Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.01.2023, Az.: 13 PA 279/22

Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren i.R.e. Abschiebungsandrohung nach Rumänien; Freizügigkeitsberechtigung eines Ausländers als Arbeitnehmer

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.01.2023
Aktenzeichen
13 PA 279/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 10122
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0112.13PA279.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 28.10.2022 - AZ: 5 A 5987/21

Tenor:

Auf die Beschwerde der Kläger wird der die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren versagende Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 28. Oktober 2022 geändert.

Den Klägern wird für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Leon Paysen aus A-Stadt bewilligt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. Die zulässige Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 28. Oktober 2022, mit dem dieses es abgelehnt hat, für das dortige erstinstanzliche Klageverfahren 5 A 5987/21 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, ist begründet.

1. Das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss zu Unrecht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren versagt.

Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht angenommen, der Klage fehle die hinreichende Erfolgsaussicht.

a) Wie der angefochtene Beschluss und der mit diesem in Bezug genommene Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28. Oktober 2022 in dem Eilverfahren 5 B 5988/21 erkennen lassen, hat das Verwaltungsgericht hierzu auf die Situation im Zeitpunkt der Entscheidung des (hier: erstinstanzlichen) Gerichts über den Prozesskostenhilfeantrag (28.10.2022) abgehoben. Bezogen auf diesen Zeitpunkt sind die Ausführungen des Verwaltungsgerichts für den Senat zwar nachvollziehbar.

Dieser Zeitpunkt wäre jedoch nur dann zugrunde zu legen, wenn sich nach Antragstellung und Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs die Sach- und Rechtslage zugunsten des Rechtsschutzsuchenden geändert hätte und seine Rechtsverfolgung erst infolge dieser Änderung Erfolg verspräche (vgl. Senatsbeschl. v. 16.4.2018 - 13 PA 101/18 -, juris Rn. 4, und v. 27.6.2017 - 13 PA 252/16 -, juris Rn. 3 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.9.2007 - OVG 2 M 44.07 -, NVwZ-RR 2008, 287, 288 [OVG Berlin-Brandenburg 11.09.2007 - 2 M 44/04], juris Rn. 4). Hier hingegen hatten sich die Einkommenslage insbesondere des Klägers zu 1., der zum Jahreswechsel 2021/22 noch unselbständig beschäftigt gewesen war, seit März 2022 jedoch als selbständiger Schrotthändler mit einem vom Verwaltungsgericht zu Recht als nicht nachvollziehbar bewerteten Gewinnerzielungsumfang tätig war, und damit auch die Erfolgsaussichten der Klage zwischenzeitlich verschlechtert.

b) Deshalb musste im vorliegenden Fall der grundsätzlich zugrunde zu legende Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs, die in der Regel (bereits) gegeben ist, wenn die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und der Gegenseite hinreichende Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist (vgl. Senatsbeschl. v. 16.4.2018 - 13 PA 101/18 -, juris Rn. 4, und v. 27.6.2017 - 13 PA 252/16 -, juris Rn. 3 m.w.N.), in den Blick genommen werden, und bei der Bejahung hinreichender Erfolgsaussichten in diesem Zeitpunkt wären spätere Veränderungen der Erfolgsaussichten zu Lasten der Rechtsschutzsuchenden daher grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Dabei musste beachtet werden, dass die Prüfung der Erfolgsaussicht nicht dazu dienen soll, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 m.w.N.). Entscheidungserhebliche offene Sachfragen sind daher im Prozesskostenhilfeverfahren ebenso wenig zu klären wie schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen. Deren Klärung ist vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, BVerfGE 81, 347, 358 f.; Senatsbeschl. v. 12.12.2017 - 13 PA 222/17 -, juris Rn. 2).

Entscheidungsreife des erst am 16. Dezember 2021 (vgl. Blatt 56R der Gerichtsakte) und damit nach Klageerhebung (29.10.2021) gestellten Prozesskostenhilfeantrags war nach diesem Maßstab nach Einreichung der Prozesskostenhilfeunterlagen Ende 2021 (vgl. Blatt 61 der Gerichtsakte) eingetreten.

Zu diesem Zeitpunkt bestanden nach der im Prozesskostenhilfeverfahren unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfe (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.) nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 - juris Rn. 11) hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 29. September 2021 (für sofort vollziehbar erklärte Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU sowie auf Rumänien bezogene Abschiebungsandrohung nach §§ 7 Abs. 1 Satz 2, 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU, § 59 Abs. 1 AufenthG; vgl. Blatt 14 ff. der Gerichtsakte).

Denn damals war der Kläger zu 1. nach den Feststellungen auch des Verwaltungsgerichts (vgl. S. 3 des von der angefochtenen Entscheidung in Bezug genommenen, im Verfahren 5 B 5988/21 ergangenen Beschlusses v. 28.10.2022) noch bei der H. und dem I. unselbständig beschäftigt. Er erzielte ausweislich eingereichter Gehaltsabrechnungen Nettoeinkommen von monatlich insgesamt 1.251,93 Euro (November 2021; Wochenarbeitszeit: rd. 32 Stunden) und 1.191,15 Euro (Dezember 2021; Wochenarbeitszeit: rd. 29 Stunden). Diese Beschäftigung könnte nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 24.02.2021 - 13 LA 24/21 -, juris Rn. 6 ff. m.w.N. aus der Judikatur des EuGH) ausgereicht haben, um eine Freizügigkeitsberechtigung des Klägers zu 1. als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1, 1. Alt. FreizügG/EU anzunehmen; bejahendenfalls könnten die Klägerinnen zu 2. und 3. als dessen Familienangehörige nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt gewesen sein. Dann hätte sich der mit der Klage angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29. September 2021 damals als rechtswidrig und rechtsverletzend erwiesen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass der Klage eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden konnte.

c) Vor diesem Hintergrund kommt es für Zwecke der Prozesskostenhilfebewilligung nicht mehr darauf an, dass der im Beschwerdeverfahren eingereichte Arbeitsvertrag des Klägers zu 1. vom 31. Oktober 2022 über eine am 1. November 2022 anzutretende unselbständige Tätigkeit als Hausmeister beim J. (vgl. Blatt 163 ff. der Gerichtsakte) mit einer verabredeten Bruttovergütung von monatlich 2.100 Euro und einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden - nach der oben erwähnten zwischenzeitlichen Verschlechterung der Einkommenslage - ohnehin nunmehr im laufenden Klageverfahren Anlass dazu gibt, weiter aufzuklären, ob diese Tätigkeit tatsächlich ausgeübt und hieraus Einkommen erzielt wird, und zu prüfen, ob den Klägern hieraus eine Freizügigkeitsberechtigung erwächst, die einer Aufrechterhaltung des Bescheides vom 29. September 2021 entgegenstünde (vgl. zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts bei der Anfechtung einer Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts: Senatsbeschl. v. 21.6.2017 - 13 LA 27/17 -, juris Rn. 10 m.w.N.).

2. Die Entscheidung über die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Kläger für das Klageverfahren beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO.

II. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Im Falle einer wie hier erfolgreichen Prozesskostenhilfebeschwerde entstehen - anders als bei der Verwerfung oder Zurückweisung einer derartigen Beschwerde (vgl. Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG [Kostenverzeichnis]) - keine Gerichtsgebühren. Eine Erstattung von Auslagen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 GKG wird in einem solchen Fall ebenfalls nicht geschuldet (vgl. Volpert, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl. 2021, GKG § 28 Rdnr. 29 f.). Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO werden die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.