Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.05.2010, Az.: 11 LA 547/09

Umfang und Wirksamkeit der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Niedersachsen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.05.2010
Aktenzeichen
11 LA 547/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 16085
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0514.11LA547.09.0A

Fundstellen

  • DVBl 2010, 860
  • FStNds 2010, 642-645
  • NdsVBl 2010, 247-249
  • NordÖR 2010, 318-320

Amtlicher Leitsatz

Zum Umfang und zur Wirksamkeit der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nach § 8a Nds AG VwGO i.d.F. von 2008

Gründe

1

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

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Der Kläger beantragte im August 2007 beim Beklagten, ihm die Genehmigung zur Durchführung des qualifizierten Krankentransport nach § 19 NRettDG mit zwei Fahrzeugen zu erteilen. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. August 2008 ab. Der Bescheid enthielt die Belehrung, dass dagegen binnen eines Monats nach Bekanntgabe Klage beim Verwaltungsgericht erhoben werden könne. Der Kläger legte am 27. August 2008 beim Beklagten Widerspruch ein, der vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2009 als unzulässig zurückgewiesen wurde. Am 12. Juni 2009 hat der Kläger den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Das Verwaltungsgericht hat die durch § 8a Nds. AG VwGO in der Fassung des Gesetzes vom 5. November 2004 (Nds. GVBl. S. 394), geändert durch Gesetz vom 7. Dezember 2006 (Nds. GVBl. S. 580) - nachfolgend Nds. AG VwGO a.F. -, erfolgte partielle Abschaffung des Widerspruchsverfahrens als wirksam angesehen und deshalb die Verpflichtungsklage gegen den Ausgangsbescheid wegen Verfristung als unzulässig abgewiesen. Die gegen den Widerspruchsbescheid gerichtete Klage sei zulässig, aber unbegründet.

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Ernstliche Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit dieses Urteils bestehen nicht.

4

Dem Kläger kann zunächst nicht in der Annahme gefolgt werden, dass nach § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO i.V.m. § 8a Nds. AG VwGO a.F. in Niedersachsen auch im Jahr 2008 auf den Rechtsgebieten, die - wie das Recht des Rettungsdienstes - nicht in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a.F. aufgeführt waren, ein fakultatives, den Eintritt der Bestandskraft des angegriffenen Bescheides ausschließenden Widerspruchsverfahren nach § 68 VwGO und damit auch der von ihm im August 2008 eingelegte Widerspruch zulässig war.

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Eine solche Möglichkeit ergibt sich zunächst nicht - wie vom Kläger vorgetragen - unmittelbar aus dem Bundesrecht. Zwar ist der Wortlaut des § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO für eine solche Auslegung durchaus offen ("bedarf es nicht"). Aus der Entstehungsgeschichte sowie der Systematik und der jahrzehntelangen Anwendungspraxis der Norm ergibt sich jedoch, dass der Gesetzgeber mit dieser Formulierung in den Fallgruppen des § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht kraft Bundesrecht ein fakultatives Widerspruchsverfahren einführen, sondern das Widerspruchsverfahren ausschließen wollte (vgl. Meier, Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens, S. 42 f., m. w. N; Kopp/Schenke, VwGO, vor § 68, Rn. 12, Ziffer 7, § 68, Rn. 17). So sind die vor Einführung der VwGO teilweise bestehenden Regelungen über ein fakultatives Widerspruchsverfahren nicht übernommen und ähnliche Regelungen über eine sog. Sprungklage in den Verfahrensordnungen für die Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit bewusst in der Verwaltungsgerichtsordnung nicht aufgegriffen worden (vgl. die Nachweise bei Presting, DÖV 1976, 268, 272; Unterreitmeier, BayVBl. 2007, 609, 613; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686, 692). Zudem muss nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden, wenn ein Widerspruchsbescheid nach § 68 (Abs. 1 Satz 2) VwGO nicht "erforderlich" ist. Dementsprechend ist auch in der Verwaltungspraxis - soweit ersichtlich - etwa bei den in § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO ausdrücklich genannten obersten Bundes- oder Landesbehörden kein fakultatives Widerspruchsverfahren auf der Grundlage des § 68 Abs. 1 Abs. 2 VwGO durchgeführt worden, bis die "fast in Vergessenheit geratene Idee" (Unterreitmeier, a.a.O.,) von der Durchführung eines fakultativen Widerspruchsverfahrens landesrechtlich ab 2005 eine Renaissance erlebte.

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Denn landesrechtlich kann ein fakultatives Widerspruchsverfahren eingeführt werden. Zwar wird diese Möglichkeit bundesrechtlich in § 68 Abs. 1 VwGO nicht ausdrücklich eröffnet, gleichwohl aber überwiegend für zulässig erachtet (vgl. zu der im Juli 2005 bundesweit unter der Geltung der VwGO erstmals erfolgten Einführung dieses sog. Optionsmodells in Mecklenburg-Vorpommern: Biermann, NordÖR 2007, 139, 147 f., sowie zur aktuellen Rechtslage in Bayern: Bay. Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 23.10.2008 - Vf. 10-VII-07-, NVwZ 2009, 716 ff., jeweils m.w.N. auch zur Gegenansicht). Da nach den vorherigen Ausführungen aber nicht der Ausschluss - wie vom Kläger geltend gemacht wird -, sondern die Einführung eines solchen Optionsmodells die legitimationsbedürftige Ausnahme darstellt, bedarf eine solche Regelung im Interesse der Klarheit über die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Klage der eindeutigen normativen Grundlage im Landesrecht. Anders als etwa der vom Kläger angeführte Art. 15 des bayrischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung enthielt § 8a Nds. AG VwGO a.F. eine solche Regelung über ein fakultatives Widerspruchsverfahren bewusst nicht.

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Das Widerspruchsverfahren ist damit in Niedersachsen mit Inkrafttreten des o. a. Gesetzes vom 5. November 2004 zum 1. Januar 2005 außerhalb der in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a.F. ausdrücklich und spezialgesetzlich (Beamten- und Sozialrecht)aufgeführten Rechtsgebiete und der unmittelbar aus höherrangigem Recht folgenden Fallgruppen insgesamt abgeschafft und damit unzulässig geworden, ohne den Betroffenen eine Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage zu eröffnen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 3.11.2009 - 4 LB 181/09 - [...], Rn. 30 f.; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686). So ist in der abschließenden Beratung im Niedersächsischen Landtag zum Änderungsgesetz vom 5. November 2004 unwidersprochen von der Opposition kritisiert worden, dass "vom Frühjahr 2005 an immer mehr Leute feststellen werden, dass sie kein Widerspruchsrecht mehr haben, sondern dass sie, wenn sie sich gegen einen Bescheid wehren wollen, zum Verwaltungsgericht gehen und wesentlich höhere Kosten erstatten müssen" (PlProt. 15/4769). An die Stelle des Vorverfahrens ist in nach dem "Evaluationsbericht" der vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport beauftragten Gutachtergruppe der Universität Lüneburg in der Praxis teilweise ein sog. "Beschwerdemanagement" getreten, mit dem die Behörde innerhalb der laufenden Klagefrist auf Einwände des Betroffenen gegen den Ausgangsbescheid reagiert. Ein fakultatives Widerspruchsverfahren soll in Niedersachsen aus Sicht der Landesregierung aber auch zukünftig nicht eingeführt werden (vgl. LT-Drs. 16/1414, S. 4).

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Der so verstandene § 8a Nds. AG VwGO a.F. stand auch mit § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO in Übereinstimmung. § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO enthält abweichend von § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGG (vgl. LT-Drs. 15/2166, S. 7) eine uneingeschränkte Ermächtigung, durch (Landes-)Gesetz das Widerspruchsverfahren abzuschaffen. Die vom Kläger geltend gemachte ungeschriebene Einschränkung, die Abschaffung dürfe nur "bereichsspezifisch" erfolgen, hat im maßgeblichen Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden (vgl. Bay. Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 23.10.2008 - Vf. 10-VII-07-, NVwZ 2009, 716 ff., m.w.N.); über die Bedeutung und Reichweite einer solchen ungeschriebenen Einschränkung bestand entgegen einer teilweise in der Literatur (vgl. die Nachweise des Bay. Verfassungsgerichtshofes, Beschl. v. 23.10.2008, a.a.O., sowie v. 15.11.2006 - Vf. 6-VII-05, Vf. 12-VII-05, BayVBl 2007, 79 ff.) vertretenen Einschätzung auch in dem Gesetzgebungsverfahren zum 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626), mit dem § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO seinen heutigen Inhalt erhalten hat, keine Klarheit (vgl. die Darstellung des Verfahrens bei Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686, 691). Inwieweit die Länder von der Ermächtigung des § 68 Abs. 1 VwGO zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens Gebrauch machen, ist demnach eine rechtspolitische Frage (vgl. zur Diskussion in Niedersachsen van Nieuwland, NdsVBl 2007, 38 ff., sowie zuletzt etwa LT-Drs. 16/1880, 1). Jedenfalls steht danach Bundesrecht der in § 8a Nds. AG VwGO a.F. enthaltenen Regelung nicht entgegen. Schon das Verwaltungsgericht hat zutreffend ergänzend darauf hingewiesen, dass § 8a Nds. AG VwGO a.F. ohnehin nicht die vom Kläger für rechtswidrig erachtete vollständige Abschaffung des Widerspruchsverfahrens enthielt, sondern ein Widerspruchsverfahren nicht nur in den bereits unmittelbar kraft höherrangigem Recht vorgeschriebenen Fällen (vgl. LT-Drs. 15/2166, S. 5), sondern auch in den in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a.F. ausdrücklich aufgeführten, "zentralen" Rechtsgebieten wie etwa dem Bau-, Schul- und Umweltrecht unverändert weiterhin notwendig war. Zeitnah ist auf Grund der in der Praxis gewonnenen Erfahrungen durch Änderungsgesetz vom 7. Dezember 2006 (Nds. GVBl. S. 580) der Kreis der Rechtsgebiete, in denen ein Widerspruchsverfahren weiterhin erforderlich ist, erweitert worden. Zusätzlich enthielt § 8a Nds. AG VwGO a.F. eine Befristung, um die Wirkung der - in dem genannten Umfang erfolgten - Abschaffung des Vorverfahrens bis zum Jahresende 2009 umfassend zu "evaluieren". Eine solche gegenständlich begrenzte und zeitlich befristete, also zunächst "probeweise" Abschaffung des Widerspruchsverfahrens wäre selbst dann mit § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu vereinbaren, wenn man danach über den Wortlaut der Norm hinausgehend eine besondere sachliche Rechtfertigung für eine weitgehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens durch Landesrecht für notwendig erachten würde (vgl. Bay. Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 15.11.2006 - Vf. 6-VII-05, Vf. 12-VII-05, BayVBl 2007, 79 ff.).

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Da das Rettungsdienstrecht nicht zu den in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a.F. genannten Rechtsgebieten gehört und insoweit auch nicht unmittelbar kraft höherrangigem Recht ein Widerspruchsverfahren durchzuführen war, war der Widerspruch des Klägers gegen den mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid des Beklagten vom 20. August 2008 unstatthaft. Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Ausgangsbescheid vom 20. August 2008 gerichtete, aber erst am 12. Juni 2009 erhobene Verpflichtungsklage daher gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu Recht als verfristet und somit unzulässig abgewiesen. Ebenso wenig konnte die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2009 Erfolg haben. Der Beklagten stand nach den vorherigen Ausführungen nicht die Befugnis zu, über den unstatthaften Widerspruch in der Sache zu entscheiden.

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Ein etwaiger Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens hinsichtlich des ursprünglichen Genehmigungsantrages des Klägers vom August 2007, eine Entscheidung über den späteren neuen Genehmigungsantrag des Klägers oder über sein Vorbringen, er sei kraft der Fiktionswirkung des § 21 NRettDG i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 5 PBefG (vgl. dazu OVG Greifswald, Beschl. v. 9.12.2003 - 1 L 174/03 -, [...]) bereits im Besitz der umstrittenen Genehmigung, sind nicht Gegenstand dieses Zulassungsverfahrens. Wäre der Kläger - wie er mit Schriftsatz vom 14. Januar 2010 zuletzt geltend gemacht hat - bereits Inhaber der streitigen Genehmigung, so wäre die auf Erteilung einer solchen Erlaubnis gerichtete Verpflichtungsklage im Übrigen ohnehin unzulässig.

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Dem Rechtsstreit kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu. Dazu kann offen bleiben, ob das Zulassungsvorbringen insoweit den sich aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ergebenden Anforderungen an die Darlegung genügt. Jedenfalls ergibt sich aus den vorherigen Ausführungen auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens, dass durch § 8a Nds. AG VwGO a.F. in Niedersachsen kein "fakultatives Widerspruchsverfahren" eingeführt worden oder unmittelbar nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässig gewesen ist und dass § 8a Nds. AG VwGO a.F. auch "mit höherrangigem Recht, insbesondere § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO," vereinbar war. Außerdem ist § 8a Nds. AG VwGO in der Fassung des Gesetzes vom 5. November 2004 (Nds. GVBl. S.394) nicht nur durch das bereits zum 15. Dezember 2006 im Kraft getretene Gesetz vom 7. Dezember 2006 (Nds. GVBl. S. 580), mit dem der Katalog der in Absatz 3 genannten Rechtsgebiete ausgeweitet worden ist, sondern auch durch das zum 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Gesetz vom 25. November 2009 (Nds. GBVl. S. 347), mit dem die in der seit 2005 geltenden Fassung des § 8a Nds. AG VwGO enthaltene Befristung bis zum Jahresende 2009 aufgehoben worden ist, nochmals geändert worden; bei § 8a Nds. AG VwGO a.F. handelt es sich also um ausgelaufenes Recht. Einem Streit um die zutreffende Auslegung bzw. die Wirksamkeit ausgelaufenen Rechts kommt aber in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO mehr zu (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 17.2.2010 - 5 LA 342/08 -, [...], m.w.N.). Wegen der zwischenzeitlich erfolgten Änderungen stellen sich die aufgeworfenen Rechtsfragen bei § 8a Nds. AG VwGO in der aktuellen Fassung auch nicht in gleicher Weise.