Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 12.01.2022, Az.: 5 B 1754/21
Freizügigkeitsrecht; Niederlassungsfreiheit; rechtsmissbräuchlich; selbständige Tätigkeit; unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen; unerhebliche Tätigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.01.2022
- Aktenzeichen
- 5 B 1754/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59481
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004
- § 2 Abs 3 Nr 2 FreizügG/EU 2004
- § 4a FreizügG/EU 2004
- § 4a Abs 2 Nr 2a) FreizügG/EU 2004
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein (dauerhaft erworbenes) Recht auf Einreise und Aufenthalt kann die Antragstellerin aus einer selbständigen Tätigkeit von 5,5-6 Stunden in der Woche nicht ableiten, weil sie durch die unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen rechtsmissbräuchlich gehandelt hat.
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
Sie ist am D. 1959 in Bulgarien geboren, bulgarische Staatsangehörige und ohne Berufsausbildung. Sie meldete sich zum 1. Juli 2012 in einer Wohnung im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin an. Nachdem sie ab dem 27. Oktober 2012 vorübergehend unbekannt verzogen war, meldete sie am 16. November 2013 dort erneut einen Wohnsitz an. Sie hat nach eigenen Angaben vier Kinder, wovon drei in Deutschland leben.
In den beigezogenen Akten des Jobcenters (Region A-Stadt) befindet sich ein Arbeitsvertrag als geringfügig beschäftigte Küchenhilfe mit sechs Stunden in der Woche vom 25. März 2014. Ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 31. März 2014 wurde zunächst wegen unvollständiger Unterlagen abgelehnt. Auf den erneuten Antrag vom 1. August 2014 bewilligte das Jobcenter am 6. November 2014 zunächst vorläufig Sozialleistungen in Höhe von 460,51 Euro rückwirkend und für den Zeitraum bis zum 31. Januar 2015. Der Aufforderung bereits in der ersten Eingliederungsvereinbarung vom 5. August 2014, an einem Integrationskurs teilzunehmen, kam die Antragstellerin nicht nach. Auf die fortlaufend gestellten Weiterbewilligungsanträge in den folgenden Jahren bewilligte das Jobcenter jeweils Leistungen zwischen 450 Euro und 500 Euro im Monat. Dabei rechnete es den jeweils mit der Anlage EKS angegebenen Einnahmeüberschuss an, den die Antragstellerin seit dem 27. Juni 2014 aus einer Tätigkeit als selbständige Schneiderin erzielt hat. Dabei ergab sich im Schnitt ein Umsatz von knapp über 200 Euro im Monat und ein Gewinn von knapp unter 200 Euro monatlich. In den Sommermonaten 2017 gab die Antragstellerin einen etwas geringeren Gewinn an, sodass für einzelne Monate mehr als 500 Euro bewilligt wurden. Das Jobcenter lehnte Anträge für August und September 2016 wegen fehlender Mitwirkung sowie vom 1. April 2018 bis 30. September 2018 wegen divergierender Angaben und damit fehlenden Nachweises des Leistungsanspruchs ab. Mit zwei Erklärungen gegenüber dem Jobcenter vom 21. Juli 2019 und vom 15. August 2019 gab die Antragstellerin an, im Zeitraum zwischen 1. Oktober 2018 und 15. August 2019 tatsächlich nur im Oktober 2018 einen Betrag von 75 Euro erworben zu haben. Mit dem Weiterbewilligungsantrag vom 21. August 2019 wurde die Gewerbeabmeldung seit dem 15. August 2019 vorgelegt. Zunächst wurden noch Leistungen ab Oktober 2019 bis Oktober 2020 i. H. v. 566,55 bzw. 574,55 Euro bewilligt, aber wegen des Wegfalls der Erwerbsfähigkeit mit Bescheid vom 29. April 2020 zum 1. Juni 2020 aufgehoben.
Seit dem 12. November 2019 ist sie nach Einschätzung der Sozialbehörden nicht erwerbsfähig. Am 7. Februar 2020 stellte sie einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente, der mit Schreiben vom 26. Februar 2020 wegen mangelnder Wartezeit abgelehnt wurde. Sie habe statt der erforderlichen 60 Monate nur einen Wartezeitmonat erreicht. Zwischen dem 15. März 2014 und 30. Juni 2014 sei sie geringfügig, nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Ab dem 1. August 2014 bis zum 31. Dezember 2019 habe sie – mit Ausnahme der Monate August und September 2016 sowie April bis September 2018 – durchgehend Leistungen nach dem SGB II bezogen. Am 19. Mai 2020 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII, die ihr am 13. August 2020 bewilligt wurden.
Mit Schreiben vom 21. August 2020 hörte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu der Absicht an, den Verlust ihres Rechts auf Einreise und Aufenthalt festzustellen. Darauf entgegnete die Tochter der Antragstellerin mit Schreiben vom 26. August 2020, dass die Antragstellerin aufgrund psychischer und physischer Erkrankungen nicht arbeiten könne und legte verschiedene Atteste, insbesondere zu einer Hirnleistungsminderung, Alzheimer mit spätem Beginn, (mehrfachen) schweren depressiven Episoden und einer degenerativen Veränderung der Wirbelsäule, Gangunsicherheit, Adipositas, Diabetes, sowie einen Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 70 mit Merkzeichen G seit dem 2. September 2019 vor.
Mit Bescheid vom E. 2020 stellte die Antragsgegnerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest, forderte sie zur Ausreise innerhalb von einem Monat ab Zustellung der Verfügung auf und drohte ihr die Abschiebung nach Bulgarien an. Zur Begründung führte sie aus, dass weder ersichtlich noch nachgewiesen sei, dass die Antragstellerin nach der Einreise auf Arbeitssuche gewesen sei oder eine Beschäftigung oder Berufsausbildung aufgenommen habe. Daher sei sie zu keinem Zeitpunkt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 1a FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Die Erkrankungen seien nicht vorübergehend i. S. v. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU. Sie habe auch keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 4 FreizügG/EU. Zudem habe sie kein Daueraufenthaltsrecht i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 7 i. V. m. § 4a FreizügG/EU erworben. Im Rahmen des Ermessens sei bereits einschränkend festzustellen, dass trotz des mehrjährigen Aufenthalts zu keinem Zeitpunkt ein Freizügigkeitsrecht bestanden habe. Schützenswerte persönliche Bindungen i. S. v. Art. 6 GG besitze sie nicht. Der Schutz des Familienlebens nach Art. 8 EMRK rechtfertige ebenfalls keinen weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Aus den vorgelegten Attesten sei auch nicht ersichtlich, dass sie auf die Lebenshilfe der volljährigen Tochter angewiesen sei. Es seien keinerlei Integrationsleistungen erkennbar. Eine Wiedereingliederung im Heimatland sei möglich. Eine Reiseunfähigkeit sei weder ersichtlich noch nachgewiesen. Auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, insbesondere nach § 25 Abs. 5 AufenthG, komme nicht in Betracht.
Die Antragstellerin hat am D. 2020 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist –F. – und gleichzeitig um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass sie durchgehend selbständig beschäftigt gewesen sei. Die entsprechenden Nachweise habe sie beim Jobcenter eingereicht, das Einkommen sei gegengerechnet worden. Zudem seien die Ermessenserwägungen fehlerhaft. Die Antragstellerin sei erwerbsunfähig, sodass nicht nachzuvollziehen sei, inwieweit von einer vorübergehenden Einschränkung ausgegangen werde. Außerdem stehe die Erkrankung einer Rückkehr in das Heimatland entgegen. Aufgrund der psychischen Beeinträchtigung sei sie auf die Betreuung der Tochter angewiesen, weshalb eine besondere Bindung bestehe, die in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK falle. Sie könne mangels finanzieller und kognitiver Mittel auch keine Betreuungsperson in Bulgarien organisieren. Die Antragstellerin sei aufgrund der Krankheiten nicht in der Lage zu arbeiten, sodass der Sozialleistungsbezug nicht negativ zu berücksichtigen sei. Die Rechtsprechung zur unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen sei zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangen und nicht auf Selbständige zu übertragen. Die Antragstellerin habe alles getan, um die Umsätze zu steigern. Auch das geringe Einkommen sei ausreichend. Sie legt einige der Erklärungen zu ihrem Einkommen aus ihrer Tätigkeit als Schneiderin gegenüber dem Jobcenter vor.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 7. September 2020 anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie verweist auf den streitgegenständlichen Bescheid und ergänzt, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe. Ein Pflegegutachten sei nicht vorgelegt worden, sodass weder eine Reiseunfähigkeit noch eine außergewöhnliche Härte ersichtlich seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs sowie der Akten des Jobcenters Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat keinen Erfolg.
Er ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage gegen die Verlustfeststellung hat gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung, da die sofortige Vollziehung angeordnet wurde. Daher wäre die aufschiebende Wirkung auf Antrag gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO wiederherzustellen. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung entfällt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 64 Abs. 4 NPOG und wäre dahingehend i. S. v. § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO anzuordnen.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 AufenthG ist unbegründet.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt in formeller Hinsicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen ist. Hierzu hat die Antragsgegnerin im Wesentlichen ausgeführt, dass die Antragstellerin nicht nachgewiesen habe, zu irgendeinem Zeitpunkt Arbeitnehmerin gewesen zu sein oder über ausreichende Existenzmittel verfügt zu haben. Aufgrund der hohen Kosten für Sozialausgaben sei nicht hinnehmbar, dass sie sich während eines Klageverfahrens in Deutschland aufhalte. Ihre weitere Anwesenheit sei dazu geeignet, die Reintegration im Heimatland zu erschweren und damit die Durchsetzung des Bescheides erheblich zu beeinträchtigen. Damit hat die Antragstellerin die erforderliche Folgenabwägung zwischen der aufschiebenden Wirkung der Klage und der vorläufigen Vollziehung getroffen. Ob diese inhaltlich tragfähig ist, ist für die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unerheblich. Denn § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO verlangt nicht, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also inhaltlich die getroffene Maßnahme rechtfertigen. Dies ist stattdessen Gegenstand der gesonderten, folgenden (materiellen) Prüfung nach § 80 Abs. 5 VwGO (Nds. OVG, Beschluss vom 18.3.2021 – 12 ME 40/21 – n. V.).
Auch in materieller Hinsicht erweist sich der angefochtene Bescheid nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab als rechtmäßig.
Die bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Gericht zu treffende Ermessensentscheidung setzt eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen voraus, in die auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache mit einzubeziehen sind. Bei einem nach summarischer Prüfung offensichtlich Erfolg versprechenden Rechtsbehelf überwiegt im Hinblick auf die Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmende Garantie effektiven Rechtsschutzes das Suspensivinteresse des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse, so dass die aufschiebende Wirkung grundsätzlich wiederherzustellen ist. Ergibt eine summarische Einschätzung des Gerichts hingegen, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache erfolglos bleiben wird, ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz unbegründet, denn ein begründetes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung entfällt nicht dadurch, dass der Verwaltungsakt offenbar zu Unrecht angegriffen wird. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder – wie hier – Entscheidung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 – BVerwG 1 C 21.18 –, juris Rn. 11; Urteil vom 22.2.2017 – BVerwG 1 C 3.16 –, juris Rn. 18; Urteil vom 16.7.2015 – BVerwG 1 C 22/14 –, juris Rn. 11; Urteil vom 10.7.2012 – BVerwG 1 C 19.11 –, juris Rn. 12).
Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechtes ist § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU. Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen. Die Antragstellerin erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, weil sie nicht (mehr) im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt ist (1. und 2.). Auf das in der Vergangenheit (formal) bestehende Freizügigkeitsrecht kann sie sich nicht berufen (3.). Der Bescheid der Antragsgegnerin ist auch im Übrigen rechtmäßig.
1. Die Antragstellerin ist weder Arbeitnehmerin, noch auf Arbeitssuche i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 1a FreizügG/EU. Eine Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft in Folge des abgeschlossenen Arbeitsvertrages aus dem Jahre 2014 gem. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Zur Glaubhaftmachung ist sie vorliegend ungeachtet der prinzipiell einschlägigen Vermutung, dass EU-Bürgern ein Freizügigkeitsrecht zusteht, gemäß § 5 Abs. 3 und Abs. 2 FreizügG/EU schon deswegen verpflichtet, weil für die Antragsgegnerin durch das Bekanntwerden ihres Antrags auf Sozialleistungen nach SGB XII besonderer Anlass bestand, das Vorliegen bzw. den Fortbestand der Voraussetzungen des Rechts nach § 2 FreizügG/EU zu überprüfen.
2. Die Antragstellerin ist nicht mehr als Selbständige tätig (a.). Auch ein daraus ggf. begründetes Freizügigkeitsrecht wirkt nicht bis zum heutigen Tage fort (b.). Eine andere Tatbestandsvariante des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU ist nicht erfüllt (c.)
a. Niedergelassene selbständige Erwerbstätige i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU müssen für eine Freizügigkeitsberechtigung eine wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf grundsätzlich unbestimmte Zeit ausüben. Die Art der ausgeübten Tätigkeit ist unerheblich, solange eine wirtschaftlich relevante Tätigkeit ausgeübt wird oder ausgeübt werden soll und sie Erwerbszwecken dient. Weiterhin ist Voraussetzung, dass diese Tätigkeit tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, Urteil vom 25.7.1991 – C-221/89 –, juris Rn. 20, Factortame). Die Registrierung eines Gewerbes oder einer Betriebsstätte allein reicht somit nicht aus, um in den Schutz der Niederlassungsfreiheit zu gelangen (OVG Bremen, Beschluss vom 21.6.2010 – 1 B 137/10 –, juris Rn. 9; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 81 m. w. N.). Nach diesem Maßstab kann die Antragstellerin aus ihrer selbständigen Tätigkeit als Schneiderin kein Recht auf Einreise und Aufenthalt mehr ableiten, weil sie diese Tätigkeit nicht mehr ausübt.
b. Auch ein aus dieser Tätigkeit ggf. früher begründetes Freizügigkeitsrecht besteht jedenfalls nicht bis zum heutigen Tage fort.
§ 2 Abs. 3 Nr. 1 FreizügG/EU, der eine Fortgeltung bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall vorsieht, ist bereits nicht einschlägig, da die – auch von den Sozialbehörden angenommene – vollständige Erwerbsunfähigkeit nicht nur vorübergehend ist. Mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit kann – auch nicht eingeschränkt – gerechnet werden (vgl. FreizügG/EU-VwV, zu § 2, Nr. 2.3.1.1.; BayLSG, Beschluss vom 20.6.2016 – L 16 AS 284/16 B ER – juris, Rn. 23). Insoweit geht der Einwand der Antragstellerin fehl, dass die Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar von einer nur vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit ausgegangen sei; die Antragstellerin macht vielmehr (irrig) eine Rechtsfolge geltend, die an eine nur vorübergehende Erwerbsunfähigkeit anknüpft, die nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten nicht gegeben ist.
Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU gilt das Freizügigkeitsrecht auch bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit, fort. Obgleich die zeitlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU für eine Fortgeltung des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin hier erfüllt sind, scheidet diese Fortgeltung infolge der endgültigen Beendigung der selbständigen Erwerbstätigkeit aus.
Die Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU unterliegt zwar – abweichend von einer zumindest früher vertretenen Auffassung in Literatur und Rechtsprechung – keiner festen zeitlichen Höchstgrenze (vgl. zur Entwicklung Hessischer VGH, Beschluss vom 16.4.2021 – 9 A 2282/19 – juris Rn 34 ff., insbesondere mit Verweis auf EUGH, Urteil vom 11.4.2019 – C-483/17 – juris), dennoch bleibt sie nicht unbegrenzt erhalten. Die Möglichkeit für eine Unionsbürgerin, die Erwerbstätigeneigenschaft zu behalten, ist an den Nachweis im konkreten Einzelfall gebunden, dass sie dem Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates zur Verfügung steht. Dabei muss sie sich nicht nur der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen, sondern auch die notwendigen Eigenbemühungen vornehmen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Darüber hinaus muss die Unionsbürgerin binnen angemessener Frist zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und damit zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit fähig sein (Hessischer VGH, Beschluss vom 16.4.2021 – 9 A 2282/19 – juris Rn 38). Damit führt eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit wie auch der Eintritt in das Rentenalter, wenn keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden soll, zum Wegfall der Rechtsposition aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU (Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage, § 2 FreizügG/EU, Rn. 111). Nach den Umständen des Einzelfalles war unmittelbar mit Aufgabe der selbständigen Tätigkeit auch eine Rückkehr in die Arbeitswelt unabsehbar. Die Antragstellerin ist dauerhaft erwerbsunfähig.
c. Ein anderes bestehendes Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 2 FreizügG/EU ist nicht ersichtlich. Die Antragstellerin erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i. V. m. § 4 FreizügG/EU, da sie weder über ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt noch ausreichende Existenzmittel nachgewiesen hat, sondern stattdessen Grundsicherungsleistungen bezieht. Auch ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin gem. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3, 4 FreizügG/EU ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
3. Aus dem in der Vergangenheit zumindest formal begründeten Freizügigkeitsrecht kann die Antragstellerin kein Daueraufenthaltsrecht i. S. v. § 4a FreizügG/EU ableiten.
Ein solches Daueraufenthaltsrecht ergibt sich nicht aus § 4a Abs. 1 FreizügG/EU, weil die Antragstellerin das dafür erforderliche über fünf Jahre durchgehend bestehende Freizügigkeitsrecht nicht glaubhaft gemacht hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.7.2015 – 1 C 22/14 –, juris Rn. 16 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 11.7.2013 – 8 LA 148/12 –, juris Rn. 12 ff.). Nach den vorliegenden Unterlagen und Erklärungen gegenüber dem Jobcenter war sie erst ab Juli 2014 und nur bis Oktober 2018 als selbständige Schneiderin tätig. Auch wenn man zu ihren Gunsten unterstellt, dass sie die Tätigkeit während dieses Zeitraums auch dann durchgehend ausgeübt hat, wenn ihr keine Sozialleistungen bewilligt wurden, würden die erforderlichen fünf Jahre ununterbrochener Tätigkeit nicht erreicht. Auch eine Fortgeltung der zuvor begründeten Freizügigkeitsberechtigung gem. § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU über den Zeitraum der tatsächlichen Tätigkeit hinaus, ist nicht möglich, da nach der Aufgabe der selbständigen Tätigkeit unmittelbar das Freizügigkeitsrecht entfiel (s. o.).
Auch auf die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts i. S. v. § 4a Abs. 2 Nr. 2 a) FreizügG/EU durch Aufgabe einer Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung nach einem zweijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet kann sich die Antragstellerin nicht berufen. Die Tätigkeit als Schneiderin erfüllte zwar (noch) die Voraussetzungen einer selbständigen Tätigkeit i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU; sie war damit von der Niederlassungsfreiheit erfasst und dem Grunde nach geeignet, ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zu begründen (a.). Einem aus dieser Tätigkeit abgeleiteten Daueraufenthaltsrecht steht jedoch der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegen (b.).
a. Arbeitnehmer und Selbständige sind von der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG gleichermaßen umfasst und die Kriterien, die für Arbeitnehmer aufgestellt wurden, für die Grenzen der Niederlassungsfreiheit (Artikel 49 ff. AEUV) daher – soweit übertragbar – heranzuziehen. Als Arbeitnehmer i. S. v. Art. 45 AEUV kann nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urteil vom 4.2.2010 – C-14/09 –, juris Rn. 9 und 23 ff. (Genc: Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 EUR); Urteil vom 3.6.1986 – 139/85 –, juris Rn. 11 ff. (Kempf: Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 10 bis 12 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 447 EUR). Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Erwerbstätigkeiten betreffen (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 – C-14/09 –, juris; siehe auch Nds. OVG, Beschluss vom 24.2.2021 – 13 LA 24/21 –, juris Rn. 6; Nds. OVG, Beschluss vom 21.6.2017 – 13 LA 27/17 –, juris Rn. 12; FreizügG/EU-VwV, Zu § 2, Nr. 2.2.1.1).
Nach der danach gebotenen Gesamtbetrachtung aller Umstände war die Antragstellerin nach Ansicht des Gerichts (noch) selbständig Erwerbstätige i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, solange sie die Tätigkeit als selbständige Schneiderin tatsächlich ausgeübt hat. Die Tätigkeit der Antragstellerin war wirtschaftlich relevant und nicht völlig untergeordnet. Sie verdiente nach eigenen Angaben durchgehend ca. 200 Euro im Monat und bot ihre Dienstleistungen gegen entsprechende Entlohnung an. Sie hätte unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Mindestlohns von 8,70 Euro im Zeitraum ihrer Tätigkeit (8,50 Euro ab Anfang 2015 bis Ende 2016 und 8,84 Euro ab Anfang 2017 bis Ende 2019) dafür rechnerisch zwischen 5,5 und 6 Stunden in der Woche arbeiten müssen (200 Euro: 8,70 Euro/Stunde = 23 Stunden im Monat). Diese (rechnerische) Stundenzahl und das Einkommen sind mit den Anforderungen des EuGHs in der Sache Genc (EuGH, Urteil vom 4.2.2010 – C-14/09 –, juris) weitgehend vergleichbar und nicht nur marginal (siehe insoweit für „Schrottsammler“ LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26.3.2020 – L 2 AS 267/19 B ER –, juris Rn. 41). Die wöchentliche Stundenzahl erreicht gerade eben die vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht angenommene Untergrenze von 5,5 Stunden pro Woche (Nds. OVG, Beschluss vom 24.2.2021 – 13 LA 24/21 –, juris Rn. 7). Die Antragstellerin hat diese Tätigkeit über ca. vier Jahre ausgeübt und konnte – außer teilweise in den Sommermonaten – auf ein stabiles Einkommen daraus zurückgreifen. Dass die Antragstellerin nicht in der Lage war, mit dem Erwerbseinkommen ihren Lebensunterhalt vollständig oder auch nur weit überwiegend zu sichern, gebietet keine andere Beurteilung. Insoweit geht der Europäische Gerichtshof in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass es der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegensteht, wenn das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt oder die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.6.2017 – 13 LA 27/17 – juris Rn. 12 ff. mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 4.2.2010 – C-14/09 –, juris Rn. 20 und 23 ff., Genc; EuGH, Urteil vom 18.7.2007 – C-213/05 –, juris Rn. 27, Geven; und EuGH, Urteil vom 14.12.1995 – C-444/93 –, juris Rn. 17 f. und 21 ff., Megner und Scheffel).
b. Ein (zumal dauerhaft erworbenes) Recht auf Einreise und Aufenthalt kann die Antragstellerin aus dieser Tätigkeit gleichwohl nicht ableiten, weil sie rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Sie erfüllt insoweit zwar die formalen unionsrechtlichen Bedingungen; bereits der Anwendungsbereich des Unionsrechts ist aber bei missbräuchlichen Praktiken nicht eröffnet. Bei dem Ausschluss der Anwendbarkeit europäischen Rechts im Falle rechtsmissbräuchlicher Praktiken handelt es sich um ein allgemeines Prinzip, das auch im Bereich der Freizügigkeitsberechtigung Anwendung findet (Nds. OVG, Beschluss vom 24.2.2021 – 13 LA 24/21 –, juris Rn. 9 m. w. N.) und sowohl für Arbeitnehmer als auch für Selbständige gilt. Insoweit begründet nach der Rechtsprechung des EuGHs die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zwar nicht automatisch einen Verlust des Freizügigkeitsrechts. Allerdings kann dies unter Umständen zu einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.7.2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, juris Rn. 21 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGHs; siehe auch Erwägungsgründe 10, 16 und Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG). Der Nachweis eines Missbrauchs setzt dabei zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. EuGH, Urteil vom 12.3.2014 – C-456/12 –, juris Rn. 58 m. w. N.). Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, "welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde" (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 – C-140/12 –, juris Rn. 64, Brey). Um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt, sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände sowie der gewährte Sozialhilfebezug zu berücksichtigen (Nds. OVG, Beschluss vom 24.2.2021 – 13 LA 24/21 –, juris Rn. 9 m. w. N.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 9.7.2019 – 10 CS 19.1165 –, juris Rn. 19). In einem Verfahren nahm das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht dies z. B. an, weil der Antragsteller während des weit überwiegenden Zeitraums nicht in der Lage war, seine Existenz aus eigener Kraft sicherzustellen, sondern langfristig und regelmäßig auf (ergänzende) Leistungen nach dem SGB II angewiesen war (Nds. OVG, Beschluss vom 20.1.2020 – 13 ME 404/19 – n. V.).
Die Antragstellerin hat unmittelbar nach ihrer Einreise Sozialleistungen beantragt und (fast) durchgehend bezogen. Sie hat nicht nur ergänzende Leistung erhalten, sondern durchgehend den weit überwiegenden Teil ihres Lebensunterhalts nicht einmal ansatzweise erwirtschaftet. Dabei hat sie den maximalen Sozialleistungsbezug unter Aufrechterhaltung einer selbständigen Tätigkeit erreicht. Da sie nunmehr dauerhaft erwerbsunfähig ist, würde sie bis zu ihrem Ableben Sozialleistungen erhalten.
Allem Anschein nach war es der Antragstellerin angesichts dessen vorrangig daran gelegen, die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Niederlassungsfreiheit allenfalls formal zu erfüllen, im Übrigen aber mit dem geringstmöglichen Arbeitseinsatz maximale staatliche Hilfsleistungen zu generieren. Die Einkünfte aus ihrer Tätigkeit erreichen gerade eben den Umfang, den die Rechtsprechung bei abhängiger Beschäftigung als Untergrenze betrachtet. Die Antragstellerin hat außerdem auf ihren Gewinn weder Steuern gezahlt noch einen Anteil in die Rentenkasse eingezahlt. Es sind keine anderen Verpflichtungen aufgezeigt, sodass zeitliche Spielräume für deutlich umfangreichere Tätigkeiten vorhanden waren. Die mittlerweile nachgewiesenen Erkrankungen mögen diese Spielräume verengt haben. Eine selbständige Tätigkeit mit ca. einer Stunde am Tag über vier Jahre steht jedoch in keinem Verhältnis zu den erheblichen Sozialleistungen, die die Antragstellerin bereits in den letzten sieben Jahren erhalten hat und in Zukunft weiter erhalten würde.
Neben dem Leistungsbezug sind im Verhalten der Antragstellerin keine anderen Motivationen und Bemühungen erkennbar, ihren Aufenthalt dauerhaft im Bundesgebiet zu nehmen und zu verfestigen. Sie ist weder zum Zweck einer (anderweitigen) Erwerbstätigkeit oder Arbeitssuche, noch im Wege einer Familienzusammenführung in einen nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familienverbund eingereist. Es gibt somit keinen schützenswerten anderweitigen Aufenthaltszweck (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 24.2.2021 – 13 LA 24/21 –, juris Rn. 12). Sie kann keinerlei Integrationsleistungen in die Gesellschaft vorweisen. Den in einer Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter von ihr geforderten Besuch eines Integrationskurses hat sie abgelehnt.
4. Die Entscheidung über den Verlust der Rechte nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU steht nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU im Ermessen der Behörde und ist hinsichtlich dieses Ermessens nach dem Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Danach prüft das Gericht, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind und ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Gemessen daran begegnet die Ermessensausübung keinen rechtlichen Bedenken. Zunächst hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen erkannt und in dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich dazu ausgeführt. Dabei hat die Antragsgegnerin eine Interessenabwägung vorgenommen und die schutzwürdigen Interessen der Antragstellerin berücksichtigt. Insofern ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass sie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration der Antragstellerin ein geringes Gewicht beigemessen hat und aufgrund des Leistungsbezugs der Antragstellerin dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung den Vorrang gegeben hat.
5. Ein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel oder Duldungsgründe sind nicht ersichtlich. Eine Reiseunfähigkeit im engeren oder weiteren Sinn (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 29.03.2011 – 8 LB 121/08 – juris Rn. 47 m. w. N.) ergibt sich nicht aus den vorgelegten Gesundheitszeugnissen, die weder den Anforderungen des § 60 Abs. 2c AufenthG entsprechen noch in ihrer Gesamtheit eine solche Reiseunfähigkeit vermuten ließen. Auch Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK stehen einer Abschiebung nicht entgegen. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass eine besonders schützenswerte familiäre Beziehung nur im Bundesgebiet aufrechterhalten werden könnte.
6. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigt. Dem Interesse der Antragstellerin, den voraussichtlich negativen Ausgang des Klageverfahrens in der Bundesrepublik abwarten zu können und währenddessen erhebliche Sozialhilfeleistungen zu erhalten und womöglich auch staatliche Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen, steht das öffentliche Interesse gegenüber, derartige Leistungen nicht erbringen zu müssen.
7. Die Abschiebungsandrohung ist voraussichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie entspricht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 58, 59 AufenthG. Mit der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Die Frist zur freiwilligen Ausreise hat die Antragsgegnerin zwar mit dem nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU gesetzlich geschuldeten Mindestmaß bemessen. Sie ist nach dem gegenwärtigen Sachstand jedoch ausreichend, um eine geordnete Ausreise zu ermöglichen. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aufgrund ihrer Erkrankungen hat die Antragstellerin nicht ausreichend glaubhaft gemacht; es stünde der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auch nicht entgegen (§ 59 Abs. 3 AufenthG) und wäre in einem gesonderten Verfahren zu prüfen.
8. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 1.5 i. V. m. Nr. 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).