (6.) beleidigte er die eingesetzten Polizeibeamten und wehrte sich gegen seine Verbringung in den Dienstwagen. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Juli 2017 (7.) trat er an eine Person heran, nahm sie in den Schwitzkasten und entnahm aus deren Portemonnaie 70 Euro. Auch die Antragsgegnerin hat insbesondere auf diese Vorkommnisse zur Begründung der Ausweisungsentscheidung abgestellt. Die Taten Nr. 5. und 7. sind sowohl gegen das Eigentum als auch die körperliche Unversehrtheit der Opfer gerichtet und wurden als schwere räuberische Erpressung gem. §§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1a, 253 Abs. 1, 255 StGB und Raub gem. § 249 Abs. 1 StGB eingeordnet. Die schwere räuberische Erpressung ist bereits mit einer Mindeststrafe von drei Jahren bewährt. Insofern wurde insgesamt – trotz der Einbeziehung zahlreicher weiterer Straftaten und Urteile – (nur) das Mindestmaß verhängt. Trotzdem spricht die Häufigkeit und die Schwere der Taten nach jetzigem Stand für die Wiederholung erheblicher Straftaten in der Zukunft. Zu dieser Einschätzung trägt auch das Verhalten des Antragstellers in der Haftanstalt bei, wo er weder Einsicht noch das notwendige Unrechtsbewusstsein zeigte. Soweit es im Abschlussbericht der Haftanstalt vom 22. Juni 2020 heißt, der Antragsteller habe an den Einzelgesprächen erfolgreich teilgenommen und Ursachen und Verlauf seiner Delinquenz besprochen bzw. habe er überwiegend ehrliche Reue und Problemeinsicht gezeigt, mag dieser plötzliche Umschwung auch taktische Gründe haben, nährt aber zumindest die Hoffnung auf eine Veränderung im Verhalten des Antragstellers.
Im Rahmen der konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und mit Blick auf die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren ist aber auch zu berücksichtigen, dass die tatsächlichen Grundlagen der Wiederholungsprognose nicht unveränderbar sind und die Haft, die Zeit seit der Entlassung und weitere Veränderungen im Leben des Antragstellers die Prognose relativieren (können).
Soweit der Antragsteller im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens vom einschneidenden Eindruck des Haftaufenthalts gesprochen hat, ist das Gericht aufgrund seines Verhaltens in der Haft, aber auch durch die vorgelegten neuen strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Antragsteller nicht davon überzeugt, dass die Wiederholungsgefahr bereits durch den Eindruck des Strafvollzugs nachhaltig gesunken wäre. Die Ermittlungen zeigen vielmehr, dass er sich offenbar von den Kreisen mit hoher Neigung zu Straftaten trotz anderer Beteuerungen nicht ferngehalten hat. Der Antragsteller hat im gerichtlichen Verfahren zwar darauf verwiesen, dass er sich nicht erneut strafbar gemacht habe; er habe aber Kontakt zur Polizei gehabt. Diese Aussage kann angesichts der strafrechtlichen Vorgeschichte und des bisherigen Verhaltens des Antragstellers nicht überzeugen. Insoweit hat der Antragsteller seine während der Haft abgebrochenen Kontakte offensichtlich wiederaufgenommen. Diese Tatsachen begründen nach Ansicht des Gerichts zum jetzigen Zeitpunkt eine hohe Wiederholungsgefahr. Wie hoch diese Gefahr für die öffentliche Sicherheit jedoch tatsächlich ist, kann erst abschließend bewertet werden, wenn über die strafrechtlichen Ermittlungen seit der Haftentlassung weitere Informationen zugänglich sind. Für eine abschließende Bewertung der Wiederholungsgefahr wird es darauf ankommen, ob der Antragsteller straffrei geblieben ist und ein soziales Umfeld aufgebaut hat, das für eine Straffreiheit Gewähr bietet.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind bei einer Würdigung der Gefahr für die Sicherheit und Ordnung das junge Alter des Antragstellers und die bisherige strafrechtliche Entwicklung zu berücksichtigen. Der Antragsteller ist aktuell 21 Jahre alt und seine Persönlichkeit ist offensichtlich noch nicht ausgereift. Die bisher abgeurteilten Straftaten wurden (außer Nr. 3, siehe oben) als Minderjähriger begangen. Die Gesamttypik der Straftaten ist zwar von einem erheblichen Gewaltpotential, aber teilweise auch durch die unreife Persönlichkeit geprägt. Er scheint den Unrechtsgehalt seiner Taten nicht zu erkennen und zu reflektieren. Im Gespräch schiebt er die Schuld häufig auf andere und fällt durch Albernheiten auf. Dieses Verhalten hat der Antragsteller auch in der Haft gezeigt. Dort hat er auch bei den ursprünglich angedachten Maßnahmen des Vollzugs eher weigerlich mitgewirkt. Allerdings hat er die alternativen Fördermaßnahmen angenommen und war insoweit überwiegend zur (erfolgreichen) Mitarbeit bereit. Insoweit erscheint eine Änderung seines Verhaltens mit einer Veränderung seiner Persönlichkeit hin zu einer erwachsenen, verantwortungsbewussten Person noch möglich. Dafür könnten auch die Schwangerschaft seiner Freundin und die Geburt eines eigenen Kindes sorgen. Es liegt in den Händen des Antragstellers diese Veränderung in seinem persönlichen Umfeld zu nutzen und sein Verhalten radikal zu ändern.
Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller vor seiner dreijährigen Inhaftierung (außer im Rahmen eines kurzen Freizeitarrests, eines zweiwöchigen Jugendarrests und eines viertägigen Kurzzeitarrests) noch nicht in einer Haftanstalt untergebracht war. Der Warneffekt der jugendgerichtlichen Maßnahmen war offensichtlich nicht ausreichend. Der Antragsteller ist im Hinblick auf die Strafhaft gleichwohl Erstverbüßer, der bisher nicht unter Bewährung stand bzw. gegen Bewährungsauflagen verstoßen hat und seit der Haftstrafe nicht erneut verurteilt worden ist. Die Folgen seiner Handlungen wurden ihm offenbar – aufgrund der zeitlichen Nähe und der rasanten Eskalation seiner Taten – erst durch die Urteile im Sommer 2017 und durch das die vorherigen Urteile einbeziehende Urteil vom 5. Dezember 2017 tatsächlich vor Augen geführt. Außerdem wurde die Ausweisungsentscheidung erst 2020 erlassen, sodass in diesem Zeitpunkt die Konsequenzen seiner Handlungen vollends offenbar wurden. Dafür spricht, dass die Anhörung durch die Antragsgegnerin den Antragsteller im August 2019 erheblich beeindruckt zu haben scheint und zu verschiedenen Stellungnahmen bei der Antragstellerin, aber auch zu auffälligem Verhalten in der Haftanstalt führte.
Daher bleibt festzuhalten, dass weiterhin von einer hohen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen ist, solange der Antragsteller an seiner Einstellung zu Gewalttaten und seiner Persönlichkeit nicht zu arbeiten bereit ist. Es erscheint für die Kammer gleichwohl nicht ausgeschlossen, dass die Schwangerschaft der Freundin und die anstehende Geburt eines eigenen Kindes, die Verantwortung als Elternteil und nicht zuletzt die Aussicht auf eine Bleibeperspektive trotz der bereits ausgesprochenen Ausweisung zu einem Umdenken des Antragstellers führen könnten. Es ist gleichsam zu hoffen, dass der Antragsteller nun auf der einen Seite die Möglichkeit einer zweiten Chance und gleichzeitig den Ernst seiner Lage erkennt und sein Verhalten grundlegend verändert. Er wird dafür im Rahmen des Hauptsacheverfahrens zeigen müssen, dass er diese (letzte) Chance auf eine Zukunft in Deutschland tatsächlich nutzen möchte und entsprechende Veränderungen seiner Persönlichkeit auch für das Gericht greifbar macht. Neben einer absoluten Straffreiheit wäre dafür auch die Teilnahme an verschiedenen Eingliederungsangeboten (Anti-Gewalt-Training u.ä) sinnvoll.
bb. Angesichts der hohen Wiederholungsgefahr könnte das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das Bleibeinteresse des Antragstellers im Einzelfall überwiegen (§ 53 Abs. 1 Halbsatz 2, Abs. 2 AufenthG). Solange jedoch die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und die entgegenstehenden Bleibeinteressen nicht feststehen, sind die Abwägung der Interessen und damit auch die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren offen.
Im Rahmen der Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen sind hinsichtlich der schutzwürdigen Interessen des Antragstellers auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 8 EMRK zu berücksichtigen (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 15.11.2019 – 2 B 243/19 –, juris Rn. 21). Der Antragsteller steht unter dem Schutz des Art. 8 EMRK (aaa.). Ob er als „faktischer Inländer“ zu gelten hat, ist derzeit mit Blick auf die fehlenden Wurzeln des Antragstellers in Serbien und die geringe Verwurzelung im Bundesgebiet noch nicht abschließend zu bewerten (bbb.). Als faktischer Inländer würde er zwar keinen absoluten Ausweisungsschutz genießen, seine Ausweisung wäre jedoch nur unter engen Voraussetzungen möglich (vgl. EGMR, Urteil vom 13.10.2011 - 41548/06 (Trabelsi) -, EuGRZ 2012, 11, 15; Urteil vom 18.10.2006 – 46410/99 (Üner) –, NVwZ 2007, 1279, 1282; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 –, juris Rn. 19).
aaa. Die Ausweisung des Antragstellers greift in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK ein. Der Begriff des „Privatlebens” i. S. v. Art. 8 EMRK umfasst die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen ansässigen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben (EGMR, Urteil vom 18.10.2006 – 46410/99 (Üner) –, NVwZ 2007, 1279, 1281, Rn. 59). Der Antragsteller hält sich sein ganzes Leben – inzwischen mehr als 21 Jahre – in Deutschland auf. Er ist hier geboren, zur Schule gegangen und hat zweifelsohne soziale Beziehungen zu seiner Familie, seinen Freunden und seiner Freundin aufgebaut.
bbb. Dem Antragsteller könnte aus Art. 8 EMRK ein besonders hoher Schutz als „faktischer Inländer“ zustehen.
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung muss der Ausländer dazu im Bundesgebiet ein Leben führen, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt ist und er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.2002 - 1 C 8/02 -, juris, Rn. 23; OVG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2.3.2020 – 11 S 2293/18 –, juris Rn. 31). Der Ausländer muss aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sein, dass er gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt werden könne, während er mit dem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (BVerwG, Urteil vom 29.09.1998 – BVerwG 1 C 8.96 –, juris Rn. 30; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 – 11 S 2359/10 –, juris Rn. 27; VGH München, Beschluss vom 03.07.2017 – 19 CS 17.551 –, juris Rn. 10). Dies hängt zum einen von seiner Integration in Deutschland (Dimension „Verwurzelung“) und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-) Integration in seinem Heimatland (Dimension „Entwurzelung“) ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz, einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Verwurzelung im Bundesgebiet kann dabei grundsätzlich nur während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28.02.2018 – 8 ME 1/18 –, juris Rn. 17 m. w. N.; Beschluss vom 10.11.2017 – 13 ME 190/17 –, juris Rn. 27 m. w. N.).
Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR sind für den Schutz nach Art. 8 EMRK folgende Kriterien zu berücksichtigen: Die Art und Schwere der begangenen Straftat(en); die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat(en); die familiäre Situation; ob ein Partner bei der Begründung der Beziehung Kenntnis von Straftaten hatte; das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insbesondere deren Alter; der Umfang der Schwierigkeiten, auf die die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländer zum Gastland und zum Bestimmungsland (vgl. EGMR, Urteil vom 18.10.2006 – 46410/99 (Üner) –, NVwZ 2007, 1279, 1281, Rn. 57 f. und Urteil vom 2.8.2001 – 54273/00 (Boultif) –, InfAuslR 2001, 476, 478). Auch das Alter der betroffenen Person ist bei der Anwendung dieser Kriterien zu berücksichtigen. So ist bei der Beurteilung der Art und Schwere der begangenen Straft zu prüfen, ob er diese als Jugendlicher oder als Erwachsener begangen hat. Außerdem ist bei der Prüfung der Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er auszuweisen ist, und der Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland die Situation offenkundig nicht dieselbe, je nachdem ob der Betroffene bereits als Kind oder in jugendlichem Alter in das Land gekommen ist oder sogar hier geboren wurde oder erst als Erwachsener hierher kam (EGMR, Urteil vom 23.6.2008 – 1638/03 (Maslov) –, InfAuslR 2008, 333 ff.).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs erachtet es die Kammer gegenwärtig als offen, ob der Antragsteller als faktischer Inländer einzustufen ist, der faktisch nur im Bundesgebiet sein Privatleben ausüben kann, da sich nicht nur die Bewertung der Wiederholungsgefahr, sondern mit der bevorstehenden Vaterschaft ein zentraler Aspekt seiner Verwurzelung im Bundegebiet in absehbarer Zeit verändern wird. Zudem ist die Annahme der Antragsgegnerin, die von einer serbischen Staatsangehörigkeit des Antragstellers ausgeht, für das Gericht derzeit nicht nachzuvollziehen. Insofern ist zur Entwurzelung bzw. Integrationsmöglichkeit in Serbien (aaaa.) und Verwurzelung in Deutschland (bbbb.) Folgendes zu berücksichtigen:
aaaa. Hinsichtlich der Bindungen des Antragstellers zur Republik Serbien ist zwar durchaus möglich – wenn auch keineswegs sicher –, dass der Antragsteller über eine zwischendurch bestehende serbisch/jugoslawische Staatsangehörigkeit der Eltern im Wege der Abstammung gem. Art. 7 Nr. 1 StAG-Serbien bei der Geburt am 19. August 1999 die serbische Staatsangehörigkeit erworben hat. Es ist aber nicht ersichtlich, dass ihn über dieses formale Band der Staatsangehörigkeit etwas mit Serbien verbindet. Er ist von diesem Staat nicht erst durch seinen langjährigen Aufenthalt entfremdet, sondern ihm immer fremd geblieben.
Seine Eltern sind weit vor seiner Geburt vor einem Bürgerkrieg aus dem Kosovo geflohen, an dem auch serbische Kräfte teilnahmen. Gerade serbische Kräfte machte seine Familie für die Verfolgungshandlungen verantwortlich, aufgrund derer die gesamte Familie als Asylberechtigte anerkannt wurde. Auch der Widerruf der Asylanerkennung gebietet insofern keine andere Beurteilung. Schon in tatsächlicher Hinsicht kann diese rechtliche-wertende Entscheidung eine engere Bindung des Antragstellers zur Republik Serbien nicht begründen. Zudem stützt sich der Widerruf der Asylanerkennung auf die infolge der Unabhängigkeit des Kosovo nicht mehr drohende Verfolgung durch serbische Einheiten, während hier eine Bindung des Antragstellers zur Republik Serbien als der Nation der damaligen Verfolger in Rede steht, Zwar mag sich auch in Serbien die Situation für Kosovo-Albaner nach dem Ende des Bürgerkriegs deutlich gebessert haben – auch darauf stellt das BAMF im Widerrufsbescheid ab –, doch tatsächliche Erschwernisse in der (erstmaligen) Integration eines Kosovo-Albaners in die serbische Gesellschaft hält die Kammer für wahrscheinlich (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.9.2008 – 13 S 1812/07 –, juris Rn. 39 spricht insoweit von ethnischer Diskriminierung). Dies gilt mit Blick auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Serbien allgemein und in besonderem Maße unter Berücksichtigung der Folgen der Corona-Pandemie. In Serbien liegt die Jugendarbeitslosigkeit derzeit wohl bei 32,4 Prozent (https://de.tradingeconomics.com/serbia/youth-unemployment-rate, abgerufen am 28.4.2021), im Kosovo bei 46,9 Prozent (BT-Drs. 19/27615, Antwort auf Kleine Anfrage vom 17.3.2021, S. 13). Dafür spricht im Einzelfall auch die Tatsache, dass der Antragsteller nach seinem unbestrittenen Vorbringen keinerlei Kenntnisse der serbischen Sprache oder eine schulische oder berufliche Ausbildung hat. Dass sich der Antragsteller mit seiner im Entstehen befindlichen Familie in Serbien integrieren kann, dürfte weiterhin dadurch erschwert werden, dass seine Partnerin nach eigener Aussage staatenlose Roma ist und ihrerseits gesellschaftlichen Vorbehalten und Diskriminierungen ausgesetzt wäre. Inwieweit dem Antragsteller eine Integration nach Wiedererlangung der albanischen oder kosovarischen Staatsangehörigkeit in diesen Ländern möglich wäre, ist für die Frage der konkret angedrohten Abschiebung nach Serbien ohne Bedeutung.
bbbb. Die Verwurzelung des Antragstellers im Bundesgebiet ist derzeit noch gering ausgeprägt, kann sich in absehbarer Zeit jedoch weiter verdichten.
Insoweit ist auf der einen Seite zu berücksichtigen, dass sich der Antragsteller bisher in wirtschaftlicher und auch in rechtlicher Hinsicht nicht in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügt. Es ist ihm bislang nicht gelungen, eine schulische oder berufliche Perspektive zu entwickeln. Seine schulische Ausbildung hat er abgebrochen und sich auch in der Haft und im gerichtlichen Verfahren bisher keine weiteren Perspektiven erarbeitet. Nach Aussage der Führungsaufsicht ist er zwar interessiert an weiteren Maßnahmen, hat aber bisher keine konkreten Schritte aufzeigen können. Solche wären aber hinsichtlich einer tragfähigen und dauerhaften Verwurzelung im Bundesgebiet dringend notwendig. Im Schreiben der Familie vom 30. Januar 2020 hatte diese auf die konkrete Möglichkeit einer Schulausbildung und eines Ausbildungsplatzes bei einer Kfz-Werkstatt hingewiesen. In der Haft hat der Antragsteller zumindest die alternativen Fördermaßnahmen wahrgenommen. Dass er intellektuell nicht in der Lage wäre, weitere Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten wahrzunehmen, ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht. Er kann diese auch mit einer Duldung mit Beschäftigungserlaubnis ergreifen. Darüber hinaus ist sein bisheriger Werdegang von einer offenen Missachtung hier geltender (Straf-)Vorschriften geprägt. Die wiederholten und schwerwiegenden Straftaten lassen nicht erkennen, dass er die hiesige Rechtsordnung einhalten und sich daher in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen möchte. Insoweit ist aber mit den Ausführungen des EGMR zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er die Straftaten (außer Nr. 3, siehe oben) allesamt noch als Jugendlicher begangen hat (vgl. § 1 Abs. 2 JGG). Diese Tatsache ist bei der Abwägung im Einzelfall miteinzustellen und wäre – solange nicht eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers nach der Entlassung aus der Haftanstalt und seiner mittlerweile eingetretenen Volljährigkeit und Unanwendbarkeit des JGG als nicht einmal mehr Heranwachsender (siehe erneut § 1 Abs. 2 JGG) eintritt – mildernd zu berücksichtigen.
Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Er spricht (nur) die deutsche Sprache. Der Antragsteller hat immer einen festen Wohnsitz gehabt und – soweit ersichtlich – keine Sozialleistungen bezogen. Er hat Freunde und eine Freundin sowie starke Familienbande. Zwar ist den Bindungen des Antragstellers zu seiner Familie – zu seinen Eltern und seinen Geschwistern – in der Abwägung nur ein geringes Gewicht beizumessen, da der Antragsteller volljährig und daher nicht mehr in besonderem Maße auf die Unterstützung und Hilfe seiner Familienmitglieder angewiesen ist. Trotzdem haben diese Personen den Antragsteller auch nach den strafrechtlichen Verurteilungen unterstützt, ihn regelmäßig in der Haftanstalt besucht, seine Schulden gezahlt, Unterstützungsschreiben vorgelegt und ihm Zeit seines Lebens ein Zuhause gestellt. Die Familienmitglieder sind deutsche Staatsangehörige und offensichtlich gut integriert. Auch der Antragsteller hätte unter Umständen bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, wenn er nicht im Anschluss an seinen Antrag auf Einbürgerung vom 14. Dezember 2012 und vor der Entscheidung der Antragsgegnerin mit den ersten strafrechtlichen Vergehen aufgefallen wäre. Mit der bevorstehenden Geburt eines eigenen Kindes würden dem Antragsteller noch neue und besonders schutzbedürftige Interessen i. S. v. Art. 8 EMRK zustehen, da das Wohl und das Alter von eigenen Kindern nach der Rechtsprechung des EGMR ausdrücklich zu berücksichtigen ist. Ob und inwieweit der Antragsteller solche schutzwürdigen Bindungen in die Abwägung einbringen kann, ist derzeit allerdings noch nicht abschließend zu bewerten.
Insoweit liegt es auch hinsichtlich der tatsächlichen Verwurzelung in den Händen des Antragstellers, auf der einen Seite keinen Grund für weitere strafrechtliche Ermittlungen zu bieten und auf der anderen Seite eine tragfähige schulische und berufliche Perspektive zu entwickeln und eine familiäre Gemeinschaft zu begründen. Die Kammer wird die weitere Entwicklung des Antragstellers im Laufe des Hauptsacheverfahrens berücksichtigen und letztlich in einer Hauptsacheentscheidung zu würdigen haben.
cc. Die bis dahin aufgrund der offenen Erfolgsaussichten vorzunehmende Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz fällt zugunsten des Antragstellers aus. Derzeit überwiegen die Interessen des Antragstellers den Fortgang des Klageverfahrens in Deutschland abwarten zu dürfen gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung. Müsste sich der Antragsteller während des Klageverfahrens im Ausland aufhalten, drohte angesichts der aktuellen Durchschnittdauer verwaltungsgerichtlicher Hauptsacheverfahren, dass der Antragsteller die Geburt seines Kindes mit Blick auf den voraussichtlichen Geburtstermin am J. 2021 im Ausland erleben müsste und damit weder der Kindsmutter noch dem Neugeborenen zur Seite stehen könnte. Das Interesse der Kindsmutter und des noch ungeborenen Kindes auf Unterstützung durch den Antragsteller vor, während und nach der Geburt ist gem. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK besonders schützenswert. Für den Fall einer Risikoschwangerschaft stellt die Vaterschaft wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ein (wenngleich befristetes) selbstständiges Abschiebungshindernis dar (weitergehend für alle Fälle einer Schwangerschaft sogar VG Hannover, Beschluss vom 17.9.2019 – 5 B 3968/19 –, juris Rn. 10 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung). Im Rahmen der Abwägung der derzeitigen Ausweisungs- mit den derzeitigen Bleibeinteressen würde eine Abschiebung noch vor dem Ende des Hauptsacheverfahrens die Verwirklichung dieser Rechte unwiederbringlich verhindern. Nach der Geburt könnte der Schutz des Art. 8 EMRK durch den Aufbau einer familiären Gemeinschaft weiter erstarken und einer Abschiebung letztlich entgegenstehen. Dieser Weg sollte durch eine Abschiebung im Laufe des Hauptsacheverfahrens nicht ausgeschlossen werden. Außerdem würde eine Abschiebung die Bemühungen um eine weitere familiäre, wirtschaftliche und rechtliche Verwurzelung des Antragstellers beeinträchtigen. Demgegenüber sind die öffentlichen Interessen an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung geringer einzustufen. Zwar ist der genaue Grad der Wiederholungsgefahr noch nicht abschließend geklärt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich die Wiederholungsgefahr nicht wieder realisiert (hat) und die Ausweisungsinteressen daher auch dauerhaft hinter den Bleibeinteressen zurücktreten.
dd. Die aufschiebende Wirkung der Klage ist auch bezüglich der Abschiebungsandrohung und des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots anzuordnen, weil mit den offenen Erfolgsaussichten der Klage hinsichtlich der Ausweisung auch offen ist, ob infolgedessen die gesetzliche Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG als tatbestandliche Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung und für den Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eintreten wird.
Die danach gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers. Dabei berücksichtigt die Kammer zum einen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und die deshalb wiederhergestellte aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Ausweisung, aufgrund derer die Ausreisepflicht des Antragstellers nicht vollziehbar ist und die einem Vollzug der Aufenthaltsbeendigung durch die Antragsgegnerin von vorneherein entgegensteht. Zum anderen sind von der Antragsgegnerin keine Gründe geltend gemacht worden oder sonst ersichtlich, die den Bestand einer für sich zwar vollziehbaren, aber mangels notwendiger gleichzeitiger Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht tatsächlich nicht zu vollziehenden Abschiebungsandrohung bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erfordern oder auch nur nachvollziehbar erklären könnten (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28.1.2021 – 13 ME 355/20 –, juris Rn. 36f.).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 1.5 i. V. m. Nr. 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).
Werden in einem Verfahren gegen eine Ausweisung auch die Abschiebungsandrohung oder die Entscheidung über die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots angegriffen, wirkt sich dies nicht streitwerterhöhend aus (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.8.2018 – 11 S 1776/18 –, juris Rn. 20; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.9.2016 – 7 B 10406/16 –, juris Rn. 50). Eine Halbierung des Auffangwertes von 5.000,00 Euro kommt hier wegen der mit Entscheidung über die vorzeitige Aufenthaltsbeendigung zumindest teilweise einhergehenden Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht.